CC BY-NC-ND 4.0 · Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin
DOI: 10.1055/a-2165-8541
Originalarbeit

Welche Kontextfaktoren der ICF haben für die sozialmedizinische Begutachtung im Rahmen der Erwerbsminderungsrente eine Relevanz? Ergebnisse einer Delphi-Befragung

Which Contextual Factors of the ICF are Relevant for the Socio-Medical Assessment in the Con-Text of Disability Pension? Results of a Delphi Survey
1   Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
,
Judith Gartmann
1   Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
,
1   Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
,
Christoph Egen
1   Klinik für Rehabilitations- und Sportmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
› Author Affiliations
Fördermittel Deutsche Rentenversicherung — http://dx.doi.org/10.13039/100018380; 0441/40-28-00-14
 

Zusammenfassung

Hintergrund Personbezogene Faktoren wurden von der Arbeitsgruppe „ICF“ der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) klassifiziert. Die Leitlinien zur sozialmedizinischen Beurteilung, das Sozialrecht und das dem zugrundeliegende biopsychosoziale Modell fordern deren Berücksichtigung. Auf dieser Basis sollte im Zuge einer Delphi-Befragung unter Expert:innen ein Konsens darüber gefunden werden, welche dieser person- und umweltbezogenen Faktoren, wichtig für die sozialmedizinische Begutachtung im Rahmen der Erwerbsminderungsrente bei muskuloskeletalen Erkrankungen sind.

Material und Methoden Es wurde eine online Delphi-Befragung in drei Wellen zur Konsensbildung unter Expert:innen durchgeführt, um relevante ICF-Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung zu identifizieren. Um möglichst heterogene Perspektiven bei der Beantwortung der Fragestellung zu involvieren wurden Personen aus den Bereichen sozialmedizinische Begutachtung, Sozialrecht, Sozialmedizin, Wissenschaft, in der Rehabilitation tätige Mediziner:innen, in der Rehabilitation tätige Psycholog:innen und Patientenvertreter: innen rekrutiert.

Ergebnisse Für die Delphi-Befragung wurden N=76 Expert: innen aus dem Feld der sozialmedizinischen Begutachtung rekrutiert. Von den 91 Faktoren wurden 86 Faktoren im Konsens, d. h. mit einer Übereinstimmung von>80% der Teilnehmenden, als relevant bzw. sehr relevant für die sozialmedizinische Begutachtung bewertet. Lediglich der Faktor Sexualgewohnheiten wurde als kaum relevant bewertet.

Schlussfolgerungen Im Konsens als relevant bewertet wurden die meisten Faktoren in den Kapiteln Einstellungen, Kompetenzen und Gewohnheiten und das Kapitel Lebenslage. Dort wurden die meisten Faktoren als relevant konsensuiert. Die Expert:innen einigten sich trotz ihrer großen fachlichen und beruflichen Heterogenität. Das hebt die Relevanz dieser Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung im Rahmen einer Beantragung einer Erwerbsminderungsrente hervor.


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Abstract

Objective Person-related factors have been classified by the “ICF” working group of the German Society for Social Medicine and Prevention (DGSMP). Their consideration is required by the guidelines for socio-medical assessment, social law and the underlying biopsychosocial model. In the context of the socio-medical assessment for the disability pension for musculoskeletal diseases, this Delphi survey among experts was conducted to find a consensus on which of the personal and environmental factors are important.

Materials & Methods An online Delphi survey was conducted in three waves to build consensus among experts in order to identify relevant ICF contextual factors in socio-medical assessment. In order to involve heterogeneous perspectives, persons from the fields of socio-medical assessment, social law, social medicine, science, physicians working in rehabilitation, psychologists working in rehabilitation and patient representatives were recruited.

Results For the Delphi survey N=76 experts from the field of socio-medical assessment were recruited. 86 of 91 factors were rated by consensus, with an agreement of>80% of the participants, as relevant or very relevant for the socio-medical assessment. Only the factor sexual habits was rated as hardly relevant.

Conclusion The most factors being rated as relevant are from the chapters on attitudes, competencies and habits and the chapter on living situation. It is particularly interesting that the experts were able to agree on these factors despite their great professional heterogeneity. This highlights the relevance of these contextual factors in the socio-medical assessment in the context of an assessment for a disability pension.


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Einleitung & Hintergrund

Die Leitlinien zur sozialmedizinischen Beurteilung fordern explizit die Berücksichtigung der International Classification of Function, Disability and Health (ICF) [1] [2] [3]. Dieser Appell wird von der allgemeinen Orientierung gesetzlicher Vorschriften im Sozialrecht, an den Begrifflichkeiten und dem Konzept der ICF [4] und dem ihr zugrundeliegenden bio-psycho-sozialen Modell untermauert. Zentraler Bestandteil eines umfassenden Verständnisses von Teilhabe sind die in der ICF benannten Kontextfaktoren – Umwelt- und personbezogene Faktoren – und ihre Wechselwirkungen in deren Folge Funktionsfähigkeit oder Behinderung erfahren wird.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die personbezogenen Faktoren aufgrund vorhandener globaler soziokultureller Unterschiede nicht klassifiziert. Diese Faktoren werden in und für den jeweiligen soziokulturellen Rahmen, in dem sie zur Anwendung kommen, beschrieben [5]. Für den deutschen Sprachraum erarbeitete 2010 die Arbeitsgruppe „ICF“ der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) einen Entwurf, der 2020 aktualisiert wurde [5] [6] [7]. Diese Systematik soll es den Anwender:innen ermöglichen, „relevante Einflüsse aus dem Lebenshintergrund einer Person strukturiert zu beschreiben und zu dokumentieren“ [6]. Damit könnten die Einflüsse auf die Teilhabe eines Menschen auf Grundlage des bio-psycho-sozialen Modells im Rahmen des Rehabilitationsprozesses umfassend und transparent beschrieben werden.

Diese Systematik der DGSMP bildet die Grundlage für die Konsensbildung im Delphi-Verfahren der vorliegenden Studie. In dem Konsensverfahren sollen neben den personbezogenen auch die Umweltfaktoren in Bezug auf ihre Relevanz in der sozialmedizinischen Begutachtung im Rahmen der Erwerbsminderungsrente (EMR) bei Menschen mit muskuloskeletalen Erkrankungen bewertet werden. Dadurch soll sich herauskristallisieren, welche Faktoren aus Expert:innensicht relevant sind und in der Begutachtung berücksichtigt werden sollten und welche nicht. Diese Faktoren haben möglicherweise das Potenzial als fördernde oder hindernde Faktoren für ein kontinuierliches Erwerbsleben identifiziert zu werden und damit individuelle rehabilitative Behandlungsempfehlungen zu unterstützen [8] [9]. Dies gilt insbesondere auch für Personen mit einer zeitlich befristeten EMR, bei denen zwar zum Zeitpunkt der Begutachtung grundsätzlich ein Potenzial zur Wiedergewinnung der Erwerbsfähigkeit gesehen wird, die aber mehrheitlich nicht in den Arbeitsmarkt zurückkehren [10] [11].

Das Forschungsprojekt „Kontextfaktoren der ICF in der sozialmedizinischen Begutachtung im Rahmen der Erwerbsminderungsrente bei muskuloskeletalen Erkrankungen“ (KomBi-EMR) besteht aus zwei Analysen, die in einem späteren Projektbaustein in einer Synthese münden. So wird zum einen der derzeitige Berücksichtigungsgrad der umwelt- und personbezogenen Faktoren der ICF in sozialmedizinischen Begutachtung auf EMR bei Menschen mit muskuloskeletalen Erkrankungen analysiert. Zum anderen werden relevante Kontextfaktoren in der Begutachtung, basierend auf einem Expert:innenkonsens mittels Delphi-Methode, identifiziert. Letzteres ist Gegenstand dieser Publikation. Ziel ist es, die Kontextfaktoren zu identifizieren, die für die sozialmedizinische Begutachtung aus der Sicht von Expert:innen des Gesundheitswesens relevant sind.


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Methodik

Studiendesign

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine prospektive Studie. Durchgeführt wurde eine online Delphi-Befragung in drei Wellen zur Konsensbildung unter der Expert:innen, um relevante ICF-Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung zu identifizieren.


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Stichprobe

Für die Delphi-Befragung sollten Expert:innen aus dem Feld der sozialmedizinischen Begutachtung und angrenzenden Fachbereichen mit möglichst ausgeglichener Geschlechterzugehörigkeit einbezogen werden. Ziel war es, möglichst heterogene Perspektiven bei der Beantwortung der Fragestellung zu involvieren und dabei eine Mindestanzahl von N=30 nicht zu unterschreiten [12] [13]. Die Rekrutierung für die Delphi-Befragung erfolgte in vorab festgelegten Berufsgruppen [14] durch Kontaktaufnahme mit u. a. der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV), der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und Patientenvertretungen. Es wurden Patientenvertreter:innen rekrutiert, um auch die Perspektive der Begutachteten abzubilden. Im Zuge der Rekrutierung wurde angestrebt Expert:innen mit ICF-Expertise aus 6 Bereichen zu inkludieren: sozialmedizinische Begutachtung (n=5), Sozialrecht (n=5), Sozialmedizin (n=5), Wissenschaft (n=5), in der Rehabilitation tätige Mediziner:innen (n=5), in der Rehabilitation tätige Psycholog:innen (n=5) und Vertreter:innen von Patientenverbänden (n=5). Die Kontaktaufnahme bei den oben aufgeführten Organisationen erfolgte telefonisch und per E-Mail. Interessierte Personen nahmen Kontakt mit der Studienkoordination auf und erhielten im Anschluss eine E-Mail inklusive eines Informationsschreibens und einer Einverständniserklärung. Nach Zurücksenden der unterschriebenen Einverständniserklärung wurden die Personen unter Berücksichtigung der Ein- und Ausschlusskriterien in die Studie aufgenommen.


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Einschluss- und Ausschlusskriterien

Eingeschlossen wurden Expert:innen im Alter von≥35 Jahren und ca. 10-jähriger Berufstätigkeit in einem der o.g. Bereiche, von denen eine schriftliche Einverständniserklärung vorlag.


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Datenschutz und Ethik

Kontaktdaten wie Name und E-Mailadressen wurden zur Versendung des Online-Delphi-Tools in der MHH erfasst und zum Projektende gelöscht. Die Datenerhebung durch die digitale Delphi-Befragung ist durch einen Token anonymisiert und lässt keine Rückschlüsse auf die teilnehmenden Personen zu. Das positive Ethikvotum der Ethikkommission der Medizinischen Hochschule Hannover (Nr. 9480_BO_K_2020) sowie ein entsprechendes Datenschutzkonzept lagen vor.


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Fragebogeninstrumente

In der Befragung wurden soziodemographische Daten erfasst wie Geschlecht, Alter, Berufsgruppen- bzw. Vertreterzugehörigkeit, Berufserfahrung, berufliches Setting und Erwerbsstatus.

Des Weiteren erfolgte eine Abfrage der bisherigen Erfahrungen der Befragten mit der ICF. Die Befragung beinhaltete Fragen darüber, inwieweit die Person mit der ICF vertraut ist, Erfahrung mit ihr im Bereich Forschung hat und sie in der Praxis anwendet. Alle Fragen konnten jeweils anhand von 4 Antwortoptionen beantwortet werden („Trifft überhaupt nicht zu“, „Trifft eher nicht zu“, „Trifft eher zu“ und „Trifft voll und ganz zu“).

Um die Relevanz der Kontextfaktoren zu bewerten, wurde die Systematik der DGSMP operationalisiert (6) ([Tab. 1]). Die Teilnehmenden wurden gebeten die Frage „Wie relevant schätzen Sie die nachfolgenden Faktoren in ihrer (hemmenden bzw. fördernden) Bedeutung hinsichtlich einer individuellen Erwerbsfähigkeitseinschätzung im Rahmen von Begutachtungsprozessen zur EMR ein?“ anhand von jeweils 7-Antwortoptionen beantworten („1=überhaupt nicht relevant, 2=nicht relevant, 3=kaum relevant, 4=relevant, 5=sehr relevant, 6=höchst relevant, 10=keine Angabe“). Diese Frage wurde auf alle 91 Faktoren (darunter 36 Umweltfaktoren und 55 personbezogene Faktoren) angewendet. Des Weiteren gab es die Möglichkeit bei der ersten Welle nach jedem Kapitel bis zu drei weitere, für die Begutachtung als relevant erachtete, Kontextfaktoren als Freitext anzugeben. Bei entsprechend häufiger Nennung, nach Diskussion im Projektteam und wenn keine Übereinstimmung mit einem anderen Faktor vorlag, wurden diese Faktoren in der zweiten Welle in die Delphi-Befragung aufgenommen und bezüglich seiner Relevanz bewertet werden.

Tab. 1 Umwelt- und personbezogene Faktoren der ICF [4]

Umweltfaktoren

Umwelt-Kapitel 1

Produkte und Technologien

Umwelt-Kapitel 2

Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt

Umwelt-Kapitel 3

Unterstützung und Beziehungen

Umwelt-Kapitel 4

Einstellungen

Umwelt-Kapitel 5

Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze

Personbezogene Faktoren

Person-Kapitel 1

Allgemeine Merkmale einer Person

Person-Kapitel 2

Physische Faktoren

Person-Kapitel 3

Mentale Faktoren

Person-Kapitel 4

Einstellungen, Grundkompetenzen und Verhaltensgewohnheiten

Person-Kapitel 5

Lebenslage und sozioökonomische/kulturelle Faktoren

Person-Kapitel 6

Andere Gesundheitsfaktoren

Die online Delphi-Befragung wurde über das Open-Source-Programm LimeSurvey durchgeführt. Das Programm wurde von einer IT-Firma so programmiert, dass die Befragten bei der zweiten und dritten Welle für jede Frage die aggregierten Ergebnisse aus der vorherigen Runde graphisch als Balkendiagramm ansehen konnten. Die eigene ausgewählte Antwortkategorie der Vorrunde wurde durch einen Punkt oberhalb des Balkendiagramms dargestellt (siehe [Abb. 1]). Orientierend an dieser Graphik konnten die Teilnehmenden ihre Bewertung in der aktuellen Welle vornehmen.

Zoom Image
Abb. 1 Beispielhafte Darstellung des Online-Befragungstools.

Zur Bewertung vorgelegt wurden umwelt- und personbezogene Kapitel und die dahinterliegenden Faktoren ([Tab. 2] [3]).

Tab. 2 Detaillierte Darstellung der zu bewertenden personbezogenen Faktoren [6]

ICF-Schlüssel

Personbezogener Faktor

i110–119

Alter

i110

Kalendarisches Alter

i112

Psychosoziales Alter

i114

Biologisches Alter

i120–129

Geschlecht

i120

Biologisches Geschlecht

i122

Soziales Geschlecht (Gender)

i210

Körpermaße, Körperform und Körperzusammensetzung

i220

Bewegungsbezogene Faktoren

i221

Faktoren des Herz-, Kreislauf- und Atmungssystems

i222

Faktoren des Stoffwechsels

i223

Faktoren der Sinnesorgane

i310–349

Faktoren der Persönlichkeit

i310

Extraversion

i315

Faktoren der Emotionalität

i320

Gewissenhaftigkeit

i325

Offenheit

i330

Umgänglichkeit

i335

Selbstvertrauen

i340

Optimismus

i350–369

Kognitive und mnestische Faktoren

i350

Faktoren der Intelligenz

i355

Kognitive Faktoren

i360

Mnestische Faktoren

i410–429

Einstellungen

i410

Weltanschauung

i411

Einstellung zur eigenen Person

i413

Lebenszufriedenheit

i416

Einstellung zu Gesundheit, Krankheit und Behinderung

i418

Einstellung zur Unterstützung durch andere Personen

i419

Einstellung zu Interventionen und technischen Hilfen

i420

Einstellung zu finanziellen Versicherungs- und Versorgungsleistungen

i421

Einstellung zur Bildung

i422

Einstellung zur Arbeit

i425

Einstellung zum sozialen Leben und zur Gesellschaft

i430–449

Handlungskompetenz

i430

Sozialkompetenz

i431

Sprachkompetenz

i433

Methodenkompetenz

i436

Selbstkompetenz (Empowerment)

i438

Fachkompetenz

i442

Medienkompetenz

i450–475

Gewohnheiten

i450

Ernährungsgewohnheiten

i453

Gewohnheiten beim Konsum von Genussmitteln

i456

Bewegungsgewohnheiten

i459

Gewohnheiten in alltäglichen Routinen

i460

Freizeitgewohnheiten

i462

Sexualgewohnheiten

i465

Kommunikationsgewohnheiten

i468

Hygienegewohnheiten

i471

Gewohnheiten im Umgang mit Geld und materiellen Gütern

i510

Familiärer Status

i513

Status im unmittelbaren und weiteren sozialen Kontext

i515

Wohnsituation

i520

Beschäftigungsstatus

i525

Wirtschaftlicher Status

i527

Rechtlicher Status

i530

Gesellschaftlicher Status

i535

Kultureller Status

i540

Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen

i550

Bildungsstatus

Tab. 3 Detaillierte Darstellung der zu bewertenden Umweltfaktoren [4]

ICF-Schlüssel

Umweltfaktor

e110

Produkte und Substanzen für den persönlichen Verbrauch

e115

Produkte und Technologien zum persönlichen Gebrauch im täglichen Leben

e120

Produkte und Technologien zur persönlichen Mobilität drinnen und draußen und zum Transport

e125

Produkte und Technologien zur Kommunikation

e135

Produkte und Technologien für die Erwerbstätigkeit

e150

Entwurf, Konstruktion sowie Bauprodukte und Technologien von öffentlichen Gebäuden

e155

Entwurf, Konstruktion sowie Bauprodukte und Technologien von privaten Gebäuden

e225

Klima

e240

Licht

e245

Zeitbezogene Veränderungen

e255

Schwingungen

e310

Engster Familienkreis

e320

Freunde

e325

Bekannte, Seinesgleichen (Peers), Kollegen, Nachbarn und andere Gemeindemitglieder

e330

Autoritätspersonen

e340

Persönliche Hilfs- und Pflegepersonen

e355

Fachleute der Gesundheitsberufe

e360

Andere Fachleute

e410

Individuelle Einstellungen der Mitglieder des engsten Familienkreises

e420

Individuelle Einstellungen von Freunden

e425

Individuelle Einstellungen von Bekannten, Seinesgleichen (Peers), Kolleg:innen, Nachbarn und anderen Gemeindemitgliedern

e430

Individuelle Einstellungen von Autoritätspersonen

e440

Individuelle Einstellungen von persönlichen Hilfs- oder Pflegepersonen

e450

Individuelle Einstellungen von Fachleuten der Gesundheitsberufe

e455

Individuelle Einstellungen von anderen Fachleuten

e460

Gesellschaftliche Einstellungen

e465

Gesellschaftliche Normen, Konventionen und Weltanschauungen

e535

Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Kommunikationswesens

e540

Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Transportwesens

e550

Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der Rechtspflege

e555

Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze von Vereinigungen und Organisationen

e570

Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der sozialen Sicherheit

e575

Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der allgemeinen sozialen Unterstützung

e580

Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Gesundheitswesens

e585

Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Bildungs- und Ausbildungswesens

e590

Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Arbeits- und Beschäftigungswesens


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Studienablauf

Zunächst wurde das Online-Tool in einem Pilottest bei 10 Mitarbeiter:innen eines Universitätsklinikums hinsichtlich der Praktikabilität getestet. Anhand des Feedbacks der Teilnehmenden wurde die Befragung entsprechend überarbeitet.

Zu Beginn der online Delphi-Befragung lagen unterschriebene Einverständniserklärungen von 76 Personen vor. Diese erhielten im April 2022 via E-Mail einen personalisierten Link zur Teilnahme an der ersten Befragungswelle.

Im Juni 2022 startete die zweite Befragungswelle, gefolgt von der dritten Welle im Juli 2022. Eine Erinnerungs-E-Mail zur Teilnahme wurde immer drei bis vier Wochen nach der jeweiligen Welle versendet. In der zweiten und dritten Welle wurde ausschließlich die Relevanz der Kontextfaktoren bewertet. Die Teilnehmenden hatten jederzeit die Möglichkeit das Forschungsteam telefonisch und per E-Mail für Rückfragen zu kontaktieren und ohne Angabe von Gründen ihre Teilnahme an der Befragung zu beenden.


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Auswertung und Definition von Konsens

Die Antworten der Teilnehmenden wurden mit Hilfe einer Syntax aus LimeSuvey in SPSS importiert und dort deskriptiv analysiert. In Anlehnung an Jünger et al. (2017) wird der Konsens mit statistischen Maßen wie dem Prozentsatz der Bewertungen und dem Medianwert auf der Bewertungsskala konzeptualisiert. Der Cut-off für (Nicht-)Konsens basiert auf dem Prozentsatz der Zustimmung von 80%. Dieser Wert wird mit dem Median als zusätzlichem Parameter kombiniert, um kaum relevante, relevante und sehr relevante Werte zu definieren [15]. In der vorliegenden Studie wurde ein Faktor im Konsens als relevant definiert, wenn≥80% der befragten Expert:innen den jeweiligen Faktor zwischen 4=relevant und 6=höchst relevant bewertet haben. Als irrelevant hingegen wurde ein Faktor definiert, wenn≥80% der Befragten einen Faktor zwischen 1=überhaupt nicht relevant und 3=kaum relevant bewertet haben. Zusätzlich wurde der Medianwert bestimmt, der den jeweiligen Faktor einer Antwortkategorie zuordnet, wodurch eine Rangfolge der Faktoren erstellt wurde.


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Ergebnisse

Zu Studienbeginn lagen die unterschriebenen Einverständniserklärungen von N=76 Expert:innen vor. Alle wurden zur ersten Welle eingeladen. An der ersten Welle nahmen 53 Expert:innen teil. Die Anzahl der Teilnehmenden im Verlauf der drei Wellen und weitere soziodemographische Charakteristiken werden in [Tab. 4] dargestellt.

Tab. 4 Soziodemographische Charakteristiken der Teilnehmenden der drei Delphi-Wellen.

Soziodemographische Daten

1. Welle

2. Welle

3. Welle

Anzahl der Teilnehmenden

53

48

43

Alter

M; SD

54,2; 9,5

54,1; 9,9

53,3; 9,8

Spannbreite

35–77

35–77

35–77

Geschlecht

Weiblich

47,2%

45,8%

46,5%

Männlich

52,8%

54,2%

53,5%

Expertengruppe n

Gutachter:in

9

9

7

Sozialrechtler:in

6

6

6

Wissenschaftler:in

8

8

7

Mediziner:in

6

5

4

Psychotherapeut:in

4

4

4

Sozialpädagog:in

1

1

1

Ergotherapeut:in

2

2

2

Physiotherapeut:in

3

2

2

Patient:innen-Vertreter:in

14

11

10

Berufserfahrung

M; SD

22,3 (11,3)

21,8 (11,5)

21,4 (11,4)

Spannbreite

3–55

3–55

3–55

Setting

Ambulant

39,6%

39,6%

39,5%

Stationär

22,6%

20,8%

20,9%

Fehlend/andere Settings

35,1%

39,6%

39,5%

Erwerbsstatus

Erwerbstätig

81,1%

81,3%

81,4%

Ruhestand

7,5%

8,3%

7,0%

Erwerbsgemindert

5,7%

4,2%

4,7%

Ehrenamtlich tätig

3,8%

4,2%

4,7%

Fehlend

1,9%

2,1%

2,3%

M=Mittelwert; SD=Standardabweichung

Erfahrung mit der ICF

Die persönliche Erfahrung mit der ICF, die die Teilnehmenden mitbrachten, blieb über alle drei Delphi-Wellen hinweg relativ gleich verteilt ([Tab. 5]). Mit der ICF vertraut waren ca. 77% der Teilnehmenden, wohingegen lediglich ca. 35% Erfahrung mit der ICF im Bereich Forschung angaben. Von den teilnehmenden Expert:innen wandten 32% die ICF in der Praxis an. Damit zeigt sich, dass ¾ der Befragten zwar vertraut mit der ICF waren, jedoch lediglich 1/3 von ihnen jeweils Erfahrungen in der Forschung und der Praxisanwendung hatten.

Tab. 5 ICF-Erfahrung der Teilnehmenden in den drei Delphi-Wellen.

Fragen

Antwortkategorien

Häufigkeiten 1. Welle

2. Welle

3. Welle

Ich bin mit dem ICF-Konzept und den Komponenten vertraut

Trifft überhaupt nicht zu

7,5%

8,3%

9,3%

Trifft eher nicht zu

15,1%

14,6%

14,0%

Trifft eher zu

32,1%

33,3%

32,6%

Trifft voll und ganz zu

45,3%

43,8%

44,2%

Ich habe Erfahrung mit ICF im Bereich Forschung

Trifft überhaupt nicht zu

28,3%

27,1%

25,6%

Trifft eher nicht zu

26,4%

25,0%

27,9%

Trifft eher zu

15,1%

16,7%

14,0%

Trifft voll und ganz zu

20,8%

22,9%

23,3%

Ich wende die ICF in der Praxis an

Trifft überhaupt nicht zu

34,0%

33,3%

32,6%

Trifft eher nicht zu

30,2%

31,3%

32,6%

Trifft eher zu

18,9%

18,8%

18,6%

Trifft voll und ganz zu

13,2%

14,6%

14,0%


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Relevanz der Kontextfaktoren

Die Relevanz der umwelt- und personbezogenen Faktoren wurde in drei Wellen erhoben. An der dritten Befragungswelle nahmen, von anfangs 53 Personen, noch 43 Personen teil. Für 86 Faktoren wurde ein Konsens zur Relevanz der Faktoren erzielt, d. h.≥80% der Expert:innen haben die Faktoren zwischen relevant bis höchst relevant bewertet. Es konnte kein Konsens gefunden werden bezüglich der (Nicht)Relevanz der Faktoren „Biologische Geschlecht“, „Soziales Geschlecht/Gender“, „Weltanschauung“ und „Zugehörigkeit von ethnischen Gruppen“. Als einziger Faktor wird der Faktor „Sexualgewohnheiten“ als kaum relevant bewertet. Neben der Erreichung eines Konsensus bildet der Median die Möglichkeit die Faktoren in ein Ranking zu bringen. Die folgenden Tabellen bilden die Mediane der Faktoren ab, zu denen ein Konsens erreicht wurde. Bei der Darstellung wurde zwischen umwelt- und personbezogenen Faktoren unterschieden ([Tab. 6] [7]). Die Ergebnisse der Faktorenbewertung werden detailliert im Supplement (Tab. Sup. 1) dargestellt. Dort sind die prozentualen Häufigkeiten aller Werte der Antwortoptionen abgebildet. Es zeigt sich, dass die von der AG der DGSMP entwickelten personbezogenen Faktoren zu einem sehr hohen Anteil als relevant für die sozialmedizinische Begutachtung bewertet werden. Die Expert:innen ergänzten weitere aus ihrer Sicht relevante Faktoren: Schlafhygiene, Geräusche/Lärm, Gesundheitskompetenz und Produkte und Technologien zur Barrierefreiheit, die allerdings nicht im Konsens als relevant bewertet wurden.

Tab. 6 Im Konsens nach der dritten Welle als relevant oder sehr relevant bewertete umweltbezogene Faktoren.

Umweltbezogene Faktoren

Faktoren mit Median=4 (relevant)

Faktoren mit Median=5 (sehr relevant)

 1. Produkte und Substanzen für den persönlichen Verbrauch

 2. Produkte und Technologien zum persönlichen Gebrauch im täglichen Leben

 7. Entwurf, Konstruktion sowie Bauprodukte und Technologien von privaten Gebäuden

 3. Produkte und Technologien zur persönlichen Mobilität drinnen und draußen und zum Transport

 8. Klima

 4. Produkte und Technologien zur Kommunikation

 9. Licht

 5. Produkte und Technologien für die Erwerbstätigkeit

10. Zeitbezogene Veränderungen

 6. Entwurf, Konstruktion sowie Bauprodukte und Technologien von öffentlichen Gebäuden

11. Schwingungen

12. Engster Familienkreis

14. Bekannte, Seinesgleichen (Peers), Kollegen, Nachbarn und andere Gemeindemitglieder

13. Freunde

15. Autoritätspersonen

16. Persönliche Hilfs- und Pflegepersonen

18. Andere Fachleute

17. Fachleute der Gesundheitsberufe

20. Individuelle Einstellungen von Freunden

19. Individuelle Einstellungen der Mitglieder des engsten Familienkreises

21. Individuelle Einstellungen von Bekannten, Seinesgleichen (Peers), Kolleg:innen, Nachbar:innen und anderen Gemeindemitgliedern

24. Individuelle Einstellungen von Fachleuten der Gesundheitsberufe

22. Individuelle Einstellungen von Autoritätspersonen

32. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der sozialen Sicherheit

23. Individuelle Einstellungen von persönlichen Hilfs- oder Pflegepersonen

33. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der allgemeinen sozialen Unterstützung

25. Individuelle Einstellungen von anderen Fachleuten

34. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Gesundheitswesens

26. Gesellschaftliche Einstellungen

35. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Bildungs- und Ausbildungswesens

27. Gesellschaftliche Normen, Konventionen und Weltanschauungen

36. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Arbeits- und Beschäftigungswesens

28. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Kommunikationswesens

29. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Transportwesens

30. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der Rechtspflege

31. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze von Vereinigungen und Organisationen

Tab. 7 Im Konsens nach der dritten Welle als kaum relevant, relevant oder sehr relevant bewertete personbezogenen Faktoren.

Personbezogene Faktoren

Faktoren mit Median=3 (kaum relevant)

Faktoren mit Median=4 (relevant)

Faktoren mit Median=5 (sehr relevant)

78. Sexualgewohnheiten

37. Kalendarisches Alter

38. Psychosoziales Alter

42. Körpermaße, Körperform und Körperzusammensetzung

39. Biologisches Alter

45. Faktoren des Stoffwechsels

43. Bewegungsbezogene Faktoren

47. Extraversion

44. Faktoren des Herz-, Kreislauf- und Atmungssystems

48. Faktoren der Emotionalität

46. Faktoren der Sinnesorgane

49. Gewissenhaftigkeit

52. Selbstvertrauen

50. Offenheit

55. Kognitive Faktoren

51. Umgänglichkeit

56. Mnestische Faktoren

53. Optimismus

58. Einstellung zur eigenen Person

54. Intelligenz

60. Einstellung zu Gesundheit, Krankheit und Behinderung

59. Lebenszufriedenheit

61. Einstellung zu Hilfen

64. Einstellung zur Bildung hinsichtlich der eigenen Bildung und Bildung generell

62. Einstellung zu Interventionen und technischen Hilfen

68. Sprachkompetenz

63. Einstellung zu finanziellen Versicherungs- und Versorgungsleistungen

69. Methodenkompetenz

65. Einstellung zur Arbeit

71. Fachkompetenz

66. Einstellung zum sozialen Leben und zur Gesellschaft

72. Medienkompetenz

67. Sozialkompetenz

73. Ernährungsgewohnheiten

70. Selbstkompetenz (Empowerment)

74. Gewohnheiten beim Konsum von Genussmitteln

75. Bewegungsgewohnheiten

76. Gewohnheiten in alltäglichen Routinen

85. Beschäftigungsstatus

77. Freizeitgewohnheiten

86. Wirtschaftlicher Status

79. Kommunikationsgewohnheiten

91. Bildungsstatus

80. Hygienegewohnheiten

81. Gewohnheiten im Umgang mit Geld und materiellen Gütern

82. Familiärer Status

83. Status im unmittelbaren und weiteren sozialen Kontext

84. Wohnsituation

87. Rechtlicher Status

88. Gesellschaftlicher Status

89. Kultureller Status


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Diskussion

Häufig waren den Expert:innen die Kapitel Einstellungen, Kompetenzen und Gewohnheiten und das Kapitel Lebenslage wichtig, dort wurden die meisten Faktoren als relevant konsensuiert. Besonders ist hierbei interessant, dass sich die Expert:innen trotz ihrer großen fachlichen und beruflichen Heterogenität darauf einigen konnten. Das hebt die Relevanz dieser Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung im Rahmen einer Beantragung einer Erwerbsminderungsrente hervor.

Von Kus et al. wird die Relevanz der person- und umweltbezogenen Faktoren noch unterstrichen. Sie zeigten, dass diese Faktoren in der Lage sind die Wahrscheinlichkeit einer Return to Work (RTW) vorherzusagen. Unter den Umweltfaktoren waren es der Berufsstand, laufende Rechtsstreitigkeiten und finanzielle Sorgen und unter den personbezogenen Faktoren Persönlichkeitsmerkmale, die Lebenszufriedenheit vor dem Unfall, die Lebenseinstellung und die Forderung nach Rentenansprüchen, die den RTW vorhersagen konnten [16]. Dies unterstreicht die Ergebnisse des Expert:innen-Konsens.

Es gibt bereits Projekte zur Entwicklung und Implementierung von ICF-basierten Tools für die berufliche Rehabilitation, die Unterstützung der Kommunikation und der Rückkehr ins Erwerbsleben zwischen den betroffenen Personen, dem klinischen Team und Ansprechpartner:innen des Jobcenters. Johansen et al. (2022) entwickelten einen ICF-basierten Fragebogen für Patient:innen und einen ICF-Bericht, der die Bewertung der ICF-Kategorien durch eine:n Kliniker:in unterstützt. Diese wurden den Ansprechpartner:innen des Jobcenters gesendet. Für die Jobcenter waren die darin enthaltenen Informationen sehr relevant und es entstand ein gemeinsames Verständnis von fördernden und hemmenden Faktoren für den RTW auf Basis der ICF. Die Arbeitsämter berichteten, dass der Bericht und der Fragebogen ihnen eine bessere Grundlage für Entscheidungen über weitere arbeitsbezogene Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt lieferten, um eine ganzheitliche Perspektive auf die Möglichkeiten für RTW zu erlangen [17]. Weitere Assessments sind derzeit in Arbeit. So haben de Wind et al. (2022) 20 ICF-Faktoren identifiziert, darunter sechs personbezogene Faktoren, aus denen ein Instrument zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und Wiedereingliederungsmöglichkeiten erstellt werden soll [18]. Gemeinsam haben all diese Ansätze, dass sie zwar Instrumente und einzelne Abschnitte der ICF-Systematik anwenden, jedoch teils ausschließlich umweltbezogene Faktoren oder zumindest nie alle als relevant konsensuierten personenbezogenen Faktoren einbeziehen. Ähnlich sieht es auch auf europäischer Ebene aus. 2008 hat die Working Group of the European Union of Medicine in Assurance and Social Security (EUMASS) ein ICF-Core-Set für Funktionsbewertungen bei Anträgen und Erwerbsunfähigkeitsleistungen entwickelt. Diese enthält allerdings ausschließlich Kategorien der Körperfunktionen und Aktivitäten und Teilhabe. Umwelt- und personbezogene Faktoren fehlen hier [19].

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation (BAR) hat eine Arbeitshilfe mit haptischen Add-ons zum Thema Kontextfaktoren bei der Entwicklung von Teilhabebedarfen entwickelt. Das Ziel dieser Arbeitshilfe ist zum einen, die strukturierte Erfassung der Kontextfaktoren zu erleichtern, die Bedarfsermittlung zu optimieren und die Qualifizierung der Bedarfsermittler:innen zu fördern. Zum anderen ist es das Ziel „die individuellen Barrieren und Förderfaktoren für eine gelingende Teilhabe zu identifizieren und so auch zu ermöglichen, dass diese in ihrer Wirkung entweder minimiert oder positiv verstärkt werden“ [20]. Damit kann die Arbeitshilfe Begutachtende unterstützen und die hier gezeigte Relevanz der Kontextfaktoren berücksichtigen.

Mit der Systematik der DGSMP und dem Konsens der Expert:innen ist eine Grundlage geschaffen für weitere Entwicklungen von neuen ganzheitlichen Betrachtungsansätzen in der sozialmedizinischen Begutachtung, die höchstwahrscheinlich zu einer Steigerung der Qualität führen könnten. Die personbezogenen und Umweltfaktoren können sich auf einem Kontinuum von einem Förderfaktor bis zu einem hemmenden Faktor auf den Begutachteten auswirken. Diese Auswirkungen haben wiederum einen Einfluss auf die Rückkehr ins Erwerbsleben. Aufgrund der Ergebnisse der Delphi-Befragung vermuten wir, dass die als relevant und sehr relevant bewerteten Faktoren im Rahmen einer sozialmedizinischen Begutachtung, sofern sie als fördernd oder hinderlich benannt werden können, durchaus Potenzial haben ein detailliertes Bild der Begutachteten bezüglich ihrer Kontexte zu skizzieren.

Die Integration von Kontextfaktoren in die sozialmedizinische Begutachtung könnte ein Weg sein, um ein detaillierteres Portrait des Begutachteten zu zeichnen, das sowohl für die Bewilligung als auch Planung rehabilitativer Maßnahmen einen Mehrwert darstellt. Ein Beispiel: Einem Begutachteten mit einem schlechten medizinischen Befund und einem beruflichen Leistungsvermögen von 3–6 Stunden, mit einem unterstützenden Freundes- und Familienkreis und einer positiven Einstellung zur Arbeit, könnten auf dieser Grundlage rehabilitative Maßnahmen oder LTA genehmigt werden. Einem ähnlichen Begutachteten mit den gleichen körperlichen Voraussetzungen, jedoch ohne das unterstützende Umfeld und mit einer negativen Einstellung zur Rückkehr ins Erwerbsleben, würden die Maßnahmen ggf. nicht oder in geringerem Umfang genehmigt werden. Letzteres wäre sinnvoll da weiterhin der Grundsatz „Reha vor Rente“ besteht. Im Idealfall könnten anhand der umwelt- und personbezogenen Faktoren, diejenigen identifiziert und unterstützt werden, die mit fördernden Kontextfaktoren auf den RTW hinarbeiten. Möglicherweise bieten sich hier Ansätze für Fallmanagementkonzepte auf Grundlage der umwelt- und personbezogenen Faktoren.

Dies wäre ein Model, das Ressourcen kanalisiert und spezifischer verteilt. Auf Seiten der Berater:innen, wäre ein Vorteil eines solchen Vorgehens, dass sie eine größere Wirksamkeit ihrer Beratung wahrnehmen könnten, da sie hauptsächlich mit Klient:innen arbeiten würden, die die Beratung tatsächlich zum RTW nutzen möchten.

Als Limitation der Studie ist zu benennen, dass die rekrutierten Expert:innen sich nicht zu 100% mit der ICF auskannten. Dies spiegelt sicherlich den hohen Anzahl an Patientenvertreter:innen wider, die sich nicht im beruflichen Kontext mit der ICF befassten. Bemerkenswert war dennoch die über alle drei Wellen hohe Beteiligung von Patientenvertreter:innen, die durch ihre Teilnahme die Perspektive der Begutachteten bzw. die sog. Nutzerperspektive eingebracht haben.

Eine Stärke dieser Studie ist die Multiprofessionalität unter den Befragten, da Multiprofessionalität im medizinischen Kontext zunehmend an Bedeutung gewinnt. Durch abgestimmte Beurteilungen und klare Kriterien kann die Effektivität der Zusammenarbeit verbessert werden und ein besseres Verständnis zwischen den Begutachteten, deren Umfeld und den Begutachtenden erreicht werden.

Ausblick

Im weiteren Projektverlauf sollte eine Fokusgruppe mit sozialmedizinischen Gutachter:innen durchgeführt werden, um mit der Zielgruppe dieses Projektes, die als relevant bewerteten Faktoren zu diskutieren. Finden sie diese ebenfalls wichtig? Sind einige Faktoren für besondere Gruppen von begutachteten Personen relevant? Sollte man diesbezüglich zwischen Personen unterscheiden, die nur kurz eine EMR in Anspruch nehmen möchten und solchen, die die EMR als Übergang in die Altersrente nutzen möchten?

Eine im Zuge dieser Studie durchgeführte Analyse von Gutachten wird zeigen, inwiefern sich eine Kongruenz zwischen den von den Expert:innen als relevant bezeichneten Faktoren und den in der gutachterlichen Realität aufzufindenden Faktoren abbilden lässt.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Wir danken Frau Dr. Juliane Briest und Frau Silke Freihoff für die Vorarbeiten im Kombi-EMR-Projekt.

Zusätzliches Material

  • Literatur

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  • 17 Johansen T, Kvaal AM, Konráðsdóttir ÁD. Developing and Implementing ICF-Based Tools for Occupational Rehabilitation Supporting the Communication and Return to Work Process Between Sickness Absentees, Clinical Team and Jobcentre Contacts. Front Rehabil Sci 2022; 3: 830067
  • 18 de Wind A, Donker-Cools BHPM, Jansen L. et al. Development of the core of an ICF-based instrument for the assessment of work capacity and guidance in return to work of employees on sick leave: a multidisciplinary modified Delphi study. BMC Public Health 2022; 22: 2449-2450
  • 19 Brage S, Donceel P, Falez F. Development of ICF core set for disability evaluation in social security. Disability and rehabilitation 2008; 30: 1392-1396
  • 20 Bundesarbeitsgemeinschaft fuer Rehabilitation e.V. (Kontextfaktoren bei der Ermittlung von Teilhabebedarfen - Arbeitshilfe. Frankfurt am Main; 2021

Korrespondenzadresse

Dr. Andrea Bökel
Medizinische Hochschule Hannover
Klinik für Rehabilitationsmedizin
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Germany   

Publication History

Received: 26 April 2023

Accepted: 30 July 2023

Article published online:
09 October 2023

© 2023. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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  • 20 Bundesarbeitsgemeinschaft fuer Rehabilitation e.V. (Kontextfaktoren bei der Ermittlung von Teilhabebedarfen - Arbeitshilfe. Frankfurt am Main; 2021

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Abb. 1 Beispielhafte Darstellung des Online-Befragungstools.