Informationen aus Orthodontie & Kieferorthopädie 2023; 55(03): 165-166
DOI: 10.1055/a-2144-0860
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Wieso ist die Korrektur der Frontzahninklination durch eine Torque-Bewegung mittels Lingualbrackets effizienter als mit anderen kieferorthopädischen Apparaturen?

Why is the Correction of Anterior Inclination by Torque Movement Using Lingual Brackets More Efficient than with Other Orthodontic Appliances?
Dirk Wiechmann
1   Prof. Wiechmann, Dr. Beyling und Kollegen
› Author Affiliations

Historisch gesehen war eines der größten Probleme bei der kieferorthopädischen Behandlung mit konventionellen lingualen Apparaturen die dreidimensionale Feineinstellung der Zähne am Ende der Behandlung. Dabei ist bei nicht exakt eingestelltem Torque bspw. eine zu lange oder zu kurze Schneidekante eines Frontzahnes nicht nur vom Behandler, sondern auch vom Patienten schnell zu erkennen. Ein derartiges vertikales Problem ist ästhetisch nicht akzeptabel und führte beim Einsatz konventioneller Lingualapparaturen immer wieder zu Diskussionen mit dem Patienten am Behandlungsende. Nun ist beim Einsatz lingualer Apparaturen die als Problem in der zweiten Ordnung (Länge) wahrgenommene Zahnfehlstellung fast ausnahmslos auf eine unzureichende Kontrolle in der dritten Ordnung (Torque) zurückzuführen, insbes. verursacht durch Torquespiel im Bracketslot.

Wie die [Abb. 1] zeigt, hat ein Torquespiel von 10 Grad beim Einsatz lingualer Apparaturen einen klinisch deutlich sichtbaren Einfluss auf die vertikale Position der Schneidekante: Ist der Torque zu negativ, erscheint der Zahn verlängert, ist der Torque zu positiv, erscheint er verkürzt. Beim Einsatz vestibulärer Apparaturen besteht dieser Zusammenhang in dieser ausgeprägten Form nicht. Folgerichtig muss bei der Weiterentwicklung lingualer Apparaturen dem Behandler eine einfachere Torquekontrolle insbes. im anterioren Bereich ermöglicht werden. Dies gelingt in erster Linie durch die Optimierung der Präzision der Slotdimension.

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Abb. 1 Auswirkungen eines falschen Torques auf die vertikale Schneidekantenposition.

Heute werden herkömmliche Brackets fast ausschließlich im Metall Injection Moulding (MIM) - Verfahren hergestellt. Hierbei kommt es aufgrund eines Schrumpfungsprozesses während des Sinterns und dessen Kompensation zu erheblichen Toleranzen bei der finalen Slotdimension. Diese können bis zu 10–20% Abweichung von der Zielgröße betragen [1]. Bei den ersten vollständig individuellen lingualen Apparaturen (VILA) wurden deshalb die Brackets im Feinguss-Verfahren aus einer Goldlegierung hergestellt. Die Toleranzen in der Slotdimension konnten dadurch auf deutlich unter 5 % reduziert werden. Bei der heute weltweit populärsten Variante einer VILA (WIN) werden bei der individuellen Bracketherstellung die Slots in einem speziellen zusätzlichen Arbeitsgang gefräst. Die Slottoleranz konnte dadurch weiter reduziert werden und beträgt aktuell+/- 2 µm.

Doch Slotpräzision alleine genügt nicht, auch der eingesetzte Bogen muss gewisse Anforderungen erfüllen. Nicht nur in der Lingualtechnik, sondern auch bei vestibulären Apparaturen ist das Einsetzen bspw. eines nominell slotfüllenden Stahlbogens (0.018“ x 0.025“ im 18er Slot) zur Torquekontrolle während der Retraktion sehr anspruchsvoll. Der in der klinischen Wirklichkeit eingesetzte Stahlbogen (0.016“ x 0.022“) ist meist deutlich untermaßig. Bei modernen individuellen lingualen Apparaturen, bei denen die Behandlungsbögen im CAD/CAM-Verfahren mit Hilfe eines Biegeroboters hergestellt werden, wird in derartigen Fällen in den untermaßigen Stahlbogen ein Extratorque im anterioren Bereich eingebogen. Somit ist auch am untermaßigen Bogen die optimale Torquekontrolle gewährleistet.

Die hier genannten und aus der klinischen Notwendigkeit heraus geborenen Weiterentwicklungen bei der Bracket- und Bogenherstellung bescheren den modernen individuellen lingualen Apparaturen heutzutage im Vergleich zu vestibulären Apparaturen zahlreiche Vorteile in der Behandlungsführung bei unterschiedlichsten Malokklusionen. Im Vordergrund steht dabei die exakte Einstellung des Torques an Einzelzähnen und damit im Frontzahnbereich auch die Einstellung eines korrekten Interinzisalwinkels als Voraussetzung für eine langfristige Stabilität des Behandlungsergebnisses ([Abb. 2] [3] [4]).

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Abb. 2 a Tiefbiss mit reklinierter OK Front. b Korrektur mit palatinalem Wurzeltorque der OK Schneidezähne.
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Abb. 3 a Patient mit Gaumenspalte und extrem großem Interinzisalwinkel. b Trotz der Extraktionen in beiden Kiefern konnte am Behandlungsende ein normwertiger Interinzisalwinkel eingestellt werden.
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Abb. 4 a Patient mit lokalisierter Gingivarezession an 32 aufgrund eines X-Effekts. b Korrektur durch lingualen Wurzeltorque mit einer lingualen Teilapparatur 4–4.


Publication History

Article published online:
05 October 2023

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  • Literatur

  • 1 Cash AC. et al. An Evaluation of Slot Size in Orthodontic Brackets – Are Standards as Expected?. Angle Orthod 2004; 74: 450-453