Klinische Neurophysiologie 2023; 54(04): 253-254
DOI: 10.1055/a-2135-5482
Geschichte der klinischen Neurophysiologie

Motorische Neurografie: Historisches und Wissenswertes

Helmut Buchner

Kein geringerer als Herrmann von Helmholtz berichtete 1867 und 1870 von Experimenten, die in seinem Labor ausgeführt wurden, mit dem Ziel die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den motorischen Nerven des Menschen zu bestimmen [1] [2]. Dazu wurde die Zuckung der Muskeln des Daumenballens registriert. Die berechneten Leitgeschwindigkeiten schwankten und es fiel ein Zusammenhang mit der Jahreszeit, zu der die Versuche ausgeführt worden waren, auf. Gefunden wurde die Abhängigkeit der Leitgeschwindigkeit von Nerven mit der Temperatur, hier zusammengefasst, ca. 45 m/s bei 40 Grad C am Unterarm und einer Schwankung von etwa 32 bis 60 m/s bei kaltem bis warmem Arm [2]. Weiter berichtet von Helmholtz von einer deutlich höheren Amplitude der Muskelzuckung bei höherer Temperatur [2].

Der Beginn der Neurografie motorischer Nerven mit der Registrierung der elektrischen Aktivität des stimulierten zuckenden Muskels und der Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit, geht vermutlich zurück auf Studien von Hans Piper veröffentlicht 1908 und 1909 [3] [4]. Darin beschreibt er seine aufwendige Methode:

„Es wurde der doppelphasische Aktionsstrom der Flexoren des Unterarmes registriert, welcher zur Ableitung kommt, wenn man zwei Stellen der diese Muskeln bedeckenden Haut mit dem Saitengalvanometer verbindet und Einzelzuckungen durch Reizung des Nervus medianus mit Öffnungsschlägen erzeugt. Diese elektromotorische Tätigkeit des Muskels folgt auf den Zeitpunkt der Reizung nach einem gewissen Zeitintervall, und zwar setzt sie später ein, wenn der Nervus medianus in der Achselhöhle gereizt wird, als bei Reizung in der Bicepsfurche etwas oberhalb der Ellenbeuge. Die Differenz dieser unter beiderlei Reizbedingungen verschiedenen Intervalle ist die Zeit, welche die Leitung der Erregung durch die zwischen beiden Reizpunkten gelegene, etwa 16 cm lange Nervenstrecke erfordert; daraus ist die Leitungsgeschwindigkeit pro Sekunde zu berechnen.“

„Als Ableitungselektroden dienten Glastrichter, welche mit der 3 1/2 cm im Durchmesser betragenden, mit Schweinsblase überzogenen Öffnung auf die Ableitungsstellen am Arme aufgesetzt und festgeschnallt wurden, nachdem sie mit konzentrierter Zinksulfatlösung gefüllt und die an die Drahtleitung angeschlossenen Zinkstäbe in den Trichterhals eingeführt waren. Die Lokalisierung der Elektroden war so, dass die Mitten der Trichteröffnungen 7 cm und 15 cm unterhalb der Ellenbeuge standen. Als reagierendes Instrument diente ein großes Saitengalvanometer aus dem Institut von Professor Edelmann und Sohn, München.“ [4]

Mit dieser Anordnung gelang es erstmals das elektrische Korrelat einer Muskelzuckung nach elektrischer Reizung eines peripheren Nervens zu registrieren. Piper berechnete eine Leitgeschwindigkeit von „etwa 120 Meter in der Sekunde“ [4].

Ein weiterer Meilenstein war die Serie von Arbeiten zur Klassifikation peripherer Nervenfasern von Erlanger und Gasser, seit 1924. Sie beschrieben den Zusammenhang zwischen Faserdicke, Myelinisierung, Leitgeschwindigkeit und Funktion [5] [6]. Beide Forscher wurden 1944 mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie ausgezeichnet.

Es dauerte nach Piper´s erster Veröffentlichung 40 Jahre bis zur ersten Untersuchung pathologischer Nerven von Hodes et al. Im Jahr 1948 [7]. Sie zeigten den Zusammenhang zwischen der Amplitude des Muskelaktionspotenzials und der Anzahl der stimulierten Muskelfasern, sowie der Leitgeschwindigkeit mit der Anzahl und Dicke myelinisierter Nervenfasern.

In den folgenden Jahren wurden zahlreiche meist physiologische Untersuchungen ausgeführt. Für die Neurografie sind die Veröffentlichungen von Dawson aus 1949 und 1956 weitere Meilensteine [8] [9]. Er belegte die niedrigere Reizschwelle normaler sensibler Nervenfasern im Vergleich zu motorischen und beschreibt die Form des Muskelaktionspotenzials in Abhängigkeit von der Position der Ableitelektroden. Ein „approaching action potential“ führt zu einem positiven Abgang des Muskelaktionspotenzials von der Nulllinie, und dass nur Potenziale gleicher Form nach distaler und proximaler Stimulation zur Berechnung der Leitgeschwindigkeit herangezogen werden dürfen. Ein weiterer Fehler könne ein Ausbreiten der Stimulation bei hohen Reizstärken sein, so dass die Stimulation nicht unter der Elektrode, sondern weiter distal erfolgen kann [9].

Die Bedeutung der Elektroneurografie für die neurologische Klinik wurde zunächst mit viel Zurückhaltung bewertet. So schreibt W. Scheid in seinem weitverbreiteten Lehrbuch von 1968: „Die erst jüngst in der Klinik an größeren Krankengruppen überprüften Verfahren unterstützen die Elektrodiagnostik bei Schädigungen des peripheren Nervensystems. Wichtig ist die Minderung der Leitgeschwindigkeit; die Verlängerung der Latenzzeit gibt eine Verringerung der maximalen Leitgeschwindigkeit zu erkennen, während die pathologische Verzögerung der ohnehin langsamen Impulse die Potentialdauer des EMG dehnt“ [10].

Die ersten Lehrbücher zur Elektromyographie in deutscher Sprache von Hopf und Struppler, sowie von Ludin erschienen 1974 und 1976 [11] [12].

In den folgenden Jahren wurde die Neurografie „modern“. Fehler der frühen Jahre blieben zunächst unkorrigiert:

  • So ist die Nervenleitgeschwindigkeit im Erwachsenenalter nicht linear geringer werdend, sondern bis zum Alter von 60 oder 70 konstant und nimmt danach nur gering um 0,5 bis 4 m/s/Altersdekade ab [11] [12] [13].

  • Die Nervenleitgeschwindigkeit gesunder Nerven ist deutlich von der Körpertemperatur abhängig. Dies gilt aber nicht für kranke Nerven, deren Leitgeschwindigkeit begrenzt ist, weshalb eine oft angewendete Korrektur um einen Faktor von 1,5 bis 2,5 m/s/°C dann fälschlich eine normale Geschwindigkeit ergeben kann [11] [12] [13] [14].

  • Erniedrigte Leitgeschwindigkeiten wurden häufig mit einer Demyelinisierung gleichgesetzt und in der Amplitude geminderte Aktionspotenziale mit dem Verlust von Axonen. Auch wenn das vereinfacht und nachvollziehbar ist, die genauere Analyse zeigt, dass das so nicht stimmt [15] [16].

Ein kritisch wertender Umgang und folgend eine Betrachtung des Nutzens motorischen Neurografie in der klinischen Neurologie erfolgte erst in den letzten wenigen Jahren [15] [16].

H. C. Hopf schrieb in 1974: „Die Elektroneurographie als diagnostische Hilfsmethode mißt die spezifische Funktion der peripheren Nerven. Aus dem Befund, ob nun nur eine leichte oder aber eine schwere Funktionsstörung vorliegt, kann aber niemals eine Artdiagnose über eine zugrunde liegende Noxe abgeleitet werden.“ [11]

Zusammenfassend kann die Schlussfolgerung aus der Historie heißen:

Neurografie ist die Verlängerung der Anamnese und klinischen Untersuchung, auf deren Basis die Bewertung der Messergebnisse erfolgen muss.

Nicht zuletzt gibt diese Feststellung auch für die Sonografie peripherer Nerven. Sie kann vielfach eine Erweiterung oder Ergänzung zur elektrophysiologisch nachgewiesener gestörter Funktion peripherer Nerven sein, kann diese aber nicht ersetzen [17] [18].



Publication History

Article published online:
07 December 2023

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  • Literatur

  • 1 Helmholtz Hvon, Brax N. Versuche über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den motorischen Nerven des Menschen. Mber k preuss Akad Wiss 1868; 228-234
  • 2 Helmholtz Hvon, Brax N. Neue Versuche über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den motorischen Nerven der Menschen, ausgeführt von N. Baxt aus Petersburg. Mber k preuss Akad Wiss 1870; 184-191
  • 3 Piper H. Über die Leitungsgeschwindigkeit in den markhaltigen, menschlichen Nerven. Pflüger. Arch 1908; 124: 591-600
  • 4 Piper H. Weitere Mitteilungen über die Geschwindigkeit der Erregungsleitung im markhaltigen menschlichen Nerven. Pflüger Arch 1909; 127: 474-480
  • 5 Erlanger J, Gasser HS, Bishop GH. The compound nature of the action current of nerve as disclosed by the cathode ray oscillograph. American Journal of Physiology 1924; 70: 624
  • 6 Whitwam JG. Classification of peripheral nerve fibres. An historical perspective. Anaesthesia 1976; 31: 494-503
  • 7 Hodes R, Larrabee MG, German W. The human electromyogram in response to nerve stimulation and the conduction velocity of motor axons. Arch Neurol Psychiatry 1948; 60: 340-365
  • 8 Dawson DG, Scott JW. The recording of nerve action potentials through skin in man. J Neurol Neurosurg Psychiat 1949; 12: 259-267
  • 9 Dawson DG. The relative excitability and conduction velocity of sensory and motor nerve fibres in man. J Physiol 1956; 131: 436-451
  • 10 Scheidt W. Lehrbuch der Neurologie. Thieme; Stuttgart: 1968
  • 11 Hopf HC, Struppler A. Hrsg. Elektromyographie. Lehrbuch und Atlas. Thieme; Stuttgart: 1974
  • 12 Ludin HP. Lehrbuch zur praktischen Elektromyographie Enke Stuttgart. 1976
  • 13 Kimura J. Electrodiagnosis in diseases of nerve and muscle. 4. Ed. Oxford University Press; 2013
  • 14 Franssen H, Notermans NC, Wieneke GH. The influence of temperature on nerve conduction in patients with chronic axonal polyneuropathy. Clin Neurophysiol 1999; 110: 933-940
  • 15 Preston DC, Shapiro BE. Electromyography and Neuromuscular Disorders 3. Ed. Elsevier; 2013
  • 16 Schulte-Mattler W, Bischoff C. EMG und Neurografie – ein Update. Klin Neurophysiol 2022; 53: 107-119
  • 17 Bischoff C, Dengler R, Glocker F. et al. Ultraschalldiagnostik peripherer Nerven – Stellungnahme der EMG-Kommission der DGKN. Klin Neurophysiol 2015; 46: 97
  • 18 Schminke U, Allendörfer J, Grimm A. et al. Update: Muskel- und Nervensonografie. Klin Neurophysiol 2021; 52: 271-282