CC BY-NC-ND 4.0 · Psychiatr Prax 2023; 50(07): 381-388
DOI: 10.1055/a-2051-7613
Kritisches Essay

Erfassung direkter (COVID-19-bezogener) und kollateraler, psychosozialer Folgen für vulnerable Gruppen am Beispiel schwerer psychischer Erkrankungen

Assessment of Direct (COVID-19-Related) and Collateral, Psychosocial Pandemic Consequences for Vulnerable Groups by the Example of Serious Mental Illness
1   Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Anja Christine Rohenkohl
1   Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
René Hurlemann
2   Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
,
Eva Meisenzahl
3   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität/ LVR Klinikum Düsseldorf
,
Steffi G. Riedel-Heller
4   Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Leipzig
,
Thomas Becker
5   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Leipzig
,
Malek Bajbouj
6   Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie, Charité Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Campus Benjamin Franklin, Berlin
,
Marie von Lilienfeld-Toal
7   Hämatologie und internistische Onkologie, Universitätsklinikum Jena
8   Infektionen in der Hämatologie/Onkologie, Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie e.V. Hans-Knöll-Institut, Jena
,
Jürgen Gallinat
1   Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
,
Martin Lambert
1   Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Die indirekten Pandemiefolgen könnten die direkten Auswirkungen von SARS-CoV-2 in Bezug auf Kosten, Morbidität und Mortalität weit übersteigen. Dieses Essay beinhaltet einen Methodenvorschlag (Matrix), um virusbezogene und psychosoziale Risiken für verschiedene Bevölkerungsgruppen auf systematische und übersichtliche Weise nebeneinander sichtbar zu machen. COVID-19-bezogene und psychosoziale Vulnerabilität, Stressoren, direkte sowie indirekte Folgen werden Theorie- und evidenzbasiert hergeleitet und bestimmt. Eine exemplarische Quantifizierung der Matrix für die vulnerable Gruppe von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ergab ein sehr hohes Risiko für schwere COVID-19-Folgen, sowie ein ausgeprägtes Risiko für psychosoziale Kollateraleffekte. Das vorgeschlagene Vorgehen könnte für ein risikogestuftes Pandemiemanagement, die Krisenaufarbeitung, und zukünftige Preparedness weiter diskutiert werden, um psychosoziale Kollateraleffekte angemessen zu berücksichtigen und diesbezüglich gefährdete Gruppen besser zu identifizieren und zu schützen.


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Abstract

The indirect pandemic consequences could by far exceed the direct effects of SARS-CoV-2 in terms of costs, morbidity, and mortality. This essay includes a proposed method (matrix) to visualize virus-related and psychosocial risks for different populations side by side in a systematic and concise manner. COVID-19-related and psychosocial vulnerability, stressors, direct and indirect consequences are derived on a theoretical and empirical basis. An exemplary quantification of the matrix for the vulnerable group of people with severe mental illness revealed a very high risk for severe COVID-19 consequences, as well as a pronounced risk for psychosocial collateral effects. The proposed approach could be further discussed for a risk-graded pandemic management, crisis recovery, and future preparedness to adequately address psychosocial collateral effects and better identify and protect vulnerable groups in this regard.


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Einleitung

Neben den direkten Folgen der Viruserkrankung SARS-CoV-2 mit aktuell>6.6 Millionen COVID-19-assoziierten Todesfällen weltweit (https://coronavirus.jhu.edu/, Stand: Dezember 2022), treten zunehmend auch die Kollateraleffekte der Pandemie zutage. Das Verständnis dieser indirekten Folgen der Pandemie und ihrer Bekämpfungsmaßnahmen ist für die Planung des Gesundheitswesens von wesentlicher Bedeutung, insbesondere für die Festlegung geeigneter Schritte für künftige Krisen.

Der Schutz psychosozial besonders vulnerabler Gruppen sollte dabei neben dem Schutz gegen das Virus ein weiteres Leitprinzip des Pandemie-Managements und der Pandemie-Aufarbeitung sein. Die vorbestehenden Benachteiligungen vulnerabler Gruppen nehmen in Krisen nicht nur linear zu, sondern werden durch eine disproportional stärkere Betroffenheit von multifaktoriellen Stressoren weiter potenziert. So zeigte beispielweise eine Übersichtsarbeit über 117 Studien signifikant stärkere mentale Gesundheitsprobleme während der Pandemie bei folgenden Gruppen oder Merkmalen: Jüngere Menschen, Personen weiblichen Geschlechts, Personen in unsicheren finanziellen Verhältnissen, Personen mit schlechtem Zugang zu Informationen über die Pandemie, psychisch und/oder körperlich vorerkrankte Menschen, marginalisierte Gruppen, beispielweise aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit oder der sexuellen Orientierung. Auch waren Menschen die in der Nähe von pandemischen Hotspots lebten häufiger von mentalen Gesundheitsproblemen betroffen [1].

Bis dato existiert kein einheitlicher Konsens darüber, welche Gruppen in einer Gesellschaft als besonders vulnerabel gelten. Auch ist unklar, welche Merkmale dabei die Vulnerabilität in psychosozialer Hinsicht genauer begründen. Darüber hinaus sind psychosoziale Stressoren während der Pandemie bislang nicht systematisiert worden. Psychosoziale Vulnerabilität und Stressoren zu definieren, zu systematisieren und zu operationalisieren wären wichtige Voraussetzungen, um neben den Risiken direkter Gesundheitsfolgen durch COVID-19 auch Risiko-Abschätzungen indirekter, psychosozialer Folgen vorzunehmen. Eine entsprechend konzipierte Methode könnte dabei helfen (a) eine differenziertere systematische Datensammlung und Auswertung vorzunehmen, um damit eine (b) präzisere Risikobewertung und Abwägung direkter gegenüber den psychosozialen Risiken zu ermöglichen.

Eine entsprechende Methode sollte zwei Voraussetzungen erfüllen. Erstens muss sie evidenzbasierte Definitionen von Vulnerabilität, Stress, und Folgen beinhalten. Zweitens sollte eine geeignete Quantifizierung erfolgen. Dies gilt für die Vulnerabilität bezogen auf COVID-19 und (indirekte) psychosoziale Folgen, für die Stressoren SARS-CoV-2-Virusexposition und Exposition gegenüber psychosozialem Stress, sowie für die entsprechend zu erwartenden direkten und indirekten Folgen. Das Ziel ist es, Risikoprofile in Bezug auf schwere COVID-19-Verläufe oder Spätfolgen und die psychosoziale Gesundheit für verschiedene Bevölkerungsgruppen in einem einfachen Überblick nebeneinander sichtbar zu machen. Dies könnte Entscheidungsträger dabei unterstützen, virusbezogene und psychosoziale Risiken gegeneinander abzuwägen, ‚blinde Flecken‘ in Bezug auf psychosozial besonders gefährdete Gruppen zu vermeiden, und entsprechende Entscheidungen im Pandemiemanagement informierter, maßvoller und differenzierter zu treffen.

Dieses kritische Essay möchte zur Entwicklung einer solchen Methode durch Experten verschiedener Fachrichtungen (z. B. Psychologie, Soziologie, Medizin, Pädagogik, Ethik) und durch von Folgen potenziell besonders Betroffene in Deutschland aufrufen. Es beinhaltet einen ersten Vorschlag einer Methode in Form einer Matrix-Struktur. Beispielhaft wird anhand der Matrix-Struktur eine Bewertung direkter (virusbezogener) und indirekter (psychosozialer) Folgen für die vulnerable Gruppe von Personen mit vorbestehenden schweren psychischen Erkrankungen vorgenommen.

Arbeitsdefinitionen direkter (virusbezogener) vs. indirekter (psychosozialer) Vulnerabilität, Stressoren und Folgen

Allgemeine Definition von Vulnerabilität, Stress und Folgen

Vulnerabilität umfasst vorbestehende veränderbare und nicht veränderbare Eigenschaften, welche die Anfälligkeit für negative Folgen durch Stressoren begünstigen. Vulnerable Individuen oder Gruppen verfügen zudem über weniger Resilienz und Ressourcen, um sich vor Stressoren zu schützen. Krisen sind durch massiv auftretende, unvorhergesehene und unkontrollierbare Stressoren gekennzeichnet. Sie erfordern zeitkritische Anpassungsleistungen, die in der Regel einen hohen Aufwand erfordern, um wieder ein relatives Niveau der Stabilität zu erreichen. In schweren Krisen können Individuen, Gruppen oder ganze Systeme schnell an den Rand ihrer Bewältigungskapazität gelangen. Ist diese überschritten, kommt es unter Umständen zu nachhaltigen Folgen. Vulnerabilität bedeutet, dass bestimmte Stressoren, die in einer Krise auftreten, eine für anfällige Individuen, Gruppen, oder Systeme besonders starke Bedrohung darstellen. Die dabei auftretende Potenzierung negativer Folgen wird durch die Interaktion Vulnerabilität x Stress beschrieben. Für die Schwere der Folgen spielen neben der Vulnerabilität auch die Stressor-Qualität (wie z. B. die Gefährlichkeit der Virusvariante), sowie die Exposition mit dem Stressor hinsichtlich Häufigkeit, Intensität und Dauer eine bedeutsame Rolle.

Es gibt hierbei nicht ‚die‘ Vulnerabilität. Diese ist in der Regel multifaktoriell. Sie setzt sich aus einer Kombination unterschiedlich ausgeprägter Merkmale zusammen. Vulnerable Gruppen bilden somit keine ‚homogene Masse‘, aber einzelne Individuen innerhalb der jeweiligen Gruppe teilen ähnliche Vulnerabilitätsmerkmale und weisen somit eine ähnliche Anfälligkeit für bestimmte Stressoren auf. Sie teilen somit ein ähnliches Risiko-Profil für entsprechende Folgen. Vulnerabilität sollte zudem intersektional verstanden werden. Gleichzeitig zutreffende soziale ‚Identitätsmarker‘, wie beispielweise das Geschlecht und die ethnische Zugehörigkeit, führen dabei nicht zu einer einfachen Summe von Benachteiligungen. Spezifische Kombinationen von Identitätsmarkern können zu disproportional deutlich verstärkter Benachteiligung führen [2]. So könnte beispielweise eine Kombination aus weiblichem Geschlecht, jüngerem Lebensalter, und Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit die COVID-19-bedingten psychosozialen Folgen, wie finanzielle Unsicherheit oder mentale Gesundheitsprobleme, deutlich potenzieren.


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Differenziertere Definition von Vulnerabilität, Stress, und Folgen, mit Fokus COVID-19 und Psyche

Die Vulnerabilität wird in Bezug auf spezifische unerwünschte Folgen definiert. Möchte man eine bestimmte unerwünschte Folge verhindern, muss man diese Folge zunächst klar definieren und operationalisieren. Das bedeutet auch, dass eine geeignete, repräsentative Form der Erhebung festgelegt, und systematisch umgesetzt werden muss. Im nächsten Schritt wird analysiert, welche Faktoren das Auftreten dieser unerwünschten Folge begünstigen. Dies wiederum führt zur Aufdeckung von Vulnerabilitätsmerkmalen sowie Expositionsrisiken (Risikoanalyse). Nun können Präventions- oder Interventionsmaßnahmen abgeleitet werden, die präzise und effizient auf die empirisch aufgedeckten Vulnerabilitätsmerkmale und Expositionsrisiken abzielen und die somit eine hohe potenzielle Wirksamkeit aufweisen. Die abgeleiteten Maßnahmen sollten entsprechend anhand geeigneter Kriterien hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wirkung, aber auch hinsichtlich ihrer Nebenwirkungen und Kollateraleffekte empirisch untersucht werden. Ein optimales Krisenmanagement erfordert eine rasche und unvoreingenommene Berücksichtigung neuer, immer weiter differenzierter Informationen zu relevanten Vulnerabilitätsmerkmalen und Stressorbelastungen für verschiedene Gruppen innerhalb der Bevölkerung, sowie zu den Wirkungen und Nebenwirkungen von Maßnahmen.

In verschiedenen Krisen können unterschiedliche Gruppen besonders gefährdet sein. Diese sind möglichst frühzeitig im Krisenverlauf zu identifizieren, um Maßnahmen möglichst effizient zu gestalten. Hierbei unterliegt die Priorisierung bestimmter unerwünschter Folgen gegenüber anderen möglichen Folgen immer auch einem politischen, ethischen und gesellschaftlichem Diskurs. Dieser sollte nicht durch einzelne, besonders stark auftretende Fachgruppen verzerrt werden. Es bedarf stattdessen multiperspektivischer Risikoanalysen, die verschiedene, potenziell weitreichende Folgen (z. B. medizinisch, psychologisch, sozial, ökonomisch) berücksichtigen. Hierbei kann potenziell auch auf Erfahrungen und Daten vergangener Krisen zurückgegriffen werden.

Die meistbeachtete direkte Folge im Rahmen der Pandemie ist die COVID-19-Erkrankung. Diese verläuft schwerwiegender und hat potenziell gravierendere (Langzeit-)Folgen bei entsprechend vulnerablen Gruppen (s.u.). Es finden sich bei vulnerablen Individuen häufiger Verläufe mit Hospitalisierung, Intensivbehandlung, Beatmung, Organschäden, Long-COVID, oder Tod. Das Gesamtrisiko für schwerere COVID-19-Erkrankungen und -Folgen ergibt sich vereinfacht aus einer Interaktion einer körperlichen Vulnerabilität mit der Virusexposition. Die körperliche Vulnerabilität lässt sich als Profil mit verschiedenen körperlichen Risikomerkmalen, beziehungsweise mangelnden körperlichen Resilienzmerkmalen, abbilden (direkte Vulnerabilität). Die Exposition mit SARS-CoV-2 wird weiterhin differenziert nach der Variante des Erregers (Gefährlichkeit), sowie der Häufigkeit, Intensität (Virenlast), und Dauer des Kontakts (direkter Stressor). Um die direkten Folgen einzudämmen, wird mithilfe verschiedener Maßnahmen zum einen versucht, eine Expositions-Reduktion mit dem Virus herbeizuführen. Zum anderen wird die Resilienz gegenüber SARS-CoV-2 Folgen durch Impfungen erhöht.

Allerdings kann es im Rahmen einer Krise wie der COVID-19-Pandemie neben den direkten Folgen auch zu kollateralen, psychosozialen Folgen kommen. Auch hier sollte möglichst evidenzbasiert klar definiert werden, welche Folgen betrachtet und entsprechend durch gezielte Maßnahmen vermindert werden sollen. Zu psychischen Folgen durch die COVID-19-Pandemie gehören beispielweise das Neu-Auftreten subklinischer psychiatrischer Symptome, Neuerkrankungen, Rückfälle bei vorbestehenden psychischen Erkrankungen, psychische Erkrankungsprogression, Suizidversuche, oder vollendete Suizide. Psychosoziale Stressoren, welche das Risiko für das Auftreten oben genannter Folgen erhöhen, sind beispielweise: Krisenbedingt veränderte Arbeits- und Lebensbedingungen, neue Anforderungen und Alltagsregeln, finanzielle Nöte, belastende politische, mediale, oder soziale Dynamiken wie ein aggressiveres Gesellschaftsklima, Ausgrenzung bestimmter Personengruppen, Ideologisierung von Diskursen, Verknappung von Ressourcen, verschlechterter Zugang zu wichtiger Infrastruktur, Bildung und Versorgung. Dabei fordern die neu auftretenden Stressoren einzelne Individuen, Gruppen, oder ganze Systeme in ihrer Anpassungsfähigkeit heraus. Je nach vorbestehender psychosozialer Vulnerabilität können diese Herausforderungen die bestehende Bewältigungskapazität übersteigen. Zudem können auch Maßnahmen zur Eindämmung des Virus einen psychogenen Stressor darstellen. So trifft beispielweise der Stressor ‚soziale Isolation‘ durch die Maßnahmen ‚Lockdown‘ besonders vulnerable Gruppen unverhältnismäßig stark. Hier stellt sich insbesondere bezüglich vulnerabler Gruppen also die Frage, in welchem Verhältnis die Abwendung der COVID-19-bezogenen Folgen gegenüber den psychosozialen Folgen steht.


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Systematisierung vulnerabler Gruppen, direkter (virusbezogener) vs. indirekter (psychosozialer) Vulnerabilität, Stressoren, und Folgen für eine Bewertungs-Matrix

Im Folgenden werden die einzelnen Hauptelemente der vorgeschlagenen Matrix-Methode ([Abb. 1]) inklusive vulnerabler Gruppen, Vulnerabilitätsfaktoren, Stressoren und Folgen genauer erläutert. Damit ist keine abschließende inhaltliche Definition der Matrix-Elemente beabsichtigt. Es handelt sich um einen ersten Vorschlag für eine vereinfachte, vergleichenden Methodik für Risiko-Folge-Profile in Bezug auf COVID-19 und psychosoziale Folgen.

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Abb. 1 Einleitende Erklärungen. Eine Aufstellung charakterisierender Merkmale je Vulnerabilitäts- bzw. Stressfaktor findet sich in den OnlineTab. 1 und 2. Verschiedene Kombinationen zutreffender, auf bestimmte Weise ausgeprägter Vulnerabilitätsfaktoren (V direkt, V psychosozial) charakterisieren jeweils die Anfälligkeit der jeweiligen Gruppe in Bezug auf das Virus und den psychosozialen Status. Die Vulnerabilität bedingt die Empfindlichkeit gegenüber den Stressoren (S direkt, S psychosozial), ähnlich wie bei einem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Auch die Stressoren können sich hinsichtlich des Vorhandenseins und Ausprägungsgrads zwischen vulnerablen Gruppen unterscheiden. Insgesamt ergeben sich dann durch eine differenzierte Betrachtung von Vulnerabilitäts- und Stressfaktoren je vulnerabler Gruppe unterschiedliche Vulnerabilitäts-Profile, Stressor-Profile, und somit in der Gesamtheit Risiko-Profile, die eine Abschätzung der Schwere direkter (virusbezogener, F direkt) sowie indirekter (kollateraler, F psychosozial) Pandemiefolgen ermöglichen.  Rating . Ausprägung von Vulnerabilitätsfaktoren/-Merkmalen innerhalb der jeweiligen Gruppe: nz/nb=für die Gruppe nichtzutreffend/nicht beurteilbar, 0=nicht vorhanden, 1=leicht, 2=mittel, 3=schwer.   Ausmaß der Betroffenheit und erwartbare Belastung durch Stressfaktoren/Stressoren für die jeweilige Gruppe: nz/nb=für die Gruppe nichtzutreffend/nicht beurteilbar, 0=nicht betroffen, 1=leicht betroffen, 2=mittelgradig betroffen, 3=stark betroffen  Interpretation Folgen.+0=keine signifikanten Folgen, 1-3=leichte Folgen, 4-6=mittelgradige Folgen, 7-9=schwere Folgen.  Anmerkungen   1 Die hier aufgeführten Gruppen sind höchstwahrscheinlich zu generisch, sie dienen dem Zweck einer ersten Übersicht. Über eine Bildung 'intersektionaler' vulnerabler Gruppen sowie von geeigneten, potenziell wenig betroffenen Vergleichsgruppen mit geringeren Risiken, sollte weiter abgestimmt werden.2 psychosoziale Folgen aufgrund von COVID-19, wie Zeugenschaft von Todesfällen oder schweren Verläufen, sollten hier zusätzlich berücksichtigt werden. Eine eigene COVID-19-Erkrankung stellt ebenfalls einen potenziellen psychosozialen Stressor dar. Die Betrachtung des eigenen Erkrankungs-Risikos bzw. schwererer Folgen ist allerding bereits in der Schätzung des Risikos für die direkten Folgen enthalten. Ein präventiver Ansatz dieser direkten Folgen stellt somit auch eine Prävention der sekundären psychologischen Folgen einer eigenen COVID-19-Erkrankung dar.

Vulnerable Gruppen in einer Pandemie

Vulnerable Gruppen sollten im Rahmen des Pandemiemanagements genau definiert werden, um direkte und indirekte Folgen für diese abzuschätzen und einzudämmen zu können. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) [3], sowie eine Übersichtsarbeit auf der Basis von insgesamt 25 Reviews [4], zählen u. a. geflüchtete Menschen, Kinder und Jugendliche, arbeitslose Personen, Beschäftigte im Gesundheits- oder Sozialsektor, Care-Workers, Menschen mit vorbestehenden körperlichen, psychischen, psychosozialen, kognitiven, oder intellektuellen Einschränkungen, und COVID-19 Patient*innen mit körperlichen Komorbiditäten zu den psychisch besonders gefährdeten Gruppen im Rahmen der Pandemie. Für die Matrix wurden diese Gruppen zugrunde gelegt, in ein systematisches Schema überführt, und ergänzt ([Abb. 1]). Wichtig ist aus unserer Sicht ebenfalls der Einbezug von weniger vulnerablen Referenz-Populationen. Denn auch Gruppen, die weniger Schutz benötigen, sollten in einer Pandemie bekannt sein, um unnötige Maßnahmen oder eine Verschwendung von Ressourcen zu vermeiden. Zudem sollte über die Bildung präziserer kombinierter (intersektionaler) Gruppen nachgedacht werden.


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Vulnerabilitätsfaktoren und -Merkmale im Hinblick auf direkte (virusbezogene) Folgen und Psyche

Hinsichtlich der direkten Folgen (COVID-19-Erkrankung) sind die wichtigsten medizinischen Vulnerabilitätsfaktoren im Rahmen der Krise prioritär untersucht worden. Diese umfassen insbesondere ein höheres Alter (>75 Jahre), männliches Geschlecht, Adipositas, sowie vorbestehende Krebs-, und Lungenstrukturerkrankungen [5]. Allerdings bleibt das Wissen über die Gewichtung und Interaktion einzelner Risikomerkmale nach wie vor lückenhaft. Die in der Matrix aufgeführten Vulnerabilitätsmerkmale sollten auf Evidenzbasis weiter ausgearbeitet und gewichtet werden und je Merkmal eine Zeile beanspruchen. Aus Vereinfachungs- und Platzgründen wurden alle direkten Vulnerabilitätsmerkmale im Rahmen dieses Beitrags in einer einzigen Zeile platziert.

Nach einem Review von Furber et al. [6] lassen sich aus Meta-Analysen allgemein 10 generische Vulnerabilitäts- bzw. Risikofaktoren für psychische Erkrankungen beziehungsweise psychosoziale Folgen ableiten: 1. Soziale & Beziehungsfaktoren, 2. psychologischer Status, 3. physiologischer/Gesundheitsstatus, 4. Lifestyle, 5. Prädiktoren für den Umgang mit Trauma, 6. berufliche Faktoren, 7. Umwelt-Faktoren, 8. soziodemografische Faktoren, 9. genetische, sowie 10. neuroanatomische/neurochemische Faktoren. Auf eine Aufnahme der Faktoren 9. und 10. wurde für die vorgeschlagene Matrix-Struktur verzichtet, da eine Betrachtung dieser Faktoren für ein rasches, risikogestuftes Pandemie-Management hier wenig zielführend erscheint. Zusätzlich wurde mit ‚9. strukturelle Faktoren‘ ein neuer Vulnerabilitätsfaktor aufgenommen. Zu diesem zählen insbesondere der Zugang zu wichtigen Ressourcen und Infrastruktur, wie beispielweise dem Bildungs- oder Gesundheitssystem. Jedem Vulnerabilitätsfaktor ist eine Vielzahl von einzelnen Merkmalen zugeordnet, die gemeinsam den Faktor bilden. So fallen unter 4. Lifestyle z. B. folgende Merkmale: Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, Rauchen. Eine Auflistung von Merkmalen je Faktor, ebenfalls angelehnt an Furber et al. [6], befindet sich in Online-Tab. 1. Durch eine genauere Spezifikation derartiger Vulnerabilitäts- Faktoren und -Merkmale für direkte und indirekte Folgen lassen sich entsprechend auch gezieltere und differenziertere Maßnahmen zum Schutz unterschiedlich vulnerabler Gruppen in der Bevölkerung ableiten.


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Herleitung direkter vs. psychosozialer Stressoren während der Pandemie und Quantifizierung der Matrix

Der wichtigste direkte Stressor ist die SARS-CoV-2 Virus-Exposition ([Abb. 1]). Die potenziellen psychogenen Stressoren wurden in Anlehnung an ein Review von Brakemeier et al. [7] multidimensional definiert und zur Vereinfachung äquivalent zu den Vulnerabilitätsmerkmalen in die Kategorien 1–9 eingeordnet (s. o. und [Abb. 1]). Ebenso finden sich Beispiele zu den psychosozialen pandemischen Stressoren in Online-Tab. 2. Eine solche Systematisierung kann zu einer gezielteren Herleitung von Maßnahmen führen, um einzelne Stressor-Quellen gegenüberzustellen und gezielt an den kritischsten Belastungen für die jeweilige Gruppe anzusetzen.


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Quantifizierung von direkter (virusbezogener) vs. indirekter (psychosozialer) Vulnerabilität, Stressoren, und Folgen für verschiedene Gruppen innerhalb der Bewertungs-Matrix

Nach der Definition von vulnerablen Gruppen, Stress, und Folgen, sollten diese nun mithilfe eines möglichst einfachen Verfahrens zahlenmäßig erfassbar gemacht werden. Hierfür werden im Folgenden zwei Vorschläge illustriert.

Expert*innen Rating

Für das Expert*innen-Verfahren sollten mindestens zwölf Expert*innen [8] bestehend aus a) eminenten Wissenschaftler*innen (n≥12) und b) Betroffenen (n≥12) für die jeweilige vulnerable Gruppe bzw. aus dieser Gruppe den Schweregrad der einzelnen Vulnerabilitäts- und Stress-Merkmale bewerten.

Die Bewertung der einzelnen Matrix-Zellen je Gruppe und Rater erfolgt unabhängig voneinander. Mögliche Fragen für die Einschätzung der Vulnerabilitätsmerkmale lauten: ‚Für wie hoch halten Sie die Ausprägung des jeweiligen Vulnerabilitätsmerkmals (1.x-9) in dieser Gruppe? nz/nb=Vulnerabilitätsmerkmal für die Gruppe nichtzutreffend/nicht beurteilbar, 0=nicht vorhanden, 1=leicht, 2=mittel, 3=schwer ausgeprägt‘. Äquivalent lautet die Frage für die Stressoren: ‚Für wie hoch halten Sie die potenzielle Betroffenheit und Belastung (bedingt durch potenzielle Häufigkeit, Dauer, Ausmaß/Intensität) dieser Gruppe durch die genannten Stressoren während der Pandemie? nz/nb=nicht zutreffend/betrifft diese Gruppe nicht/nicht beurteilbar, 0=nicht betroffen, 1=leicht betroffen, 2=mittelgradig betroffen, 3=stark betroffen‘. Eine 4-fach Abstufung der Likert-Skala hat sich für Konsense als günstig erwiesen [9], und lässt sich zugleich gut gängigen Effektstärke-Interpretations-Daumenregeln zuordnen (s.u.). Anschließend erfolgt eine Mittelung der Ratings (=Konsens) je Zelle. Diese Mittelung sollte gesondert für Expert*innen- und Betroffene vorgenommen werden.


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Evidenzsynthese- und Integrationsverfahren

Sowohl für die gruppenspezifische Vulnerabilität, pandemischen Stressoren, als auch potenziellen Folgen sollten systematische Recherchen herangezogen werden. Idealiter kann zur Bewertung des jeweiligen Schweregrads, ähnlich wie bei den Ratings (0−4), eine statistische Interpretationsdaumenregel, beispielweise auf Basis von Odd’s Ratios (OR) oder anderen Effektstärken angesetzt werden. Hier gilt als kleiner Effekt OR≥1.50 (Übersetzung in Matrix=1; kleinere ORs=0), mittlerer Effekt OR≥2.5 (=2), großer Effekt OR≥4.30 (=3), [10]. Eine geeignete Infrastruktur könnte zur systematischen Evidenzgenerierung mittels gezielter Recherche, die sich an den Matrix-Elementen als Suchbegriffe orientiert, genutzt werden. Entsprechend standardisierte Such- und Evidenzsynthese-Protokolle sind konsensuell (z. B. durch Fach-Expertengruppen inklusive Betroffener sowie Datenexperten) zu erstellen. Die herangezogenen Evidenzgrundlagen, unter Dokumentation des Evidenz-Sammlungs- und Synthese-Prozesses, sollten nachvollziehbar hinterlegt werden.


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Gesamtbewertung und Folgeabschätzung

Zur Ermöglichung eines schnellen, direkten Überblicks und Vergleichs wird ein einfaches, Mittelwert, basiertes Verfahren vorgeschlagen. Dieses könnte in der Zukunft durch komplexere Modelle ersetzt werden, bei denen einzelne Merkmale nach der Prädiktivität für das Outcome gewichtet werden. Für das Gesamtrisiko direkter Folgen gilt: Vulnerabilitätsmittelwert (Anfälligkeit für schwerere COVID-19 Erkrankung/Folgen) multipliziert mit der Stressor-Exposition (Erreger), oder als Formel ausgedrückt: F direkt=V direkt x S direkt. Für die psychischen Kollateralschäden müssten zunächst die Mittelwerte über die einzelnen Faktoren der psychosozialen Vulnerabilität als auch über die psychosoziale Stressorbelastung gebildet werden. Nicht zutreffende oder -beurteilbare Merkmale werden jeweils ausgespart. Für die Schwere potenzieller, indirekter Folgen gilt, dass sich diese aus der Interaktion psychosozialer Vulnerabilität (Mittelwert) mit der psychosozialen Stressorbelastung (Mittelwert) ergibt, oder als Formel ausgedrückt: F psychosozial=V psychosozial x S psychosozial. Gesamtwerte für die direkten vs. indirekten Folgen (F direkt/F psychosozial) können somit jeweils maximal 9 betragen, wobei zur Interpretation zu erwartender Gesamtrisiken die Daumenregel gilt: 0=keine signifikanten zu erwartenden Folgen, 1−3=leichte zu erwartende Folgen, 4−6=mittelgradige zu erwartende Folgen, 7−9=schwere zu erwartende Folgen.


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Direkte (virusbezogene) und indirekte (psychosoziale) Vulnerabilität, Stressoren und Folgen bei schweren psychischen Erkrankungen

Schwere psychische Erkrankungen (engl. Severe/Serious Mental Illness; SMI) sind definiert durch schwere episodische und/oder chronische psychische Symptome und schwere Beeinträchtigungen der sozialen, persönlichen, familiären und beruflichen Funktionsfähigkeit [11] [12]. In Deutschland liegt die 1-Jahres-Prävalenz, je nach zugrunde gelegten Kriterien, bei etwa 4% (ca. 2.9 Mio. Menschen). Die Erstmanifestation liegt meist in der Jugend oder im jungen Erwachsenenalter [13].

Zu SMI gehören (a) schwere allgemeine psychische Erkrankungen mit wiederholten Krankheitsepisoden und zunehmenden Schweregrad von Symptomen, sowie Funktionseinbußen (z. B. bei chronischen Depressionen) und (b) schwere und anhaltende psychische Erkrankungen mit komplexem Versorgungsbedarf, wobei Symptome und/oder damit verbundene Funktionsbeeinträchtigungen auf hohem Niveau ohne Remission auftreten (z. B. bei der Schizophrenie). Die Mortalität bei Personen mit schweren psychischen Erkrankungen ist 2-3mal höher als in der Allgemeinbevölkerung und die Lebenserwartung um bis zu 25 Jahre reduziert [11].

Die direkte Vulnerabilität im Sinne der Matrix ist bei Menschen mit SMI hoch ausgeprägt. Diese weisen häufig multiple, sich bereits früh manifestierende, chronische, und schwer ausgeprägte körperliche Erkrankungen auf, wie zum Beispiel Adipositas, Diabetes, oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Hinzu kommen eine erhöhte Anfälligkeit für Atemwegs- und Infektionskrankheiten, ein ungesunder Lebensstil mit schlechten Ernährungsgewohnheiten, Bewegungsmangel und Rauchen, ein schlechter Zugang zum Versorgungssystem, sowie mangelnde Inanspruchnahme von Behandlung [14]. Die Exposition gegenüber dem Virus ist für Menschen mit SMI, z. B. bei Personen mit psychotischen Störungen wie der Schizophrenie, potenziell deutlich erhöht. Dies ist unter anderem bedingt durch a) mangelnde gesundheitliche Aufklärung, Prävention, und (Selbst-)Fürsorge, b) Nicht-Inanspruchnahme oder -Einhaltung von Schutzmaßnahmen wie Tragen von Masken, Impfung, Isolation, Selbst-Quarantäne, c) Aufenthalt in Umgebungen mit erhöhtem Clusterkontaminationsrisiko, wie in Krankenhäusern, psychiatrischen oder forensischen Abteilungen, Obdachloseneinrichtungen, oder Wohnheimen [15] [16]. Hinsichtlich der direkten Folgen zeigte ein systematisches, kritisches Review bei Patient*innen mit SMI ein 2 bis 4-faches Sterbe-Risiko durch eine COVID-19-Erkrankung [17]. Die vorliegende Evidenz führt daher zu einem maximalen Gesamtscore für direkte Folgen für Personen mit SMI (F direkt=9) in der Matrix. Dies legt, wie auch im Rahmen des Pandemiemanagements vorgesehen, eine hohe Priorisierung von Menschen mit SMI hinsichtlich geeigneter Aufklärungs- und Schutzmaßnahmen nahe.

Menschen mit SMI haben in vielen definierten psychosozialen Vulnerabilitätsmerkmalen hohe Ausprägungen. Dies erklärt sich bereits durch den Status einer SMI an sich. Hinsichtlich der psychosozialen Stressoren während der Pandemie lässt sich eine erhöhte Betroffenheit v. a. aufgrund der allgemein erhöhten Stressanfälligkeit bei SMI erwarten, u. a. durch a) Isolation und Einsamkeit, b) Verstärkung des ungesunden Lebensstils, c) den Kollaps sozialer Netzwerke und Alltagsstrukturen, d) Überforderung bei der Informationsaufnahme, der Alltagsbewältigung mit neuen Regeln, und dem Coping mit neuen Stressoren und e) Therapie-Abbrüche, oder reduzierte Inanspruchnahme von Vorsorge- und Behandlungsmaßnahmen [s. 15, 16, 18, 19]. Hinsichtlich der mentalen Gesundheitsfolgen durch die COVID-19 Pandemie zeigte ein Review aus dem Jahr 2021 auf Basis von insgesamt 36 Studien ein differenziertes Bild für Menschen mit verschiedenen SMI. Hierbei hatten diese im Mittel im Vergleich zu gesunden Kontrollstichproben während der Pandemie deutlich erhöhte Angst-, Depressions- und Stresswerte. Dabei fiel jedoch die Belastung für Menschen mit schweren depressiven Erkrankungen gravierender aus als für Personen mit einer Schizophrenie. Zudem wurde aufgezeigt, dass ein jüngeres Alter mit gravierenderen Symptomen assoziiert war [19]. Eine neuere, Zeitreihen-basierte Studie wertete Routinedaten des Oxford Health Foundation Trusts von insgesamt 34.446 Patient*innen mit SMI aus. Hierbei wurde der allgemeine psychosoziale Status dieser Gruppe vor, während, und nach dem Lockdown (März bis Juli 2020) betrachtet. Die psychosoziale Belastung, gemessen anhand der Health of the Nation Outcome Scales (HoNOS), stieg um im Schnitt 0.06 Punkte pro Woche und insgesamt um 0.69 (Skalen-Range: 0-4) und wies einen deutlicheren Trend zur Verschlechterung als vor der Pandemie und auch noch als vor dem Lockdown auf. Getrieben wurde dieser Effekt insbesondere durch erhöhte Agitiertheit, Beschäftigungs- und Aktivitätseinschränkungen, Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung, kognitive und körperliche Probleme, Halluzinationen und Wahn [20]. Das Gesamtrisiko für psychosoziale Folgen ist nach unserem beispielhaften Rating, aufgrund der differenziellen Lage bei SMI, insgesamt mittelgradig (≈5.8) ausgeprägt, was insbesondere durch den schlechten Ausgangsstatus bedingt ist. Weitere Forschung mit Längsschnitt-Daten (vor, während und nach der Pandemie) und einer besseren Binnendifferenzierung verschiedener Subgruppen von Menschen mit SMI ist notwendig. Hierbei sollten regionale Unterschiede in der Versorgung sowie Auswirkungen von Maßnahmen berücksichtigt werden. Die beschriebenen psychosozialen Folgen werden durch das nicht-evidenzbasierte deutsche Versorgungssystem für Menschen mit SMI wahrscheinlich weiter potenziert insbesondere durch fehlende aufsuchende Behandlung über Assertive-Community-Treatment Teams [21].


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Konsequenzen für die Praxis

Die COVID-19-Pandemie hat in Deutschland tiefgreifende Spuren hinsichtlich Morbidität, Langzeitfolgen und Mortalität hinterlassen, die insbesondere vulnerable Gruppen betreffen. Neben der Gefahr durch das Virus wurden psychosoziale Risiken aber eher vernachlässigt. Krisenbedingte Gesamtdynamiken, in ihrer Neuartigkeit, Unvorhersehbarkeit, und Unkontrollierbarkeit, führen zu psychischem Stress. Zusätzlich hat aber auch die Bündelung der Aufmerksamkeit und die Verlagerung von Ressourcen auf den Schutz vor SARS-CoV-2 durch Politik, Medien, Gesellschaft und Gesundheitssystem zu ‚blinden Flecken‘ auf der Seite der seelischen Gesundheit und der psychosozialen Teilhabe geführt. Restriktive Eindämmungsmaßnahmen durch Lockdowns, Schulschließungen, Social Distancing, Kontakt- oder Zugangsbeschränkungen, sowie Quarantäneverordnungen haben zudem ungleiche, potenziell tiefgreifende und langanhaltende kollaterale psychosoziale Auswirkungen für vulnerable Gruppen. Aus unserer Sicht sollte neben der Prävention direkter Folgen auch die Prävention psychosozialer Folgen zu einer prioritären Aufgabe im Rahmen der Datenerhebung, des Krisenmanagements, der post-pandemischen Aufarbeitung, sowie der Preparedness für zukünftige Krisen werden.

Wir möchten mit unserem Beitrag zu weiterführenden Überlegungen hinsichtlich einer systematischen Herangehensweise diverser Akteure anregen, um die Zieldefinition bei der Vermeidung unerwünschter Folgen um die psychosoziale Perspektive zu erweitern. Deren Erfassung und Aufarbeitung muss aus unserer Sicht in Deutschland weiter vorangetrieben werden. Die vorgeschlagene Methode ist eine erste Skizze, welche einer weiteren Ausdifferenzierung und praktischen Erprobung bedarf. Wir möchten auf dieser Grundlage allerdings bereits zum jetzigen Zeitpunkt ausdrücklich zu weiterführenden Diskussionen in dieser Sache anregen und auf die besondere Betroffenheit der Gruppe der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen hinweisen.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Zusätzliches Material

  • Literatur

  • 1 Gibson B, Schneider J, Talamonti D. et al. The impact of inequality on mental health outcomes during the COVID-19 pandemic: a systematic review. Can Psychol Can 2021; 62: 101-126
  • 2 Kuran CHA, Morsut C, Kruke BI. et al. Vulnerability and vulnerable groups from an intersectionality perspective. Int J Disaster Risk Reduct 2020; DOI: 10.1016/j.ijdrr.2020.101826.
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Korrespondenzadresse

Dr. Leonie Ascone
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Deutschland   

Publication History

Received: 04 July 2022

Accepted: 24 January 2023

Article published online:
03 May 2023

© 2023. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

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Abb. 1 Einleitende Erklärungen. Eine Aufstellung charakterisierender Merkmale je Vulnerabilitäts- bzw. Stressfaktor findet sich in den OnlineTab. 1 und 2. Verschiedene Kombinationen zutreffender, auf bestimmte Weise ausgeprägter Vulnerabilitätsfaktoren (V direkt, V psychosozial) charakterisieren jeweils die Anfälligkeit der jeweiligen Gruppe in Bezug auf das Virus und den psychosozialen Status. Die Vulnerabilität bedingt die Empfindlichkeit gegenüber den Stressoren (S direkt, S psychosozial), ähnlich wie bei einem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Auch die Stressoren können sich hinsichtlich des Vorhandenseins und Ausprägungsgrads zwischen vulnerablen Gruppen unterscheiden. Insgesamt ergeben sich dann durch eine differenzierte Betrachtung von Vulnerabilitäts- und Stressfaktoren je vulnerabler Gruppe unterschiedliche Vulnerabilitäts-Profile, Stressor-Profile, und somit in der Gesamtheit Risiko-Profile, die eine Abschätzung der Schwere direkter (virusbezogener, F direkt) sowie indirekter (kollateraler, F psychosozial) Pandemiefolgen ermöglichen.  Rating . Ausprägung von Vulnerabilitätsfaktoren/-Merkmalen innerhalb der jeweiligen Gruppe: nz/nb=für die Gruppe nichtzutreffend/nicht beurteilbar, 0=nicht vorhanden, 1=leicht, 2=mittel, 3=schwer.   Ausmaß der Betroffenheit und erwartbare Belastung durch Stressfaktoren/Stressoren für die jeweilige Gruppe: nz/nb=für die Gruppe nichtzutreffend/nicht beurteilbar, 0=nicht betroffen, 1=leicht betroffen, 2=mittelgradig betroffen, 3=stark betroffen  Interpretation Folgen.+0=keine signifikanten Folgen, 1-3=leichte Folgen, 4-6=mittelgradige Folgen, 7-9=schwere Folgen.  Anmerkungen   1 Die hier aufgeführten Gruppen sind höchstwahrscheinlich zu generisch, sie dienen dem Zweck einer ersten Übersicht. Über eine Bildung 'intersektionaler' vulnerabler Gruppen sowie von geeigneten, potenziell wenig betroffenen Vergleichsgruppen mit geringeren Risiken, sollte weiter abgestimmt werden.2 psychosoziale Folgen aufgrund von COVID-19, wie Zeugenschaft von Todesfällen oder schweren Verläufen, sollten hier zusätzlich berücksichtigt werden. Eine eigene COVID-19-Erkrankung stellt ebenfalls einen potenziellen psychosozialen Stressor dar. Die Betrachtung des eigenen Erkrankungs-Risikos bzw. schwererer Folgen ist allerding bereits in der Schätzung des Risikos für die direkten Folgen enthalten. Ein präventiver Ansatz dieser direkten Folgen stellt somit auch eine Prävention der sekundären psychologischen Folgen einer eigenen COVID-19-Erkrankung dar.