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DOI: 10.1055/a-2023-9468
Der „Gender Data Gap“ und geschlechtsspezifische physiologische Unterschiede im Sport
Einleitung
Die Analyse struktureller Benachteiligung eines Geschlechts, zumeist der Frauen im Vergleich zu Männern, ist immer wieder Ausgangspunkt gesellschaftlicher Debatten. So wird beispielsweise sowohl in den Medien als auch im Rahmen wissenschaftlicher Publikationen [z. B. [1] [2] [3]] über den Gender Pay Gap, also das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern, und mögliche Ansätze zur Verringerung dieser diskutiert.
In der Sportwissenschaft wird derzeit vermehrt über eine andere Form der Benachteiligung diskutiert: den sogenannten Gender Data Gap. Die aktuelle wissenschaftliche Studienlage der Sport- und Sportmedizin-Forschung verdeutlicht, dass die meiste Sport- und Sportmedizin-Forschung auf Stichproben mit hauptsächlich männlichen Teilnehmern basiert. Auf diese Problematik weisen unter anderem die Forschungsgruppen um Kristy Elliott-Sale sowie Ella S. Smith in aktuellen Publikationen dringlich hin [4] [5] [6]. Ein Grund für den Mangel an Studien mit hauptsächlich weiblichen Teilnehmerinnen sei, dass ihre physiologische Komplexität auch komplexere Studiendesigns sowie längere Forschungszeiten und damit auch zusätzliche Kosten erfordere. Eine Folge der einseitigen Forschungsgrundlage ist, dass die aus Studien gewonnenen Schlussfolgerungen, die auf männlichen Athleten basieren, nicht ohne Weiteres auf ihre weiblichen Pendants übertragbar sind. Begrenzte Übertragbarkeit besteht aufgrund der physiologischen Geschlechtsunterschiede insbesondere bezüglich reproduktiver Endokrinologie und der charakteristischen Unterschiede der sportlichen Wettbewerbe (z. B. Wettkampflänge und -dauer). Falsche Schlussfolgerungen bzw. die mangelhafte Anwendbarkeit der Ergebnisse auf weibliche Athletinnen kann die Bemühungen von Frauen behindern, ihr sportliches Potenzial zu maximieren.
Zudem fehle laut Elliott-Sale et al. [4] Wissen über die weibliche Physiologie in der Sportwissenschaft und die Bereitschaft, experimentelle Designs so anzupassen, dass frauenspezifische Aspekte, wie zum Beispiel der Menstruationszyklus, hormonelle Verhütung oder eine Schwangerschaft einbezogen und beachtet werden. Darüber hinaus stellt sich für den Fortschritt hochqualitativer Forschung eine uneinheitliche Terminologie und mangelnde Einigung über methodische Goldstandards als problematisch dar.
Am Beispiel der Subdisziplin der evidenzbasierten Leistungsergänzungsmittel-Forschung konnten Smith, McKay, Kuikman, et al. [6] zeigen, wie unterrepräsentiert Frauen hier sind, obwohl Athletinnen diese Ergänzungsmittel häufig einnehmen. Sie untersuchten nach einer standardisierten Methode die Literatur zu Produkten, wie zum Beispiel Koffein, Kreatinin, Rote-Bete-Saft etc., die die Leistung steigern sollen, und fanden in 1.826 Studien mit insgesamt knapp 35.000 Teilnehmer*innen eine Teilnahmerate von nicht einmal einem Viertel (23%) an Frauen. Nur 0–8% der Studien hatten eine rein weibliche Stichprobe über die verschiedenen Ergänzungsmittel hinweg, und die jährlichen Publikationen für frauenspezifische Untersuchungen waren ca. achtmal geringer als bei Studien mit ausschließlich männlichen Stichproben. Zudem definierten und beachteten nur 14% der Studien mit weiblichen Teilnehmerinnen einen Menstruationsstatus, und nur drei Studien verwendeten Best-Practice Methoden zur Erhebung des Menstruationsstatus.
Publication History
Article published online:
17 April 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
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