Kinder- und Jugendmedizin 2023; 23(02): 83-84
DOI: 10.1055/a-2021-5934
Editorial

Krankenhausreform und Reform des Gesundheitssystems aus Sicht von Kinderheilkunde und Jugendmedizin

Ulrike Rothe
,
Werner Siekmeyer
2   Leipzig
,
Wieland Kiess
1   Leipzig Schriftleiter
,
Ulf Manuwald
,
Olaf Schoffer
,
Joachim Kugler
› Author Affiliations

Die Reform ist eine Reform, ist eine Reform. Oft ist eine Reform keine Reform. Eine Reform ist aber ganz sicher keine Revolution. Lobbyisten und Nutznießer des Bestehenden sowie schon die Angst vor Lobbyismus und vor dem Widerstand gegen die Reform durch Lobbyisten vermögen es, eine Reform zu verhindern.

Das Ziel unseres Gesundheitssystems in Deutschland sollte es sein, eine möglichst gute und umfassende, ganzheitlich medizinische Versorgung der gesamten Bevölkerung zu gewährleisten. Dabei muss diese Versorgung bezahlbar sein und also effizient organisiert sein. Der Patient/die Patientin muss bei diesem Anspruch naturgemäß im Mittelpunkt stehen und nicht – wie es so oft den Anschein hat – im Weg! In den vergangenen Jahrzehnten wurden die offensichtlichen Probleme im deutschen Gesundheitssystem durch das viele Geld, das im System steckte und immer noch steckt, übertüncht und verdeckt. Dies hat regelmäßig eine echte inhaltlich begründete und auf die Versorgung des Menschen ausgerichtete Gesundheitsreform verhindert. Zu viele Partner des Systems haben finanziellen Nutzen aus dem System und seinen Fehlern gezogen und profitieren noch heute flächendeckend von Leistungen, die dem wirtschaftlichen Interesse der Leistungsanbieter und nicht den Patienten dienen.

Ziele einer Krankenhausreform, die nicht isoliert die Krankenhäuser betreffen, müssen deshalb Gesundheitsreform genannt werden, und sollten sein:

  1. Die medizinische Über-, Unter- und Fehlversorgung im Land zu korrigieren.

  2. Die Patientin/den Patienten in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen.

  3. Die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern.

  4. Versorgungssicherheit in der urbanen und der ländlichen Umgebung zu sichern.

  5. Die vorhandenen Fachkräfte effizient einzusetzen.

  6. Die Arbeitszufriedenheit für die im Gesundheitssektor Arbeitenden zu verbessern und zu sichern.

  7. Die Ressourcen insgesamt effizient und zum Wohle des Patienten/der Patientin einzusetzen.

  8. Lobbyismus zu entlarven und zurückzudrängen.

  9. Finanzielle Anreize und Aspekte als Selbstzweck nicht mehr zuzulassen.

Aus diesen grundlegenden Zielen, die öffentlich leider gar nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand und fast schamhaft formuliert werden, ergeben sich fundamentale Fragen. Diese müssen in der Tat beantwortet werden, wenn das System sich nicht selbst überlassen werden soll. Daraus würde sich ergeben, dass Fachkräftemangel, finanzielle Schwierigkeiten einzelner Krankenhäuser und regionale Befindlichkeiten das System regulieren würden. Daraus würde sich ganz sicher eine Verschlechterung der Versorgung der Bevölkerung gerade im ländlichen Raum und in der Fläche ergeben.

Zu beantwortende Fragen:

  1. Wie viele Krankenhäuser werden benötigt?

  2. Wie werden die Interessen der Bevölkerung auf Bundes-, Landes- und regionaler Ebene adressiert?

  3. Wie wird die Versorgung insbesondere der ländlichen Regionen gesichert, wenn gleichzeitig kleinere Kinderkliniken und pädiatrische Abteilungen schließen müssen?

  4. Welche alternativen Versorgungsstrukturen wie etwa Tageskliniken, Medizinische Versorgungszentren und Portalpraxen werden gebraucht?

  5. Wie werden diese neuen Versorgungsformen organisiert und finanziert?

  6. Welche Finanzierungsschlüssel ersetzen die bisherigen Vergütungsformen im stationären, teilstationären und ambulanten Sektor?

  7. Ist die duale Facharztschiene noch zeitgemäß?

  8. Wie gelingt es, dem Fachkräftemangel in allen Berufsgruppen im Gesundheitswesen zu begegnen?

  9. Wird die Generalistik in der Pflegeausbildung wieder abgeschafft?

  10. Wird dadurch wieder eine den Anforderungen gemäße Kinderkrankenpflegeausbildung ermöglicht?

  11. Wo wird die spezialisierte Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen erfolgen?

  12. Wieviel Intensivmedizin in wie vielen und welchen Zentren muss vorgehalten werden?

  13. Wie werden telemedizinische Versorgungsansätze umgesetzt?

  14. Wie sollen unterschiedliche Versorgungssektoren und -ebenen miteinander vernetzt werden und miteinander kollaborieren?

Leider werden derzeit nur halbherzige, nicht zu Ende gedachte und oberflächliche Vorschläge etwa für Vergütungsveränderungen, für Vorhaltebudgets, Leistungsgruppen und Versorgungsstufen zur Diskussion gebracht. Eine inhaltliche Diskussion wird allerhöchstens hinter verschlossenen Türen geführt. Wieder wird etwa unter dem Stichwort ´Millionenhilfen für Pädiatrie und Geburtshilfe in Aussicht´ mit zusätzlichem Geld geliebäugelt anstatt gleichzeitig zu überlegen, wo Geld gespart werden könnte. Gelder werden möglicherweise wieder ausgegeben, ohne dem Patienten/der Patientin am Ende zugute zu kommen und die medizinische Versorgung verbessern zu können!

Empfehlungen der Regierungskommission und unserer Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V., klingen gut, scheinen sachlich und fachlich fundiert zu sein. Es besteht aber zu befürchten, dass die inhaltliche Diskussion und eine tatsächliche und längst überfällige Gesundheitsreform von Lobbyisten gestoppt werden. So ist es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder geschehen.

Vielleicht aber ist die Reform, doch die Reform vor der Revolution: Auch ein reiches Land wie Deutschland wird Effizienz und Effektivität des Gesundheitssystems immer wieder auf die Probe stellen müssen. Die so üppig sprudelnden Geldquellen sind angesichts der vielen anderen Themen der Zeit wie Klimawandel, Energieversorgung und Sicherheit und innerem und äußerem Frieden nicht als unendlich anzusehen. Eine Reform oder wenn nicht anders gewollt, eine Revolution sind überfällig! Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass sie sich an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientiert und nicht weiter hauptsächlich Verbände, Industrien, Parteien und Stakeholders alimentiert.

Prof. Dr. med. Wieland Kiess, Leipzig

Schriftleiter

Dr. med. Werner Siekmeyer, Leipzig



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Article published online:
19 April 2023

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