PSYCH up2date 2023; 17(01): 3-4
DOI: 10.1055/a-1979-6443
Editorial

Personalisierte Psychotherapie – neue Perspektive in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen?

Fritz Hohagen

In der heutigen Ausgabe der PSYCH up2date werden die kürzlich konsentierten und veröffentlichten S3-Leitlinien in ihrer revidierten Form vorgestellt. Leitlinien dienen der Verbesserung der klinischen Versorgung bestimmter Patientengruppen, indem sie den Stand des evidenzbasierten Wissens zur Therapie zusammenfassen und nach ihrem Evidenzgrad bewerten. Damit sollen empirisch gestützte Behandlungsempfehlungen ermöglicht werden, die den derzeitigen Stand der Therapie dieses Krankheitsbildes wiedergeben und als Standard guter klinischer Praxis gelten können. Nachdem der Standard gesetzt ist, besteht eine wichtige Aufgabe darin, die erarbeiteten Leitlinien in der klinischen Praxis zu implementieren. Aber genügt das, um die klinische Versorgung zu verbessern? Bleiben wir bei der Behandlung von Zwangsstörungen. Begonnen hat die Psychotherapie dieses Störungsbildes mit den Expositionsverfahren, die in den sechziger Jahren als bahnbrechende Verbesserung in der Therapie dieses Krankheitsbildes eingeführt wurden. Die Reizkonfrontationsverfahren wurden anschließend durch das Reaktionsmanagement weiterentwickelt. Dann setzten sich die kognitiven Techniken in der Behandlung durch. In den achtziger/neunziger Jahren kam dann die sog. multimodale Verhaltenstherapie auf, die verschiedene Behandlungsmodule in der Psychotherapie zusammenführte sowie Konzepte zur Kombination von Verhaltenstherapie und medikamentöser Therapie erarbeitete. In den letzten Jahren wurden die therapeutischen Möglichkeiten um die metakognitive Therapie erweitert. Die Behandlung von Zwangserkrankten wurde somit immer komplexer, differenzierter und damit auch aufwändiger und teurer. Schaut man sich die Effektstärken der Psychotherapie an, so sieht man, dass sich die Effektstärken trotz der zunehmenden Komplexität nicht verbessert haben – sie liegen heute immer noch, wie bereits bei den ersten klinischen Studien mit reinen Expositionsverfahren, bei 0,8 bis 1,2. Die verschiedenen Behandlungsansätze unterscheiden sich allerdings in den Ansprech- und Dropoutraten sowie in der Compliance. Damit stellt sich die Frage, inwieweit eine individualisierte bzw. personalisierte Psychotherapie die Behandlungsergebnisse verbessern kann, indem eine maßgeschneiderte, auf die jeweiligen Betroffenen zugeschnittene Psychotherapie angeboten wird.

Personalisierte Psychotherapie beinhaltet mehrere Ebenen, die bei der Planung berücksichtigt werden müssen. Zum einen leisten klinische Unterstützungssysteme durch kontinuierliche psychometrische Evaluation eine wichtige Hilfestellung bei der Anpassung von Psychotherapiestrategien. Zum anderen sollten klinisch relevante Moderatorvariablen wie Alter, Geschlecht, sozio-ökonomischer Status, Komorbidität und mögliche Traumatisierungen in der Vorgeschichte sowie die Therapiepräferenz der Patient*innen bei der Personalisierung der Psychotherapie Berücksichtigung finden.

Behandlungsleitlinien spielen weiterhin eine wichtige Rolle, um die Behandlungsqualität zu verbessern, indem sie – wie bereits dargestellt – Behandlungsalgorithmen evidenzbasiert empfehlen. Sie geben aber keine Hilfestellung, wie die einzelnen therapeutischen Interventionen durchzuführen sind. Hier können Therapiemanuale weiterhelfen.

Viele Psychotherapeuten sind der Meinung, dass sie aufgrund ihrer klinischen Erfahrung intuitiv die Psychotherapie an die Bedürfnisse der Patient*innen anpassen und damit personalisieren. Leider haben klinische Studien zu diesem Thema ergeben, dass durch Intuition gesteuerte Psychotherapieprozesse zum Teil schlechtere Ergebnisse erbrachten verglichen mit standardisiertem therapeutischem Vorgehen. Die „Personalisierung“ erfolgte oft mehr auf die Person der Psychotherapeut*innen als auf die Patientencharakteristika.

In den letzten Jahren wurden internetgestützte Therapiealgorithmen entwickelt, die verschiedene Interventionsmöglichkeiten berücksichtigen und mit neu entwickelten statistischen Methoden die Therapiemodule vorschlagen, die auf die jeweiligen Patientencharakteristika zugeschnitten sind und in statistischen Vorhersagemodellen die besten Therapieeffekte erzielen. Diese oft App-gestützten statistischen Vorhersagemodelle werden jetzt empirisch evaluiert, um sicherzustellen, dass sie auch in der klinischen Praxis „funktionieren“. Zusammenfassend besteht die Hoffnung, dass durch einen mehrdimensionalen Personalisierungsprozess in der Psychotherapie, der die individuellen Patientencharakteristika berücksichtigt, die Therapieergebnisse verbessert, die Dropoutquoten gesenkt und die Behandlungszufriedenheit der Patient*innen verbessert werden kann.

Fritz Hohagen, Lübeck



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Article published online:
11 January 2023

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