Zeitschrift für Palliativmedizin 2023; 24(01): 1-2
DOI: 10.1055/a-1973-2666
Editorial

Der Umgang mit dem Lebensende: eine gesellschaftliche Reifeprüfung!

Liebe Leserin, lieber Leser,

Palliative Care und Palliativmedizin hat medizinhistorisch wahrscheinlich die längste Tradition in der Medizin. Nach dem Lindern kam das Heilen, und mit dem Heilen nun wieder das Lindern, da die Endlichkeit doch ein Fakt bleibt. Die Diskussion darüber, was menschenwürdiges Sterben bedeutet, wird mittlerweile nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in der Öffentlichkeit bis in den Bereich der Gesetzgebung hinein intensiv geführt. Und daneben läuft ein zunehmend vehementer Wettlauf um den Wert von ,Leistungen‘, von Gesundheitsdienstleistungen. Hat eine Immuntherapie einen größeren Wert als die Betreuung und Pflege zu Hause? Wer bekommt welche Behandlung, wenn die Mittelverteilung noch vehementer verhandelt wird? Und – was ist überhaupt «heilsam», gerade wenn es Richtung Lebensende geht?

Die Themen der Verteilung von und des Zugangs zu finanziellen Mitteln, insbesondere bei fortgeschrittenen und chronischen Leiden, haben das Potenzial für einen gesellschaftlichen Klimawandel bis hin zu einer Entsolidarisierung. «Ich habe Anspruch auf diese Behandlung, ich habe immer in die Krankenkasse einbezahlt», sind Stimmen, die häufig zu hören sind. Die Stimmung wird zunehmend kriegerisch beim Kampf um finanzielle und auch personelle Ressourcen. Evidenz und Qualität, oftmals gemessen anhand von quantitativen Aspekten, wird gefordert von allen Maßnahmen als Grundlage für Vergütung. Dabei wird häufig vergessen, dass viele Maßnahmen der Biomedizin für die Anwendung bei schwerkranken Menschen, das heißt in den letzten Lebenswochen, gar keine wissenschaftliche Evidenz haben – oder dass deren Effekte kaum quantifizierbar sind.

Medizinische Therapien am Lebensende beanspruchen unendliche Geldmittel, deren Wert kaum kritisch hinterfragt und diskutiert wird. In dem im Januar 2022 erschienenen Bericht der Lancet-Kommission ,on the value of death‘ [1] werden deshalb klare Prinzipien definiert, die dazu beitragen sollen, dass das Lebensende eben nicht im Rahmen der Medikalisierung und des Kampfes um den Wert verschiedener Maßnahmen ökonomisiert wird. In dem Bericht geht es um die Bedeutung sozialer Beziehungen, um Solidarität in lokal gut organisierten Netzwerken, bis hin zu einer Art Rekultivierung einer verlorenen Sterbekultur.

Compassionate cities (phpci.org) sind eine starke Idee zur Wiederbelebung der Sterbekultur und Aufwertung des Lebensendes in unseren Städten und Gemeinden. Sie liefern eine Art Vademecum zur Co-Kreation einer solidarischen Vorgehensweise in der eigenen Wohnumgebung: ein würdiges Sterben braucht viel mehr als Zugang zu Gesundheitsleistungen. Für eine würdige, letzte Lebensphase braucht es ein ganzes Dorf oder eine ganze Stadt. Der Boden hierfür bereitet oftmals ein offiziell verabschiedetes Grundlagendokument, wie zum Beispiel die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen, welche in Deutschland bereits 2010 eingeführt wurde (charta-zur-betreuung-sterbender.de). Um die Charta zum Leben zu bringen, braucht es jeden und jede von uns – es braucht Schulen und Betriebe, die Stadt-/Gemeindeverwaltung, die Kirchen, kulturelle Einrichtungen und selbstverständlich auch die Gesundheitseinrichtungen bis hin zu den Medien. In keinem Boot sitzen wir so gemeinsam wie in dem der Endlichkeit; dies widerspiegelt auch die beträchtliche Anzahl der Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen, welche die Charta bereits unterzeichnet haben.

Weltweit haben bereits viele Städte diesen Weg zur Aufwertung und vor allem zur Gestaltung des Lebensendes als Gemeinschaftsprojekt eingeschlagen. In Deutschland ist dies zum Beispiel die Stadt Köln (caringcommunity.koeln), oder in der Schweiz die Stadt Bern (www.baerntreit.ch). Die Erfahrungen sind überall ähnlich: eine anfängliche Scheu, dieses Thema überhaupt auf die politische Agenda einer Gemeinde zu hieven, weicht einem zunehmenden Engagement ganz verschiedener Bereiche der Bevölkerung, die mit viel Kreativität und Solidarität das Thema ,gesellschaftstauglich‘ machen. Film-Events mit Podiumsdiskussionen, Ausstellungen, Workshops in Schulen oder bei Seniorenverbänden, Informationsstände auf dem Marktplatz und Erzählungen in Zeitungen oder Lokalfernsehen haben alle ein Ziel: das Lebensende ins Leben zu integrieren und den Umgang damit zu normalisieren. Ganz nach dem Motto: zuerst gebe ich und engagiere mich, und wenn ich selbst an der Reihe bin, empfange ich beziehungsweise meine Angehörigen dieselbe Wärme und ganz konkrete Unterstützung.

Diese Idee findet Zuspruch, der Anteil weiblicher Engagierter ist hoch. Für die und mit Schulen wurden gemeinsam mit der pädagogischen Hochschule Bern verschiedene Unterrichtsmodule zum Thema Lebensende erarbeitet. Die Kino-Events stoßen auf sehr großes Interesse. Die Diskussionen zeigen, wie wichtig das ,Sprechen über‘ ist. Sehr vieles wurde vorher nie aus- oder angesprochen im Kontext von eigenen Ängsten oder Erfahrungen. Eine Art jährlicher Vollversammlung mit Anwesenheit des Schirmherrn, des Oberbürgermeisters (oder wie er in Bern heißt: Stadtpräsidenten) findet nun schon fast traditionell am 2. November, an Allerseelen oder dem ,Diaz de los muerto‘ statt. Hier zeigt sich, was über das Jahr entstanden ist: eine große Solidarität, das Lebensende als sinnstiftendes Thema gemeinsam in der Gesellschaft zu verankern.

Was lernen wir? Wahrscheinlich zeigt sich der Reifegrad einer Gesellschaft darin, wie sie mit dem Lebensende gemeinschaftlich umgeht. Compassionate cities haben das Potenzial, einen klaren Gegentrend zur Entsolidarisierung in einer Zeit fraglos enger werdender finanzieller Mittel im Gesundheitswesen, und damit auch für schwerkranke und sterbende Menschen, einzuläuten. Die Idee, dass das Thema Unterstützung und Pflege für Menschen mit weniger Kraft, eingeschränkter Selbstständigkeit und besonders am Lebensende delegiert wird an Fach-Institutionen wie Pflegeeinrichtungen oder auch Hospize, wird kaum zukunftsfähig sein. Schon heute gibt es kaum mehr ausreichend Fachpersonal, eine Situation, die sich noch verschärft durch die Erfahrungen der Corona-Pandemie. Die Wiederentdeckung des Miteinander und der Solidarität, um in schwieriger Situation das Beste daraus zu machen, bleibt deshalb die möglicherweise einzige Option, auch wenn das Thema Lebensende schwieriger zu ,verkaufen‘ ist als der meist freudige Lebensanfang.

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Mit herzlichen Grüßen

Steffen Eychmüller und Sibylle Felber vom Zentrum für Palliative Care am Universitätsspital/Inselspital und der Universität Bern (www.palliativzentrum.insel.ch)
Sibylle Felber, MSc ist Kommunikationswissenschaftlerin und Steffen Eychmüller, Prof. Dr. med., Chefarzt und ärztlicher Leiter des Zentrums



Publication History

Article published online:
02 January 2023

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  • Literatur

  • 1 Sallnow L, Smith R, Ahmedzai SH. et al. Report of the Lancet Commission on the Value of Death: bringing death back into life. Lancet 2022; 399: 837-884