Pneumologie 2022; 76(09): 603-605
DOI: 10.1055/a-1872-0129
YoungDGP im Dialog

Digitalisierung und Ökonomisierung als berufspolitische Herausforderung

Hintergrund

Die COVID-19-Pandemie stellte sowohl klinisch tätige als auch die niedergelassenen Pneumologen vor eine große Herausforderung. Als positiver Nebeneffekt der Pandemie ist die digitale Transformation anzusehen, die Einzug in den klinischen Alltag genommen hat und aktuell im Rahmen von virtuellen Fortbildungen oder auch bei Videosprechstunden gelebt wird. Manch ein Politiker spricht gar von einem Digitalisierungsschub. Aber insbesondere die junge Generation schätzt digitale Angebote und integriert diese zunehmend in ihre berufliche Tätigkeit. Seitens der Politik wurden verschiedene Maßnahmen wie z. B. das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz – DVPMG oder auch mittels der Einführung der digitalen Gesundheitsanwendung ein Beitrag zur Förderung von Digitalisierungsprozessen geleistet. Auf der größten IT-Gesundheitsmesse Europas wurde im April 2022 eine neue Digitalisierungsstrategie angekündigt. Aktuell seien viel Taktik, viel Technik und viele Innovationen vorhanden, aber keine übergreifenden Strategien. Zu dieser Digitalisierungsstrategie zählen:

  • eine digitale Stärkung des Gesundheitswesens für künftige Pandemien

  • ein Vorantreiben der elektronischen Patientenakte und des elektronischen Rezeptes

  • Schärfung des Blicks auf Themen TI 2.0 und Datennutzung

Dass das Thema Digitalisierung vorangetrieben werden sollte, untermauern bereits Ergebnisse einer Umfrage des Marburger Bundes aus dem Jahre 2019. In dieser prä-pandemischen Umfrage gaben 60 % der Teilnehmer an, dass Sie täglich 3 Stunden oder mehr für organisatorische und verwaltungstechnische Tätigkeiten aufwenden müssen. Dies wird zumindest teilweise in der fehlenden Digitalisierung begründet [1] [2]. 56 % der Teilnehmer der Weiterbildungsumfrage der AG YoungDGP von 2019 beschreiben einen positiven Einfluss der Digitalisierung auf den Arbeitsalltag, insbesondere auf die Arbeitszeit [3]. Dementsprechend wird der Wunsch nach Intensivierung der Digitalisierungsprozesse lauter. Andererseits darf nicht verschwiegen werden, dass in der erwähnten Umfrage auch 16 % der Befragten der Digitalisierung einen fehlenden Nutzen auf die Arbeitszeit bescheinigten und weiterhin über bestehende Softwareinkompatibilitäten sowie Mehrfachdokumentation klagen. Dahingegend bewertete die Mehrheit der Befragten den Einfluss der Digitalisierung auf die Patientenversorgung positiv. U. a. werden seitens der Patienten die fehlende Anreise mit den damit verbundenen Unannehmlichkeiten wertgeschätzt. Beachtung müssen jedoch auch die Kehrseiten der Digitalisierung finden wie z. B. Informationsverluste der fehlenden Möglichkeit einer körperlichen Untersuchung im Rahmen von Videosprechstunden.

Gleichzeitig bietet der Schub der Digitalisierung in der heutigen Zeit mit zunehmender Ressourcenverknappung, sei es durch die pandemiebedingte Lage oder auch abnehmende Rohstoffe eine Möglichkeit, ökonomische Prozesse voranzutreiben und damit dem demografischen Wandel Rechnung zu tragen. Letztlich wurden die ersten Schritte im Bereich des ökonomischen Handelns durch die Einführung der German Diagnosis Related Groups (G-DRG) mit all seinen Vor- und Nachteilen bereits im Jahr 2004 getätigt. Es ist jedoch anzumerken, dass, obwohl Deutschland eines der teuersten Gesundheitssysteme weltweit aufweist (mit den höchsten Pro-Kopf-Ausgaben innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten), sich dies nicht in der Lebenserwartung widerspiegelt [4].

Des Weiteren schlägt sich die Ökonomisierung mit einer entsprechenden Arbeitszeitverdichtung in fortschreitendem Maße im Bereich der Medizin auf die im Gesundheitswesen tätigen Personen nieder. Jedoch wurde in der Weiterbildungsumfrage der YoungDGP der ökonomische Druck nur als nachrangiges Kriterium der Arbeitsunzufriedenheit genannt [1]. Andererseits wird ein zunehmender Ausfall des Krankenhauspersonals der Ökonomisierung zugeschrieben [5].

Ob sich diese Bestandsaufnahme der Digitalisierung und Ökonomisierung einer relevanten Entwicklung während der Pandemie unterzogen hat, bleibt abzuwarten. Als junge Generation und Vertreter der AG YoungDGP möchten wir den Dialog suchen mit Verantwortungsträgern in diesem Bereich. In dieser Ausgabe stellen wir Fragen an Prof. Dr. Michael Dreher, Ärztlicher Direktor der Medizinischen Klinik V, Klinik für Pneumologie und internistische Intensivmedizin, Uniklinik RWTH Aachen, zu diesem Thema.

In welchem Bereich der Pneumologie erwarten Sie mittelfristig einen deutlichen digitalen Wandel und Fortschritt?

Wie in anderen Disziplinen hält die Digitalisierung auch in der Pneumologie Einzug. Wenn es um die klinische Versorgung im engeren Sinne geht, haben digitale Lösungen das Potenzial, Patientinnen und Patienten stärker in den Therapieerfolg einzubinden und sie zu motivieren, sich kontinuierlich an die Empfehlungen des behandelnden Arztes zu halten – also die Adhärenz zu steigern. Grundsätzlich würde ich dabei vier Aspekte hervorheben: Elektronische Tagebücher für das Monitoring chronischer Erkrankungen wie Asthma und COPD – häufig in Form einer App. Dazu kommen ein App-gestütztes Adhärenz-Management und Add-ons für existierende Inhalationsgeräte, mit denen eine Elektronik von außen an das Inhalationsgerät angebracht wird, die mit einer App kommuniziert. Schließlich sind noch sogenannte Smart Devices zu nennen. Bei diesen handelt es sich um Inhalationsgeräte, die bereits Elektronik in sich verbaut haben und ebenfalls mit einer App kommunizieren. Kurz- und mittelfristig bieten sich damit große Chancen, Patientinnen und Patienten zu schulen und so den Therapieerfolg effektiver zu sichern.

Weitere Gebiete sind meines Erachtens die (Früh-)Erkennung von Lungenkrebs mithilfe KI-unterstützer Analysen sowie die Telemedizin in bestimmten Bereichen, wie z. B. im ambulanten Sektor.

Inwieweit sollte die Digitalisierung einerseits integraler Bestandteil während des Medizinstudiums sein und wie sollten Lehrende in die Prozesse der Digitalisierung einbezogen werden?

Digitalisierung ist ein Schlagwort und daher begrifflich etwas diffus, aber sie ist heute schon Alltag im klinischen Betrieb. Denken wir an die Analyse großer Datenmengen, die Entwicklung KI-gestützter Entscheidungsalgorithmen oder ein Instrument wie das App-basierte Home-Monitoring bei COVID-19. Große Datenmengen aus Medizin und Gesundheitsversorgung warten darauf, für eine zugeschnittene Diagnostik und individuelle Therapie nutzbar gemacht zu werden. Da ist einerseits der Mediziner gefragt, andererseits brauchen wir auch Medical Data Scientists, also Fachleute, die sich darauf spezialisieren, medizinische und Gesundheitsdaten zu extrahieren, zu managen, zu analysieren und daraus Wissen zu entwickeln. Sie müssen an der disziplinären Schnittstelle von Medizin und Informatik integrativ wirken. Die Medizinische Fakultät der RWTH Aachen bietet seit dem Wintersemester 2020/21 bspw. den neu entwickelten Masterstudiengang „Medical Data Science (M.Sc.)“ an, und ich bin froh, dass eine unserer Mitarbeiterinnen unter den ersten AbsolventenInnen ist.

Digitalisierung verändert also Forschung und Versorgung, erfordert aber auch interdisziplinäres Arbeiten. Was die Lehre betrifft: Technische Lösungen für das Lehren und Lernen unterstützen einerseits bei alltäglichen Problemstellungen in Studium und Lehre, wie das Nachvollziehen eines komplexen Sachverhalts mittels einer virtuellen Lerneinheit, oder auch die Einschätzung des Lernstandes einer Kohorte in einem rein digitalen Kurs. Andererseits finden diese technischen Lösungen bis hin zur Organisation ganzer Curricula oder Lehrverbünde Anwendung. Letztlich beinhaltet auch das simulative Lernen in den Skills-Labs einen hohen digitalen Anteil.

Die „Generation Internet“ konsumiert digitale Medien in sehr hohem Ausmaß. Sehen Sie darin Vorteile oder sollten wir davon lieber wieder etwas Abstand nehmen und uns mehr der klinischen Medizin zuwenden?

Es sollte jedem Menschen freigestellt sein, wie man den eigenen Medienkonsum austariert, das hat auch nach meinem Dafürhalten nichts mit dem beruflichen Selbstverständnis zu tun. Die permanente Verfügbarkeit von Informationen unterschiedlichster Güte könnte aber bisweilen suggerieren, dass die Arbeit als Mediziner dadurch irgendwie leichter werden würde – das halte ich, mit Verlaub, schlicht für falsch. Die eigenen Fähigkeiten sind immer die Summe kultivierter Routinen, sie reflektieren das Maß an investierter Übung. Wer zum Wohl der anvertrauten Patientinnen und Patienten klinisch tätig sein möchte, ist daher gut beraten, eine breite klinische Expertise und ein damit einhergehendes Können und eine profunde fachliche Urteilskraft aufzubauen. Das ist der Nukleus ihrer beruflichen Ausbildung und ein Prozess, der eben Zeit und Mühen erfordert. Der Lohn ist es dann, einen eben tollen wie anspruchsvollen Beruf ausüben zu dürfen.

Der zunehmende Kostendruck im Gesundheitssystem zeigt sich sowohl im klinischen als auch im niedergelassenen Bereich. In welchem Bereich sehen Sie positive Effekte dieser Optimierung?

Vielleicht eine Bemerkung vorweg: Der Kostendruck ist kein politisches Diktat, sondern hat ja eine handfeste Ursache. In unserem Gesundheitssystem gilt es, immer älter werdende Menschen vor dem Hintergrund eines rasanten medizinischen Erkenntnisfortschritts zu versorgen. Immer mehr Menschen benötigen also immer mehr Diagnostik und Therapie, die wiederum immer aufwändiger und damit teurer wird. Dass so ein demografisch unzureichend abgesichertes System auf Dauer finanzierbar gestaltet werden muss, liegt auf der Hand. Wie die diagnoseorientierten Fallpauschalen das deutsche Gesundheitssystem verändert haben und ob es zu den gewünschten Effekten kam, ist Gegenstand einer breiten sowohl gesellschaftlichen als auch wissenschaftlichen Debatte. Die Bilanz fällt dabei – je nach Standpunkt – sehr unterschiedlich aus. Natürlich hat so eine Entwicklung eine Reihe diskussionswürdiger Aspekte, auf der anderen Seite sehen wir aber, dass im Laufe der Jahre viele Prozesse, auch im Sinne der Patientinnen und Patienten, schlanker organisiert wurden. Zudem ist das Leistungsgeschehen transparenter und ein Bewusstsein für die nachhaltige Nutzung von Ressourcen entstanden. Umgekehrt verzeichnen wir Fehlentwicklungen, ein Beispiel dafür ist sicherlich der Pflegefachkräftemangel, der eine Ursache in der schleichenden Ausdünnung und Arbeitsverdichtung der letzten 15 Jahre hat.

Welchen Einfluss hat die Ökonomisierung auf Sie als Klinikdirektor?

Die wirtschaftliche Entwicklung, der Blick auf den Wettbewerb sowie auf Kosten und den Deckungsbeitrag sind Bestandteil meiner täglichen Arbeit als Direktor einer Klinik für Pneumologie und internistische Intensivmedizin. Jede Klinik verfügt über ein eigenes Budget, dessen Höhe sich wiederum an den Einnahmen bemisst und das mit dem Vorstand des Hauses mittelfristig geplant und gemeinsam fortgeschrieben wird. Dieses fließt wiederum in die Budgetverhandlungen des Gesamthauses mit den jeweiligen Krankenkassen ein und erzeugt dadurch einen Handlungsrahmen für die Leitung meiner Abteilung. Eine Uniklinik bietet dabei sicherlich andere Bedingungen als bspw. ein privater Träger. Davon ist grundsätzlich die klinische Arbeit auf der Station mit den Patientinnen und Patienten zu unterscheiden. Das ist ein genuin ärztlicher Verantwortungsbereich. Es ist unsere Aufgabe, mit unseren Teams für diese die beste Medizin anzubieten sowie eine nachhaltige Forschung und Lehre zu organisieren. Wir als Mediziner tragen hier stets die Letztverantwortung.

Wie gelingt es, jungen Kollegen einerseits Medizin vor Ökonomie und andererseits das Gebot der Wirtschaftlichkeit nahe zu bringen?

Vielleicht am besten dadurch, indem man hier keinen Widerspruch konstruiert, sondern so etwas wie ein produktives Spannungsverhältnis. Ich werbe bei unserem Nachwuchs dafür, dass wir die Entwicklungen der letzten 15 bis 20 Jahre nicht so verstehen, dass die Krankenhausmedizin schlicht strukturell unter die Herrschaft kaufmännischer und wettbewerblicher Prämissen geraten ist. Dafür ist, wiederum mit Verlaub, die wirtschaftliche Situation der meisten Uniklinika auch einfach zu prekär. Wir sollten vielmehr sehen, dass durch unsere neuen Managementaufgaben auch zusätzliche Optionen für die Gestaltung des Krankenhauses entstanden sind: Weiterentwicklung des Leitungsspektrums, Medizinstrategie, Investitionen und Unternehmensentwicklungen – wir können und sollten das mitgestalten. Es ist jetzt Teil unserer Aufgabe und ein spannendes Feld

In Zusammenhang mit Ökonomisierung fallen stets Begriffe wie etwa Qualitäts- und Effizienzsteigerung. Handelt es sich dabei um einen Widerspruch oder lassen sich diese Prinzipien miteinander kombinieren?

Wie gesagt: Eine längere Lebenszeit der Menschen, die alternde Gesellschaft und die damit einhergehende Multimorbidität stellen das Gesundheitswesen vor gewaltige kapazitäre und finanzielle Herausforderungen. Innerhalb einer sozialen Ordnung geht von den ökonomischen Grundprinzipien eine Lenkungsfunktion aus, die nicht nur den Sicherstellungsauftrag der Gesundheitsversorgung, sondern auch den dauerhaften Erhalt einer hohen Versorgungsqualität für die Bevölkerung gewährleistet. Gerade um dem Anspruch an eine hochwertige Medizin für alle gerecht zu werden, können und sollten sich Krankenhäuser und Arztpraxen einer wirtschaftlichen Führung und Verantwortung nicht entziehen. Eine bezahlbare und eine qualitativ gute Versorgung lassen sich auf Dauer eben nicht unabhängig voneinander erreichen.

Die Fragen stellten Dr. Julia Wälscher, Essen, und PD Dr. Christoph Fisser, Regensburg.


Zur Person
Prof. Dr. Michael Dreher studierte in Greifswald und Freiburg, mit studienbedingten Auslandsaufenthalten in Südafrika und der Schweiz.
Von 2005–2013 war er in der Klinik für Pneumologie des Universitätsklinikums Freiburg tätig, zuletzt als Oberarzt. 2014 folgte die Professur für Pneumologie an der RWTH Aachen. Prof. Dreher ist dort Direktor der Klinik für Pneumologie und Internistische Intensivmedizin (Medizinische Klinik V).



Publication History

Article published online:
14 September 2022

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  • Literatur

  • 1 Bahmer T, Wälscher J, Fisser C. et al. Pneumologischer Nachwuchs in Deutschland (Young Respiratory Physicians in Germany – Current Situation and Future Perspectives). Pneumologie 2021; 75: 761-775
  • 2 Marburger Bund Monitor 2019: Überlastung führt zu gesendheitlichen Beeinträchtigungen. www.marburger-bund.de/mb-monitor-2019 Stand: 20.12.2020
  • 3 Bahmer T, Wälscher J, Fisser C. et al. Young Pneumologists in Germany – working conditions in patient care and science. European Respiratory Journal 2020; 56: 4163
  • 4 Korzilius H. Deutsches Gesundheitssystem: Hohe Kosten, durchschnittliche Ergebnisse. Dtsch Arztebl 2019; 116: A-2283 /B-1873/C-1821
  • 5 Gündel H, Born M, Drews A. et al. Kaum Spielräume für Verbesserungen. Dtsch Arztebl 2020; 117: A-2281/B-1927