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DOI: 10.1055/a-1871-3480
Ausgewogenheit von Infektionspräventionsmaßnahmen
Das kürzlich durch den „Corona Sachverständigenrat“ veröffentlichte Gutachten zur Wirksamkeit der bisherigen Schutzmaßnahmen hat die Diskussion um deren Wirksamkeit und Notwendigkeit in der Gesellschaft erneut befeuert. Im medizinischen Sektor gehört es zum Alltag, sich kritisch mit diversen Empfehlungen auseinanderzusetzten. So müssen auch Maßnahmen zur Infektionsprävention ständig, und zwar nach Epidemiologie der betreffenden Erkrankung, überprüft und ggf. angepasst werden. Eine vergleichbare Dynamik wie in der SARS-CoV-2-Pandemie sehen wir im Krankenhaus i.d.R. im Rahmen von kurzfristigen Ausbrüchen oder Erregerhäufungen. Die Kommunikation der daraufhin häufig anzupassenden Präventionsmaßnahmen stellt im Krankenhaus eine ähnliche Herausforderung dar wie im öffentlichen Leben bei SARS-CoV-2.
Die Bewertung von Infektionspräventionsmaßnahmen im medizinischen Sektor (unabhängig von SARS-CoV-2) findet aber NICHT in einem vom Zusammenleben losgelösten wissenschaftlichen Raum statt. Auch hier bewegt man sich stets in einem Spannungsfeld zwischen konkurrierenden Interessen. Im Leben außerhalb des Krankenhauses betreffen diese konkurrierenden Interessen alle möglichen Bereiche des Alltags. Im Krankenhausbetrieb ist das etwas weniger komplex, dennoch weiterhin sehr anspruchsvoll. Viel gestritten wird über die Abwägung zwischen dem Infektionsschutz und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der Mitarbeiter*innen. Neben dieser prominenten Diskussion beschäftigt uns in der Krankenhaushygiene aber insbesondere die Abwägung zwischen Infektionsschutz und dem Schutz der Patienten vor Nachteilen, die eben aus der Umsetzung von Infektionspräventionsmaßnahmen erwachsen können.
Die Bewertung von Infektionspräventionsmaßnahmen im Krankenhaus erfolgt in vielen Krankenhäusern mehr oder weniger streng auf der Basis von Empfehlungen aus einschlägigen Gremien. Dieses Vorgehen hat aber bekannte Limitationen. Lokale Eigenheiten, kurzfristige Änderungen der epidemiologischen Gegebenheiten und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse können keine Beachtung finden. Wie kann man dieses Dilemma überwinden, die Empfehlungslücke schließen und nachvollziehbar eine objektivierbare Bewertungsbasis schaffen?
In der Rechtswissenschaft gibt es ein Kontrollinstrument, mit welchem Eingriffe des Staates systematisch nach ihrer Ausgewogenheit überprüft werden können und sollen. Es ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Die Systematik dieses Prinzips – analog angewandt auf die Bewertung von Infektionspräventionsmaßnahmen – ist meiner Meinung nach geeignet, um eine Einordnung im Rahmen des oben genannten Interessenausgleichs zu vollziehen. Ich möchte Ihnen daher im Folgenden das Verhältnismäßigkeitsprinzip kurz erläutern und es Ihrer Einschätzung überlassen, ob und wann Sie es nutzen, um lokale Präventionskonzepte zu bewerten und zu diskutieren.
Weitgefasstes Ziel des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist es, Interessenkonflikte zu harmonisieren. Betroffene Freiheiten sollen so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich eingeschränkt werden. Dabei müssen von Seiten der Krankenhaushygiene ausgewogene Regelungen für die häufigsten Situationen im Arbeitsalltag gefunden werden. Es kann nicht gelten, jedes erdenkliche Szenario zu regeln, sondern es muss die Freiheit für Ausnahmen geben, mit der auf besondere Situationen reagiert werden kann. Dies kann und muss im Einzelfall vom Personal vor Ort nach kurzfristiger Abwägung der Risiken getroffen werden.
Die systematische Prüfung auf Verhältnismäßigkeit teilt sich in die Prüfung auf Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit (auch Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne genannt) und könnte wie folgt auf Präventionsmaßnahmen im Krankenhaus angewandt werden:
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Die Eignung einer Infektionspräventionsmaßnahme ist gegeben, wenn diese kausal einen Schutz vor Infektionen bewirkt oder dem Erreichen dieses Zieles zumindest nützlich ist. Hierbei ist besonders auf den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung zu achten. Ein Beispiel: Es soll die Rate an postoperativen Wundinfektionen gesenkt werden. Geeignet wäre z. B. die Anpassung der präoperativen Antibiotikaprophylaxe an neueste Leitlinien, die Optimierung intraoperativer Abläufe oder die Optimierung der Abläufe des Verbandswechsels. Als ungeeignet könnte man die Platzierung von Desinfektionsmittel-getränkten Fußabstreifern vor dem OP-Saal nennen.
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Erforderlich ist eine Infektionspräventionsmaßnahme, wenn keine andere, mildere Maßnahme zur Verfügung steht. Diese Alternative müsste in gleicher oder besserer Weise dazu dienlich sein, die avisierten Infektionen zu verhindern, und dabei geringere Belastungen der Krankenhausabläufe und der Patienten mit sich bringen.
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Angemessen ist eine Infektionspräventionsmaßnahme, wenn die Nachteile, die dadurch entstehen, nicht überproportional zu den Vorteilen sind
Als Beispiel für Erforderlichkeit und Angemessenheit könnte man die Verhinderung von Erregerübertragungen in der Radiologie nennen. Die Aufbereitung des CTs durch einen Desinfektor nach jedem Patienten ist geeignet, Transmissionen zu verhindern. Allerdings behindert die damit verbundene temporäre Sperrung des CTs stark die Abläufe im Krankenhaus. Eine gleichsam wirksame Maßnahme stellt die Desinfektion der Kontaktflächen mittels Desinfektionstüchern durch das lokale Personal dar. Dieses Vorgehen verursacht keine Verzögerung von CT-Untersuchungen (geringere Belastung), ist gleich wirksam und damit auch „erforderlich“ im Sinne der Prüfung.
Patienten, die dringend eine Untersuchung benötigen, damit eine weitere, evtl. lebenswichtige Behandlung definiert werden kann, würden durch die temporäre Sperrung des CTs (nach jedem Patienten) gefährdet werden. Das allgemeine Infektionsrisiko ausgehend vom (nicht durch den Desinfektor aufbereiteten) CT stellt demgegenüber aber ein um ein vielfach geringeres Gesundheitsrisiko dar. Die Aufbereitung des CTs durch den Desinfektor nach jedem Patienten ist daher nicht „angemessen“ im Sinne der Prüfung. Damit wäre die geprüfte Infektionspräventionsmaßnahme zwar geeignet, aber weder erforderlich noch angemessen. Alternativ steht die unkomplizierte Desinfektion der Kontaktflächen zur Verfügung. Für seltene Ausnahmefälle müssen individuelle Lösungen gefunden werden.
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip kann in der systematischen Bewertung von Infektionspräventionsmaßnahmen hilfreich sein. Es kann aber nicht die unterschiedlichen Meinungen innerhalb eines Kollegiums auflösen und wird regelmäßig zu unterschiedlichen Schlüssen führen. Was bleibt, ist das individuelle Ermessen des Krankenhaushygienikers vor Ort, basierend auf der beruflichen Erfahrung, der Kenntnis der lokalen Abläufe und der aktuellen Evidenz in der Literatur. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viele lehrreiche Einblicke und Freude am Lesen dieser Ausgabe.
Ihr
Rasmus Leistner
Publication History
Article published online:
17 August 2022
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