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DOI: 10.1055/a-1866-4183
„…Mit einer kleinen Gewandheit…“ – Anmerkungen zur Geburtszange nach Mattei
Johann Lukas Boer (1751–1835), einer der führenden europäischen Geburtshelfer zu Beginn des 19. Jahrhunderts, schrieb 1834 in seinem Lehrbuch über den Gebrauch der Geburtszange: „…Eine große Anzahl Mütter und Kinder verdanken unbedingt ihre Erhaltung der Geburtszange, und der Hand des leitenden Künstlers. Es zeigt daher von einer unerklärbaren Schwäche, wenn einige Geburtsärzte behaupten wollen, man könne dieses Werkzeug ohne Nachtheil gänzlich entbehren…“ [1].
In der (deutschen) Geburtsmedizin des 21. Jahrhunderts gehört die vaginal-operative Entbindung mit Hilfe einer Geburtszange nahezu der Vergangenheit an. Zangenentbindungen nehmen, von einem sehr niedrigen Niveau kommend, weiter und stetig ab. So betrug z. B. der Anteil der Forcepsentbindungen an den Gesamteinlingsgeburten laut Berliner Perinatalerhebung 2008 0,3 und 2018 0,08%. Fast ausschließlich wird heute die Vakuumglocke zur operativen Geburtsbeendigung benutzt. Vor allem die Angst vor höhergradigen Dammrissen, vor bleibenden mütterlichen Beckenbodenschädigungen sowie andere medizinische und nicht-medizinische Faktoren dürften vor dem Hintergrund der großzügigen Kaiserschnittindikation in den letzten 3 Jahrzehnten dazu geführt haben, dass die Rate der Forcepsentbindungen deutlich zurückging und, dass dieses Geburtsverfahren heute auch kaum noch gelehrt wird. Die Geburtszange wird sich also bald in die Gruppe vergessener geburtshilflicher Instrumente, wie das Amnioskop oder der Beckenzirkel, einreihen.
Daher (oder dennoch) soll nachfolgend an ein besonderes Zangenexemplar, das sich in der geburtshilflichen Instrumentensammlung der Berliner Charité befindet, erinnert werden: Der französische Geburtshelfer Antoine Mattei (1817–1881) [2] präsentierte der französischen l’Académie de Médicine am 24. Juni 1853 ein von ihm konstruiertes Instrument, das er als „Leniceps“ bezeichnete [3] ([Abb. 1]). Es handelt sich um eine sog. ungekreuzte bzw. Parallelzange ohne Schloss, die relativ klein ist und deren Löffel nur eine leichte Kopfkrümmung aufweisen ([Abb. 2]). Die beiden Löffel der Zange werden zunächst getrennt voneinander eingeführt und anschließend über einen zweigeteilten Querbalken aus schwarzem Horn miteinander verbunden, an dem sich zumeist 3 Zapfen bzw. entsprechende Zapfenlöcher in einem Gegenstück des Griffes befinden, so dass eine Vereinigung beider Löffel in mehreren Positionen entsprechend der Kindskopfgröße möglich ist. Mattei gab an, bei der Verwendung der Zange keinen Assistenten zu benötigen, welcher ihm die einzelnen Teile anreiche, und dass sein Instrument ein geringeres Verletzungsrisiko als andere Zangenmodell aufweise [4] ([Abb. 3]).
1862 wurde in der „Zeitschrift für Wundärzte und Geburtshelfer…“ der Matteische Leniceps in einem vierseitigen Beitrag vorgestellt, der heutige Leserinnen und Leser wegen der Vorstellung Matteis, man könne nahezu unbemerkt bei einer nicht informierten Schwangeren eine Forcepsentbindung durchführen, erstaunt: „Die Zange findet seit einiger Zeit Gegner, deren Angriffe bemerkt zu werden verdienen […] Dr. Mattéi hat der medcinischen Academie eine Zange gezeigt, welcher er den wohlklingenden Namen Leniceps giebt im Gegensatz von Forceps (fortiter capiens) [dt.: entschlossen fange, d. Verf.], welches die Idee einer mit einer gewissen Kraft wirkenden Zange in sich schliesst. Nach dem Verfasser fasst die Lenicpes mit schonender Rücksicht, ohne die Mutter zu erschrecken und ohne dem Kind Gewalt anzuthun (leniter capit) [dt.: sanft fasse, d. Verf.]. Der Name spricht, wie man sehen wird, der Sache. Mattei sagt, dass die Frau vor der Anwendung der Zange oft zurückschreckt, rührt vom Anblick eines so ungeheuren Instruments, wie die gewöhnliche Zange ist, und ebenso von dem Gedanken, dass sie sich einer grossen Operation unterwerfen soll, und endlich von den Vorbereitungen, die gemacht werden müssen […] … Die Leniceps kann im Gegentheil, wofern nicht der Kopf über dem oberen Beckeneingang sind befindet, ohne die Frau in ihrem Bett zu stören, und ohne es ihr zu sagen und sie vollkommen aufzudecken, angewendet werden. Mit einer kleinen Gewandheit kann man die Operation beginnen und vollbringen, ohne dass sie vermuthet, dass man ihr anstatt dem untersuchenden Finger mit einem Instrument nachhilft. […] Eine Commission … wird den Werth des Instruments prüfen, welches nach der Erfahrung des Autors einer glücklichen Bestimmung entgegen geht…“ [6].
Natürlich ist in diesem Zusammenhang, wie stets bei der Betrachtung von Vergangenem, der zeitliche, gesellschaftliche und medizinische Kontext zu beachten, um nicht vorschnell den Stab über unsere geburtshilflichen Vorväter, „auf deren Schultern wir stehen“, zu brechen.
Publication History
Article published online:
13 October 2022
© 2022. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Boer JL. Sieben Bücher über natürliche Geburtshülfe., gedruckt bey den Edlen von Ghelen´schen Erben. Sechstes Buch. Von schweren Kopfgeburten und dem Gebrauche der Zange. Wien 1834; S. 328-360
- 2 Zimmer M. L´aide-mémoire du médecin-accoucheur Antoine Mattei. Histoire des sciences médicales. Avr.-Mai-Juin 2007; S. 214-220
- 3 Mattei A. Description of the leniceps. Lancet 1859; i 151
- 4 Ingerslev E. Die Geburtszange – eine geburtshilfliche Studie. Verlag von F. Enke. Stuttgart. 1891
- 5 N.N. Forceps. Catalogue and report of obstetrical and other instruments exhibited at the conversazione of the Obstetrical Society of London, held by permission at the Royal College of Physician. 1866, S. 96
- 6 C.H. Miscellen. Auszüge. LIV. Neues Entfernungs-Mittel, um die Geburtsarbeit zu erleichtern. Zeitschrift für Wundärzte und Geburtshelfer im Auftrage des Vereins württembergischer Wundärzte und Geburtshelfer 1862; 15: 180–183