Zeitschrift für Palliativmedizin 2022; 23(04): 171-172
DOI: 10.1055/a-1742-1925
Editorial

Suizidhilfe und Suizidprävention aus der Sicht der Palliativversorgung

Liebe Leserin, lieber Leser,

vor über zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht den § 217 StGB für nichtig erklärt, das Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Sterben als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gestärkt und betont, dass dieses Grundrecht auch das Recht, Hilfe zum Suizid in Anspruch zu nehmen, beinhaltet. Aufgrund der Corona-Pandemie findet die öffentliche Diskussion über Suizidassistenz verzögert und in Wellen statt. Aktuell intensiviert sich die Diskussion wieder, da in der Zwischenzeit drei überfraktionelle Gesetzesentwürfe vorliegen und im Juni im Bundestag die erste Lesung für eine Gesetzgebung stattfand.

Die Zeit seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil 2020 blieb aber nicht ungenutzt. Innerhalb der DGP haben wir in vielen Foren wie dem letzten Kongress in Wiesbaden und mehreren DGP online-Dialogen intensiv und zum Teil auch kontrovers über das Thema Suizidassistenz diskutiert. Der DGP-Vorstand hat Empfehlungen zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidassistenz in der Hospizarbeit und Palliativversorgung entwickelt, mit 40 Gremien in der DGP abgestimmt und im Herbst 2021 veröffentlicht. Dort heißt es u. a., dass die Assistenz zum Suizid nicht zur Aufgabe der Hospiz- und Palliativversorgung gehört, d. h. es ist nicht Teil des Angebotsspektrums.[1] Das entlässt aber nicht jeden Einzelnen und jede Einzelne wie auch die Einrichtungen aus der Verantwortung, sich selbst zu positionieren, wie sie bei Anfragen oder in Einzelfällen zu einem Wunsch um Suizidassistenz stehen und inwieweit im Einzelfall Unterstützung (oder Hilfe) angeboten werden kann.

Auch die Bundesärztekammer und der Deutsche Ärztetag haben sich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt und die berufsrechtlichen Regelungen für Ärztinnen und Ärzte zur Suizidhilfe geändert.[2] Dabei wurde der umstrittene Satz in der Musterberufsordnung, dass Ärztinnen und Ärzte keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen, gestrichen. Gleichzeitig wurde aber betont, dass die Hilfe zur Selbsttötung nicht zur Ausübung des ärztlichen Berufs gehört.[3] In den Hinweisen der Bundesärztekammer zum ärztlichen Umgang mit Suizidalität und Todeswünschen heißt es, dass es eine freie und individuelle Entscheidung bleibt, ob sich ein Arzt oder eine Ärztin in einem konkreten Einzelfall dazu entschließt, Hilfe zur Selbsttötung zu leisten und an einem Suizid mitzuwirken.[3] Es wird aber auch unterstrichen, dass Gespräche über Todes- und Suizidwünsche, Leidenslinderung, Symptomkontrolle und Sterbebegleitung originär ärztliche Aufgaben darstellen.

Das Bundesverfassungsgericht hat es dem Gesetzgeber offengelassen, die Suizidassistenz mit einem Schutzkonzept im Rahmen einer neuen Gesetzgebung zu regeln. 2021 hat Bundesgesundheitsminister Spahn Institutionen und Verbände aufgerufen, ihre Vorstellungen und Vorschläge zu wesentlichen Eckpunkten einer möglichen Neuregelung der Suizidassistenz darzulegen. Die DGP hat sich auch mit an den Überlegungen beteiligt. In der Zwischenzeit liegen vom Bundesgesundheitsministerium und drei Gruppen aus dem Bundestag Gesetzesvorschläge für eine Neuregelung der Suizidassistenz vor. Bei kritischer Durchsicht dieser Gesetzesentwürfe fällt auf, dass jeder dieser Vorschläge erhebliche Fragen aufwirft, z. B. die Etablierung flächendeckender Beratungsstellen für Suizidassistenz mit unklarer Qualifikation, sehr unterschiedliche Wartefristen, Reduzierung auf eine Suizidmethode oder eine ausschließlich psychiatrische Einschätzung der Suizidwilligen. Letztlich würde jeder der vorgelegten Gesetzesentwürfe eine deutliche Verschärfung der jetzigen Situation und evtl. erneute Verfassungsbeschwerden nach sich ziehen. Trotzdem müssen Aspekte wie Schutz vor Missbrauch, Sicherung der Freiverantwortlichkeit oder Zugang zur Suizidhilfe geregelt werden.

Im Rahmen der Diskussionen haben sich in den letzten beiden Jahren zunehmend engere Kontakte zum Nationalen Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) entwickelt und wir profitieren gegenseitig durch den engen Austausch mit den Kolleg*innen aus der Suizidprävention. So haben wir gelernt, dass durch die Maßnahmen der Suizidprävention die Zahl der Suizide aktuell auf historischem Tiefstand ist oder dass Suizidwünsche (ähnlich wie in der Palliativversorgung) von Ambivalenz und zeitlicher Unbeständigkeit geprägt sind. Wir haben aber auch erfahren, dass die Suizidprävention in Deutschland weder gesetzlich verankert noch staatlich dauerhaft gefördert wird, sondern auf sehr viel ehrenamtlichem Engagement basiert. Da das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der Suizidassistenz nicht auf bestimmte Krankheits- oder Lebensphasen einschränkt, sondern grundsätzlich jeder Mensch das Recht auf Unterstützung beim Suizid hat, wird auch die Suizidprävention in Zukunft eine noch größere Rolle spielen. Zudem sehen wir Hospiz- und Palliativversorgung auch als eine Form der Suizidprävention. Daher hat das Bündnis von NaSPro und DGP in der Zwischenzeit gemeinsam mit dem Deutschen Hospiz- und Palliativverband und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention Eckpunkte für eine gesetzliche Verankerung der Suizidprävention formuliert, die Anfang Juni an alle Bundestagsabgeordneten versendet wurden.[4] Diese Eckpunkte enthalten beispielsweise Forderungen nach der Einrichtung einer bundesweiten Informations-, Beratungs- und Koordinationsstelle zur Suizidprävention, einer Finanzierung des Nationalen Suizidpräventionsprogramms und regionaler Netzwerke, aber auch den Ausbau bestehender palliativer und hospizlicher sowie Trauerbegleitungsangebote.[4] In der Zwischenzeit werden auch Stimmen aus dem Bundestag laut, die neben der Regelung der Suizidassistenz eine gesetzliche Verankerung der Suizidprävention fordern!

Dieses Thema wird uns sicher in den nächsten Wochen und Monaten weiter begleiten und beim DGP-Kongress in Bremen wieder diskutiert werden!

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Prof. Dr. Claudia Bausewein
Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin



Publication History

Article published online:
04 July 2022

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