Klin Monbl Augenheilkd 2021; 238(03): 311-313
DOI: 10.1055/a-1288-1027
Offene Korrespondenz

Wie kann die Prozentangabe des Sehvermögens im Strafrecht durch den medizinischen Sachverständigen nach dem aktuellen Stand der Medizin gehandhabt werden?

How Can the Percentage of Vision in Criminal Law be Handled by the Medical Expert According to the Current State of Medicine?
1   Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde Universitätsmedizin Greifswald, Deutschland
,
Klaus Rohrschneider
2   Augenklinik, Universitätsklinikum Heidelberg, Deutschland
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Hintergrund

Der Begriff Sehvermögen umfasst die Gesamtheit aller Funktionen des Auges u. a. Sehschärfe, Gesichtsfeld, Farbensehen sowie das Adaptionsvermögen und ist in seiner Leistung altersabhängig. Der wichtigste Faktor zur Beschreibung des Sehvermögens des Auges ist die Sehschärfe. Mit ihr wird das Auflösungsvermögen des Auges dokumentiert, 2 eng stehende Punkte getrennt wahrzunehmen. Die Trennschärfe bezeichnet die untere Grenze des optimalen Auflösungsvermögens. Die Sehschärfe steigt bei zunehmender Leuchtdichte bis ca. 100 cd/m2 an und bleibt dann weitgehend konstant bis 10 000 cd/m2 [1]. Mit weiterer Zunahme der Helligkeit treten Blendungsphänomene auf und es kommt wieder zur Abnahme [2]. Um Veränderungen der Sehschärfe nicht nur festzustellen, sondern auch vergleichbar zu machen, erfolgt die gutachtliche Sehschärfeprüfung mit Landolt-Ringen nach der EN ISO 8596 bzw. der DIN 58220 [3], [4]. Die bei dieser psychophysischen Schwellenprüfung ermittelte Visusstufe ist in logarithmischer Progression abgestuft. Dezimale Sehschärfewerte nach DIN (Normalzahlreihe R 10 nach DIN 323 Teil 1) sind allerdings für Juristen keine griffigen Größen, weshalb der medizinische Sachverständige auch immer wieder (in Versuchung gerät) um Angabe des Funktionsverlustes in Prozent gebeten wird. Die Prozentangabe als eine Hilfsmaßeinheit zur Beschreibung der verbliebenen Sehschärfe ist allerdings, wie im Folgenden dargestellt, kein taugliches Mittel zur Verdeutlichung bestimmter Zusammenhänge und Beschreibung der Funktionsfähigkeit des Sehorgans. Wesentlich geeigneter ist die Information über personalisierte Beeinträchtigungen der Aktivität oder Partizipation. Hier sei dem augenärztlichen Sachverständigen die Orientierung an der ICF-Klassifikation (ICF: International Classification of Functioning, Disability and Health), die die Teilhabe am gesellschaftlichen/alltäglichen Leben widerspiegelt, empfohlen und Angaben wie z. B. „ist nicht mehr fahrtauglich“, „kann noch lesen“ usw. [5].

Es gibt jedoch auch Rechtsbereiche wie das Strafrecht, in denen aufgrund der bisherigen Rechtsprechungsentwicklung eine Festlegung des medizinischen Sachverständigen auf Angabe der noch verbliebenen Sehschärfe in Prozent (Restfähigkeit) oder eines „Sehkraftverlusts“ unumgänglich sein kann. Wenn der augenärztliche Sachverständige hier Prozentangaben tätigt, müssen diese aber dem aktuellen Stand in der Augenheilkunde und naturwissenschaftlichen Überlegungen zur Teilhabebeeinträchtigung entsprechen und deshalb sachgerecht, plausibel und praktikabel sein. Vor diesem Hintergrund wird hiermit eine Definition der Bedingungen vorgestellt, die interdisziplinär einheitlich gebraucht werden können.



Publication History

Received: 06 May 2020

Accepted: 22 September 2020

Article published online:
26 November 2020

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  • Literatur

  • 1 Aulhorn E. Über die Beziehung zwischen Lichtsinn und Sehschärfe. Albrecht Von Graefes Arch Ophthalmol 1964; 167: 4-74
  • 2 Lachenmayr B, Friedburg C, Hartmann E, Buser A. Auge – Brille – Refraktion. 5. Aufl.. Stuttgart: Thieme; 2016
  • 3 Normenausschuss Feinmechanik und Optik (NAFuO) im DIN. DIN 58220 – 3. Sehschärfebestimmung–Teil 3: Prüfung für Gutachten. Berlin: Beuth; 2013
  • 4 Normenausschuss Feinmechanik und Optik (NAFuO) im DIN. Sehschärfeprüfung – Das Normsehzeichen und seine Darbietung (ISO 8596: 2009). Berlin: Beuth; 2009
  • 5 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information. Hrsg. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Neu-Isenburg: MMI, Medizinische Medien Informations GmbH; 2005
  • 6 Lange C, Feltgen N, Junker B. et al. Resolving the clinical acuity categories “hand motion” and “counting fingers” using the Freiburg Visual Acuity Test (FrACT). Graefes Arch Clin Exp Ophthalmol 2009; 247: 137-142
  • 7 Bach M, Kommerell G. Sehschärfebestimmung nach Europäischer Norm: wissenschaftliche Grundlagen und Möglichkeiten der automatischen Messung. Klin Monbl Augenheilkd 1998; 212: 190-195