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DOI: 10.1055/a-1213-9618
„Switched On“: UNESCO-Konferenz 2020 zur sexuellen Bildung im digitalen Raum
Wer sexuelle Fragen hat, sucht heute meist als Erstes im Internet. Denn dort lassen sich schnell und diskret vielfältige Antworten finden – auch zu heiklen und schambehafteten Themen. Aber ist diesen Antworten zu trauen? Können sich speziell Kinder und Jugendliche im digitalen Informationsangebot orientieren? Oder beziehen sie ihre sexuellen Informationen am Ende vor allem aus zweifelhafter Online-Pornografie? Derartige Fragen werden seit der Popularisierung des Internet in den 1990er-Jahren diskutiert. Mit der Verbreitung von Smartphones sind sie in jüngerer Zeit noch vordringlicher geworden. Vor diesem Hintergrund hat die UNESCO in Zusammenarbeit mit UNFPA EECARO, der International Planned Parenthood Federation (IPFF) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) das internationale Symposium „Switched On“ zur sexuellen Bildung im digitalen Raum einberufen: Vom 19. bis 21. Februar 2020 trafen sich rund 150 eingeladene Fachleute aus aller Welt in Istanbul, um sich über den Status quo und die zukünftige Entwicklung digitaler Sexualaufklärung auszutauschen (https://en.unesco.org/events/switched-sexuality-education-digital-space). Dabei waren nicht nur akademische und administrative Vertrete-r_innen des Bildungs- und Gesundheitssektors, sondern auch Fachleute der Technologie-Branche und nicht zuletzt viele junge Leute und Aktivist_innen, die digitale Angebote der sexuellen Bildung selbst entwickeln und betreiben. Im Englischen spricht man hier von Angeboten zu SRH (Sexual and Reproductive Health) bzw. SRHR (Sexual and Reproductive Health and Rights).
Aufklärungs-Websites
Eine klassische – aber nach wie vor aktuelle – Form der digitalen Informationsvermittlung ist die Website. Dementsprechend existieren im Bereich der sexuellen Bildung auch zahlreiche Aufklärungs-Websites. Die dänische Medienorganisation RNW Media (https://www.rnw.org/) beispielsweise unterstützt mit ihrem auf dem Symposium vorgestellten Programm „Love Matters“ den Aufbau von Aufklärungs-Websites speziell in Ländern und Regionen, in denen Sexualaufklärung tabuisiert ist. Dazu werden junge lokale Aktivist_innen ausgebildet, um die digitalen Angebote zu gestalten und zu betreiben. Bislang existieren entsprechende „Love Matters“-Websites für Indien (https://lovematters.in/en) und China (http://lovematterschina.com/) sowie für afrikanische (https://lovemattersafrica.com/) und arabische Länder (https://lmarabic.com/). Die Websites behandeln in knapper Form lebenspraktische Fragen rund um Liebe und Beziehung, Körper, sexuelle Vielfalt, Sexualität, Verhütung und Schwangerschaft sowie sexuell übertragbare Infektionen (STI). Die Nutzenden können Fragen stellen, die von der Website-Moderation beantwortet werden.
Ähnliche Elemente hat auch die türkischsprachige Website „Tabu Kamu“ (http://www.tabukamu.com/), die Sexualaufklärung kultursensibel vermitteln will. Rayka Kumru, Gesundheitsexpertin und Gründerin der Website, hat einen eigenen Ansatz entwickelt, der die verschiedenen inneren und äußeren Stimmen, die Jugendliche bei sexuellen Fragen zu hören bekommen, in Cartoon-Charakteren repräsentiert: „Tabu“ repräsentiert dabei die Sitten und Traditionen, „Emu“ die Gefühle, „Fufu“ die Leidenschaft, „Ku“ die Logik, „Ibu“ den Einfluss der Peers und „Kamu“ den Klatsch und Tratsch in der Öffentlichkeit. Anstelle des geläufigen Tipps „einfach auf die eigenen Gefühle hören“ empfiehlt die Website also, zunächst einmal ganz bewusst den verschiedenen Stimmen zu lauschen, sie gegeneinander abzuwägen und erst dann die eigene Entscheidung zu treffen. An der Website wirkt ein 26-köpfiges Team mit, größtenteils ehrenamtlich.
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Aufklärungs-Apps
In verschiedenen Sessions und im Foyer der Konferenz wurden Aufklärungs-Apps vorgestellt und diskutiert. Darunter etwa die preisgekrönte App „Ndolo360“, die von Mallah Tabot in Kamerun entwickelt wurde und bislang in englischer und französischer Sprache zur Verfügung steht (https://www.worldsummitawards.org/winner/ndolo360/). Egal, aus welcher Weltregion sie stammen, die Aufklärungs-Apps für Jugendliche und junge Erwachsene ähneln sich in ihrer Struktur sehr stark: Sie vermitteln grundlegendes Wissen zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und zugehörigen Rechten mittels kurzer Texte, Videos und Begriffsdefinitionen und prüfen das vorhandene Wissen spielerisch im Quiz-Verfahren. Zudem erlauben sie es den Nutzenden, Fragen zu stellen, die dann durch zugeschaltete Fachleute, Chatbots oder vorbereitete FAQs beantwortet werden. Ein wichtiges Element der Apps sind zudem die Verweise auf Offline-Anlaufstellen, etwa Hilfe-Hotlines bei sexueller Gewalt, Vergabestellen für Verhütungsmittel und Kliniken für die Versorgung bei STI oder ungewollten Schwangerschaften. Diese Anlaufstellen können z. B. auf einer lokalen Karte bei Google Maps dargestellt sein. Manche Apps sind noch im Aufbau, etwa „Sex eLimu“ (https://play.google.com/store/apps/details?id=ke.co.deafelimuplus.sexelimusignlanguage). Diese App übersetzt Begriffe rund um sexuelle Gesundheit – etwa Abtreibung, Vergewaltigung, Tampons oder erigierte Klitoris – in Gebärdensprache und liefert Begriffsdefinitionen.
Für die Akzeptanz von Aufklärungs-Apps ist es wichtig, dass sie leicht installierbar sind und nicht zu viel Datenvolumen verbrauchen, dass man sie ohne umständliche und namentliche Registrierung nutzen kann und dass sie kontextualisiert sind, also sprachlich und inhaltlich auf die Verhältnisse vor Ort eingehen. Eine Inhaltsanalyse des weltweiten Angebots an Aufklärungs-Apps aus dem Jahr 2017 hatte ergeben, dass nur 15 Apps auffindbar waren, die den Kriterien ganzheitlicher sexueller Bildung entsprechen ([Kalke et al. 2018]). Auf der „Switched On“-Konferenz 2020 waren bereits rund doppelt so viele Apps vertreten. Eine Herausforderung für die Aufklärungs-Apps – ebenso wie für die Aufklärungs-Websites – ist jedoch das Marketing: Oftmals haben nicht einmal Fachleute den Überblick über das aktuelle Angebot an seriösen Aufklärungs-Apps – geschweige denn die Zielgruppen. Denn die App-Stores bieten eine Flut an unbrauchbaren Apps.
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Aufklärungs-Influencer_innen
Neben Websites und Apps gehören Influencer_innen zu den zentralen Instanzen der sexuellen Bildung im digitalen Raum. Diese Social-Media-Persönlichkeiten verbreiten ihre oftmals sehr persönlichen sexuellen Aufklärungsbotschaften in Form von Cartoons, Memes und Videos über digitale Kanäle wie Facebook, Instagram, TikTok und YouTube.
Catherine Harry aus Kambodscha beispielsweise betreibt mit „A Dose of Cath“ einen mehrsprachigen Facebook-Kanal (https://www.facebook.com/adoseofcath/), dem mehr als 330 000 Personen folgen. Sie kritisiert stereotype Geschlechterrollen, spricht über Menstruation und teilt dabei ihre eigenen Erfahrungen mit starken Blutungen, thematisiert Selbstbefriedigung, sexuelle Doppelmoral und sexualisierte Gewalt. In Kambodscha sind das bis heute Tabuthemen. Viele Freund_innen hat sie verloren, erzählte Cath auf der Konferenz, weil diese ihre feministischen Beiträge „zu extrem“ fanden. Rückendeckung erhält sie von ihrer Mutter und natürlich von den Fans.
Nika Vodvud aus Russland hat den russischsprachigen YouTube-Kanal „NixelPixel“ (https://www.youtube.com/channel/UC2GQig8tlmGFq2Wp2tj_Jbw) geschaffen. Mehrere Millionen Menschen haben ihre vom intersektionalen Feminismus inspirierten Videos zu weiblicher Selbstbefriedigung, zur Menstruationstasse, zu toxischen Paarbeziehungen und zu positivem Körperselbstbild angeschaut. In ihren Videos sieht man ihr unaufgeräumtes Zimmer und ihre unrasierten Beine, denn verstellen will sie sich nicht. Zuweilen arbeitet sie mit Sponsoren zusammen, doch den Großteil ihres Einkommens verdient sie als freiberufliche Zeichnerin. Zudem unterstützen ihre Fans sie mit monatlichen Spenden auf Patreon (https://www.patreon.com/nixelpixel).
Hayden Royalty ist eine amerikanisch-koreanische YouTuberin, die Queerness hinsichtlich sexueller und geschlechtlicher Identität lebt und bespricht. Sie produziert ihre englischsprachigen Videos in Seoul und hat mit ihrem YouTube-Kanal (https://www.youtube.com/c/HaydenRoyalty/videos) knapp 15 000 Abonnements gesammelt. Es geht um Coming-out, Paarbeziehungen, Selbstbefriedigung, LGBTIQ-Rechte, Safer Sex und ihre Erfahrungen als Mobbing-Opfer. Die Kommentarfunktion unter ihren Videos ist deaktiviert – dem ständigen Online-Hass will sie sich nicht aussetzen.
Hannah Witton ist eine britische Bloggerin, deren YouTube-Kanal (https://www.youtube.com/channel/UC6iWKC08iw9K-R6Wh5pbZNQ) es in den vergangenen acht Jahren auf mehr als 600 000 Abonnements gebracht hat. Ihre meistgeklickten Videos beschäftigten sich mit den Nachteilen großer Brüste, mit Selbstbefriedigung, vergangenen Sexual- und Beziehungspartnern, sexuellen Fantasien und Pornografie. Seit 2018 lebt sie mit einem künstlichen Darmausgang und ihre Videos zum Thema Stoma stoßen auf große Aufmerksamkeit.
Die Psychologin und Sexologin Cecilia Ce aus Argentinien hat einen spanischsprachigen Instagram-Auftritt mit mehr als 400 000 Abonnements aufgebaut (https://www.instagram.com/lic.ceciliace/), über den sie Sexualaufklärung mit Memes, Cartoons, anatomischen Zeichnungen, Fotos und kurzen Texten vermittelt. Es geht um sexuelle Techniken, Safer Sex, sexuelles Einvernehmen, Veränderungen nach Schwangerschaft und Geburt und Paarkommunikation.
Die fünf Beispiele illustrieren das Spektrum der Influencer_innen, bei denen es sich tatsächlich meist um Frauen oder um genderqueere Personen handelt, die eine sexpositive, inklusive und feministische Perspektive auf Sexualaufklärung vermitteln. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie selbst vor der Kamera erscheinen, persönliche Erfahrungen teilen und als Rollenmodelle fungieren. Dabei bringen sie unterschiedliche Formen der Expertise mit: Einige sind zertifizierte Fachkräfte im Bereich Gesundheit und Sexualität, andere sind Aktivistinnen und aktive Mitglieder sexueller Szenen, wieder andere sind Medienprofis mit einem Hintergrund in TV-Moderation oder Social-Media-Marketing. Im Unterschied zu Apps und Websites, die meist auf Team-Projekten basieren, arbeiten die Aufklärungs-Influencer_innen nicht selten völlig eigenständig und entwickeln ihren Content von der Idee über das Drehbuch, die Produktion, den Schnitt und die Community-Betreuung im Alleingang
In vielen Diskussionen auf der Konferenz wurden die Influencer_innen für ihre Pionier-Arbeit gelobt und auch gefragt, welche Unterstützung sie sich eigentlich wünschen, um erfolgreich weitermachen zu können. Die Antworten waren recht eindeutig: Viele kämpfen um die Finanzierung ihrer engagierten Social-Media-Profile und wünschen sich finanzielle Unterstützung. Wettbewerbe und Stipendien-Programme für qualitätsvolle Aufklärungs-Influencer_innen wären hier denkbar. Da die Content-Produktion in Eigenregie ohnehin sehr aufwändig ist, wünschen sich viele Influencer_innen auch Zugang zu sexualwissenschaftlicher und medizinischer Expertise (etwa in Form eines anfragbaren Expert_innenteams im Hintergrund), um ohne eigenen Rechercheaufwand den neuesten Forschungsstand zum jeweils behandelten Thema unterbringen zu können. Ein großes Thema für viele Influencer_innen ist nicht zuletzt der Umgang mit Online-Hass und Online-Zensur. So haben die Plattform-Betreiber Facebook Inc. (Facebook, Instagram), Twitter Inc. (Twitter) und Google LLC (YouTube) eigene Community-Regeln, die oft willkürlich gegen aufklärerischen sexualbezogenen Content eingesetzt werden. Emanzipatorischer Content im Internet wird von rechten Gruppierungen, Hater_innen und Trollen oft einfach dadurch bekämpft und ausgeschaltet, dass sie die jeweiligen Social-Media-Profile in einer konzertierten Aktion dutzendfach als „pornografisch“ oder anderweitig „unangemessen“ melden, woraufhin diese dann wochenlang gesperrt werden, ohne dass die Influencer_innen die Chance haben, den genauen Grund der Sperrung zeitnah zu erfahren und die Sperre wieder aufheben zu lassen. Denn die Social-Media-Plattformen bieten auch den reichweitenstarken Influencer_innen keine direkten Ansprechpersonen. Ihre Rückfragen zu Sperrungen verlaufen also meist im Sande.
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Ausblick
Einigkeit bestand auf der Konferenz dahingehend, dass digitale Sexualaufklärung weltweit ein wichtiges neues Instrument sexueller Bildung darstellt. Mehr Vernetzung und Unterstützung für die bereits aktiven digitalen Sexualaufklärer_innen und Projekte scheint notwendig, insbesondere sollte die Zusammenarbeit mit den Plattform-Betreibern verbessert werden. Vielleicht können die UNESCO und World Health Organization (WHO) politischen Druck ausüben, damit Google LLC, Twitter Inc. und Facebook Inc. sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte in den von ihnen bereitgestellten digitalen Räumen besser fördern. Notwendig ist auch mehr Forschung zu digitaler sexueller Bildung. Bislang liegen kaum empirische Studien zu Produktionsbedingungen, Inhalten und Inhaltsqualität, Nutzung und Wirkung von digitaler Sexualaufklärung vor. Das gilt insbesondere für die ganz jungen Zielgruppen: Viele der auf der Konferenz präsentierten Websites, Apps und Influencer_innen richten sich an junge Erwachsene von 18 bis 25 oder gar 30 Jahren, einige an Jugendliche. Dabei sind natürlich in Sozialen Medien heutzutage Kinder ab zehn Jahren aktiv. Wie ist das Kriterium der altersangemessenen Sexualaufklärung im digitalen Raum umzusetzen? Was wissen wir überhaupt darüber, ob und wie Kinder die vorhandenen digitalen Aufklärungsangebote rezipieren: Was googeln sie zum Thema „Sex“? Welche sexualbezogenen YouTube-Videos schauen sie? Welchen Reim machen sie sich auf den Content? Mit wem können sie darüber sprechen? Antworten auf solche Fragen blieb die Konferenz schuldig, auch wenn die Fachleute übereinstimmten, dass Verbote dysfunktional sind und die Medienkompetenz der Kinder zu fördern ist.
Bekräftigt wurde in den Abschlussrunden des Symposiums immer wieder ein Aufklärungsansatz, der nicht problem- und angstzentriert, sondern sexpositiv und lustzentriert ist. Dabei wurden sogar Brücken zwischen Pornografie und sexueller Bildung geschlagen: „The Pleasure Project“ (https://thepleasureproject.org/) und die „Sex School“ (https://sexschoolhub.com/) sind Projekte, welche die Ethik, Kreativität und Explizitheit alternativer Pornografie mit sexuellen Bildungsbotschaften verbinden. Die Session, in der diese Projekte vorgestellt wurden, war die meistbesuchte der ganzen Konferenz.
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Interessenkonflikt
Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- Kalke KM, Ginossar T, Shah SFA. et al. Sex Ed to Go: A Content Analysis of Comprehensive Sexual Education Apps. Health Educ Behav 2018; 45: 581-590
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Publication History
Article published online:
16 September 2020
© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York
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Literatur
- Kalke KM, Ginossar T, Shah SFA. et al. Sex Ed to Go: A Content Analysis of Comprehensive Sexual Education Apps. Health Educ Behav 2018; 45: 581-590