manuelletherapie 2019; 23(03): 100
DOI: 10.1055/a-0903-9175
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nachruf Prof. (USA) Dr. hc. Freddy M. Kaltenborn

Ein ganz großer Manualtherapeut ist von uns gegangen!
Jochen Schomacher
,
Matthias Zöller
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Publication Date:
19 July 2019 (online)

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(Quelle: D.S. Creighton)

Freddy Kaltenborn war einer der größten Manualtherapeuten, der die Manuelle Therapie für Physiotherapeuten weltweit mit aufbaute. Am 2. Mai verstarb er friedlich im Alter von 96 Jahren in seinem Wohnort Scheidegg im Allgäu.

Kaltenborn lernte als Sportlehrer und Physiotherapeut bei Ärzten wie Mennell, Cyriax, Stoddard und dem Anatomen McConnail weiter. Er stellte seine Manuelle Therapie im Jahr 1954 erstmals vor. Nie verlor er seine Neugierde und sein Streben, immer besser zu werden. So wurde er Lehrer für Orthopädische Medizin nach Cyriax (seit 1955), für Chiropraktik in der deutschen Ärztegesellschaft (FAC und dann DGMM seit 1958) und für Osteopathie (seit 1971). Seine Manuelle Therapie entwickelte er seit 1968 gemeinsam mit seinem Kollegen und Freund Olaf Evjenth kontinuierlich weiter und integrierte die Fortschritte der Medizin und Forschung.

Im Jahr 1973 gründete er mit Maitland, Grieve und Paris die IFOMT, in der er viele Jahre aktiv war. In Amerika erhielt er 2 Professuren in Biomechanik für osteopathische Ärzte (1977) und Physikalische Therapie (1984). 2001 kamen 2 Ehrendoktorwürden hinzu. Mehrere physiotherapeutische und ärztliche Fachgesellschaften ernannten ihn zum Ehrenmitglied.

Seine beiden Bücher zur Manuellen Therapie der Extremitäten und der Wirbelsäule wurden weltweit zur „Bibel“ für Manualtherapeuten. Bis zuletzt arbeitete er gemeinsam mit seiner Frau an ihrer Aktualisierung.

In Deutschland erreichte Kaltenborn, dass Physiotherapeuten die Weiterbildung in Manueller Therapie absolvieren konnten: seit 1967 an den Extremitäten und seit 1979 an der Wirbelsäule. Auf sein Betreiben hin wurde ab 1986 erstmalig eine OMT-Weiterbildung nach IFOMT (heute: IFOMPT) -Standard durchgeführt. Deutschland wurde seine Wahlheimat, wo er seine Frau und mit ihr sein Lebensglück fand.

Unvergessen wird Kaltenborn den Kollegen bleiben, die ihn persönlich erleben durften. Seine absolute Begeisterung für die Manuelle Therapie schien nie zu ermüden. Ob an den Patienten oder im Unterrichtsraum, beim Festessen oder am Strand in den Ferien: die Manuelle Therapie war sein ständiger Begleiter. Von ihm konnten wir lernen, dass eine Sache um so interessanter wird, je intensiver wir uns mit ihr beschäftigen. Die arthrokinematische Funktion(sstörung) war ihm primär wichtig, die Struktur sekundär. Wir, die nachfolgende(n) Generation(en), sind nun für die wissenschaftliche Fundierung verantwortlich.

Als talentierter Lehrer schaffte Kaltenborn es immer wieder, seine Faszination für die Manuelle Therapie auf seine Schüler zu übertragen. Aufgrund seines Blicks für das Wesentliche wurde er oft als „Prof. KISS“ bezeichnet (Keep it simple and stupid). Komplizierte Sachverhalte stellte er verständlich dar und erkannte im Nu bei Patienten das Problem, das es zu lösen galt.

Wie kein anderer konnte er manipulieren. Nicht zu Unrecht kritisierte er die wissenschaftlichen Studien mit ihren Zweifeln an der Wirksamkeit der Manipulation dahingehend, dass die Forscher nicht gut manipulieren würden. Doch wer konnte das schon so gut wie er? Er hatte das Talent, den Charakter, die Leidenschaft und die Energie zum unermüdlichen Üben dieser Technik. Mit diesen Eigenschaften beherrschte er die Manipulation wie Paganini die Violine.

Für die Patienten besaß er „heilende Hände“ und „heilende Worte“ und konnte ihnen einen hoffnungsvollen Weg aus ihren Schwierigkeiten weisen. Neben Manipulation und Mobilisation wandte er z.B. Übungen, Training, Heimübungen und einfühlsames Führen der Patienten an – alles klar reflektiert und heute unter Begriffen wie Clinical Reasoning und Empowerment zunehmend wissenschaftlich bestätigt.

Wer Kaltenborn begegnete, blieb nicht unberührt. Er war eine Persönlichkeit und ein energischer Kämpfer für seine Sache, die Manuelle Therapie. Einigen war er unbequem, was unvermeidbar ist, wenn man Entwicklung vorantreiben will. Und das schaffte er, indem er die Manuelle Therapie in die Physiotherapie fest integrierte. Bei Vielen – und besonders den hier Unterzeichnenden – prägte er den beruflichen Werdegang. Ohne ihn wären wir nicht da, wo wir heute sind. Mit ihm und seinem Lebenswerk gewannen wir Zufriedenheit und Zuversicht in unserem Beruf. Dafür danken wir ihm zutiefst.

Du lebst weiter, Freddy: in unser aller Köpfen, Herzen und Händen!