Z Sex Forsch 2019; 32(02): 119-120
DOI: 10.1055/a-0892-0178
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Das Bordell

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Publication Date:
06 June 2019 (online)

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Mit seinen „historischen und soziologischen Beobachtungen“ des Bordells legt der Weimarer Mediensoziologe Andreas Ziemann keine kurze Geschichte des Bordells vor, sondern zeigt vielmehr, dass und wie sich bestimmte Positionen im Diskurs um die Bordellfrage über große historische Zeiträume behaupten und trotz gesellschaftlichen Wandels immer wieder reproduzieren. Der Bordellfrage widmet sich Ziemann am Leitfaden der Frage sozialer Ordnung, fragt „nach den Entstehungs- und Legitimationsgründen des Bordellwesens“ und versucht, „verschiedene Funktionszuschreibungen frei[zu]legen und […] dies mit dem jeweiligen Zeitgeist [zu] verbinden“ (S. 7). Dabei zielen seine Analysen auf „Gegenwartsorientierung“ ab, da sich die aktuellen Debatten um Bordell und Prostitution nur vor dem Hintergrund historischer Diskursformationen verstehen ließen. Prinzipiell seien regulative, prohibitive und (neo-)abolitionistische Positionen zur Bordellfrage unterscheidbar: Erstere sähen in der (Bordell-)Prostitution ein „notwendiges Übel“, das kaserniert und kontrolliert werden müsse, die Zweiten zielten auf ein Verbot der Prostitution, während Dritte die Prostitution abschaffen wollten, gleichzeitig aber ihre Entkriminalisierung befürworteten und für „Freiheit in der Liebe“ einträten (S. 9).

Vor allem in vier historischen Epochen sei die Bordellfrage besonders virulent geworden: Nachdem im 15. Jahrhundert städtische Bordelle eingerichtet wurden, trete die „‚Bordellfrage‘“ in Form von „konkreten Zweifeln an der städtisch legalisierten Prostitution in eigens dafür eingerichteten Häusern[,] erst mit dem beginnenden 16. Jahrhundert“, also im Gefolge der Reformation, auf (S. 145). Im 19. Jahrhundert werde die Bordellfrage besonders bedeutsam und werde als „Großstadtphänomen und Großstadtproblem eigener Art“ (S. 146) und gleichzeitig in einer „Überschneidung“ des „Prostitutions- und des Neurastheniediskurs[es]“ (S. 88) sowie der Syphilisangst als sozialhygienisches Problem wahrgenommen. Der sich parallel entwickelnde Degenerationsdiskurs leite zur dritten großen Thematisierung der Bordellfrage in der NS-Zeit über. In bzw. seit den 1990er-Jahren vollziehe sich schließlich „auf historisch einmalige Weise […] ein Perspektiv- und Paradigmenwechsel“ (S. 147), der die Bordellfrage im Prostitutionsgesetz vom 2002 und dem neuen Prostitutionsschutzgesetz von 2017 zu einem (vorläufigen?) Abschluss bringt. Der historische Verlauf zeige einen „signifikante[n] Wechsel in der Beobachtungslogik der Prostitution: vom frühen Sittlichkeitsparadigma über das Kriminalitätsparadigma des 19. Jahrhunderts hin (zur Debatte) zum Berufsparadigma in jüngster Zeit. Parallel lässt sich über alle Jahrhunderte hinweg die Sorge und normative Abwehr gegenüber spezifisch der (Bordell-)Prostitution zugeschriebenen Ansteckungen feststellen“ (S. 149). Um „die Semantiken, Metaphern und Argumentationsstrukturen unterschiedlicher historischer Quellen und entsprechender Sprecherpositionen aufzudecken“ und zugleich „verschiedene geschichtliche Stationen der Einrichtung wie auch Abschaffung von Bordellen in ihrem soziokulturellen Kontext zu rekonstruieren“ sowie „die räumlichen Strukturen und soziale Praxis des Bordells und insbesondere den heterotopischen Charakter dieser Institution auszulegen“ und schließlich „dem gegenwärtigen Prostitutions- und Bordelldiskurs eine Pluralität und Multiperspektivität antagonistischer Sprecherpositionen, moralischer Einstellungen und politisch-juridisch-medizinischer Argumentationsführungen gegenüberzustellen beziehungsweise zu offerieren“, wählt Ziemann eine „diskursanalytisch inspiriert[e]“ Vorgehensweise (S. 9).

Während die Institutionalisierung städtischer „Frauenhäuser“ im 15. Jahrhundert der Aufrechterhaltung der sozialen wie moralischen Ordnung dienen sollte, gerät dieses Modell im Zuge der Reformation in die Kritik, da „man […] der irdischen Sündenpraxis und -toleranz auf keinen Fall länger Vorschub leisten“ wollte (S. 35). Vielmehr „suggerierte“ man nunmehr „allen ehrhaften und sittlichen Bürgern, von einer latenten Gegenwelt bedroht zu sein“ (S. 36). Diese Logik der Ausbreitung und (moralischen) Ansteckung(-sgefahr), die den Kern einer „neue[n] bürgerliche[n] Sorge respektive Moralkampagne“ (S. 37) bildete, leite den Versuch einer „klare[n] Zonierung und Domestizierung (der Prostitution, Anm. von S. L.) unter städtischer Obhut“ an (S. 38). „Kontrollierte[.] Kasernierung“ werde zum Lösungsmodell, „um der für gefährlich erachteten Nähe zwischen Stadtbewohnern und Dirnen Herr zu werden“ (S. 39). Der Versuch, Prostitution staatlich bzw. städtisch zu institutionalisieren, statt zu verbieten, und das Frauenhaus „als Instrument räumlicher […] und (später, Anm. von S. L.) säkularer sittlicher Ordnung“ zu nutzen, sei nicht primär ökonomisch motiviert gewesen, sondern diente primär ordnungs- wie moralpolitischen Interessen. Insofern galt das „Frauenhaus“ als „notwendiger wie nützlicher Bestandteil des Gemeinwesens“ (S. 44). Das Ende der Institution des Frauenhauses verdanke sich jedoch nicht der Syphilis, sondern „der Veränderung der Stadtordnung, des Moralsystems und der Ausgrenzung der Huren und Hübscherinnen“, die durch ein Zusammenspiel von Zünften, Reformpredigern und bürgerlicher Obrigkeit vorangetrieben wurden: „Die spätmittelalterliche Stigmatisierung der Prostitution ist letztlich nur aufgrund jener abgestimmten und kombinierten Maßnahmen erfolgreich gewesen“ (S. 46). Das Frauenhaus verliere seine „Funktion und Bedeutung als Komplementärinstitution“ (S. 51), da Sexualität nun nicht nur kontrolliert und reglementiert, sondern ausschließlich auf den Rahmen der Ehe beschränkt wurde.

In der englischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts lässt sich eine implizite Fortschreibung der utilitaristisch anmutenden Konzepte des 15. Jahrhunderts erkennen: Neben philosophisch abgestützten (auch sexuellen) Liberalisierungstendenzen tauchen funktionalistisch-utilitaristische Überlegungen zur Regelung des Sexuellen (wieder) auf: So werde argumentiert, dass „die Bordellprostitution […] mehr Nutzen und sozialen Frieden schaffe […], als sie an Gefahr bedeute“ (S. 55). Ziemann erkennt hier eine „utilitaristische Sexualökonomie, in der stabilisierte Moral, politisch geregelter Personenverkehr und soziale Ordnung zusammenkommen“ (S. 61). Bemerkenswerterweise findet sich aber auch hier (noch) nichts zur Syphilis, da erst im 19. Jahrhundert die Medizin „eine ausgediente laissez-faire-Moral ebenso wie ein protestantisches Denken und Urteilen über Krankheiten als Strafe Gottes [verdrängt und überlagert], und die Politik (nun, Anm. von S. L.) sorgsamer denn je auf den Volkskörper“ achtet: „Dass man vor moralischer und venerischer Ansteckung schützen müsse, wird zum zeitgemäßen Credo“ des 19. Jahrhunderts (S. 65, Hervorh. im Orig.). Den Höhepunkt der Bordellfrage verortet Ziemann im 19. Jahrhundert, das durch die Entwicklung von Großstädten gekennzeichnet ist und in dem sich sozialhygienische (Syphilis!), ordnungs- und sittenpolitische Perspektiven verbinden. Insbesondere in Deutschland korreliere „das breite öffentliche Räsonnement (über Sexuelles, Anm. von S. L.) mit dem ideologischen Ziel, die gesteigerte sexuelle Unruhe einzuhegen und Lust und Unzucht aus der Öffentlichkeit zu verdammen“ (S. 67). Zwar spalteten sich die Diskurse „in: rechtliche, religiöse, moralische, politische, erzieherische, ökonomische, massenmedial populäre, medizinische und anderweitig wissenschaftliche“ auf (S. 68). Frappierend sei jedoch einerseits, dass die vorgebrachten Argumente von „enormer Redundanz“ seien, und andererseits, „dass die Debatte nicht selten Erfahrungen und Beschreibungen anführt, die bereits Jahrhunderte zuvor die einschlägigen Schriften und politischen Entscheidungen bestimmt haben. […] Statt eines Bruchs mit den alten Zeiten und Werten [wie er in der Moderne zu erwarten wäre, Anm. von S. L.] manifestiert die Prostitutionsdebatte eine eigentümliche Konstanz und Wiederholung“ (S. 68, Hervorh. im Orig.). Der Diskurs bewegt sich größtenteils weiterhin zwischen den Polen Verfolgung und Bestrafung einerseits und Regelung und Duldung als „kleineres Übel“ andererseits. Während das „bürgerlich-liberale Credo“ des 19. Jahrhunderts laute, dass „kontrollierte Bordelle […] die sexuell-ästhetische Unruhe im öffentlichen Raum [minimieren] und […] dem männlichen Begehren gesonderte Zonen zu[weisen]“ (S. 91), bringt die nämliche Epoche „das neue Diskursgefüge und den Argumentationskomplex von Perversion-Vererbung-Entartung“ (S. 94, Hervorh. im Orig.) hervor und erfindet „im Rahmen der ‚kriminellen Anthropologie‘“ die „degenerierte[.] Prostituierte[.]“ (S. 95), von der eine Gefahr für die Gemeinschaft bzw. den Volkskörper ausgehe. Hieran schließt nicht zuletzt die Thematisierung der Bordellfrage in der NS-Zeit an.

Im Anschluss an die historischen Kapitel widmet sich Ziemann dem Bordell als heterotopischer Institution im Sinne Foucaults, also als Geheim- und Gegenort. Das Bordell versteht er dabei sowohl als architektonische wie soziokulturelle Konstruktion als auch als empirische Praxis und fokussiert auf „das Bordell als wirklichen Raum und Wirkraum zwischen städtischer Realität einerseits und kultureller Utopie und kollektivem Mythos andererseits. Diese Sichtweise und komplexe Bedeutungslogik machen das Bordell zu einem heterotopischen Fall“ (S. 111). Mittels einer „methodischen Mischung aus Situationsanalyse, Sozialreportage (in der Tradition der Chicago School) und Ethnografie, im Speziellen einer Ethnografie des Bordells als Heterotopie“ (S. 112), untersucht Ziemann schließlich exemplarisch die heutige Bordelllandschaft und schließlich die aktuelle Prostitutionsgesetzgebung.

Als besonders bemerkenswert sticht im historischen Verlauf heraus, dass das Bordell „als Ort […] auf signifikante Weise eine jener Heterotopien [ist], die konstant geblieben sind und institutionell überdauern“ (S. 123). Ziemann versucht, diesen Befund mit den dem Bordell zugeschriebenen „(Entlastungs-)Funktionen“ zu erklären: „Solange diese Funktionen nicht von anderen Institutionen übernommen werden und solange nicht andere Wertbindungen und Verhaltenserwartungen in der gesamten Sphäre der Erotik und Sexualität etabliert und mit nachhaltiger Geltung durchgesetzt werden, wird der Typus des Bordells auf unabsehbare Zeit Bestand haben“ (S. 123). Allerdings versäumt es Ziemann an dieser Stelle, konsequent zwischen dem Überdauern des Bordells und dem Überdauern der Bordellfrage zu unterscheiden. Sofern zudem das Bordell auch ein fiktiv aufgeladener Ort ist, ließe sich nicht zuletzt auch die Annahme seiner Konstanz in Zweifel ziehen – als Institution mag es bestehen bleiben, aber eben nicht als identisches Phänomen. Im Bordell überschneiden sich freilich, wie Ziemann zeigt, über die historischen Epochen hinweg eine Vielzahl von Diskursen und Regulierungen: Das Bordell ist „nie einfach nur ein klandestiner, mythisch besetzter Ort der Lustentfaltung und der Gegenort zur häuslichen Ehegemeinschaft. Es ist vielmehr auch ein Ort der Geschlechter- und Körpermacht, der Hygienearbeit, der polizeilichen Verfügung, der bürokratischen Verwaltung und der unternehmerischen Ökonomie. Die heterotopische Analyse macht deutlich, dass das Bordell in eine Reihe jener Architekturen gehört, die strategischen Überlegungen und Zielen dienen, welche um die Ordnung, das Wohlbefinden und die Reproduktion der Gesellschaft kreisen – von Seiten der Verächter wie auch der Verteidiger“ (S. 131). In seinem Parforceritt durch die Sozial- und Diskursgeschichte der Bordellprostitution gelingt es Ziemann, bemerkenswerte Kontinuitäten in den Debatten über die Bordellfrage aufzuzeigen und so Möglichkeiten zu eröffnen, aktuelle Auseinandersetzungen sowohl zu kontextuieren als auch kritisch zu beleuchten. Freilich leidet der Band an seinem geringen Umfang, sodass Ziemann seine Argumentation auch dort nur schlaglichtartig plausibilisieren kann, wo eine eingehendere Befassung mit dem historischen wie soziologischen Material wünschenswert wäre. Auch kommen mindestens zwei für die Geschichte und Gegenwart der Prostitution und des Bordells entscheidende historische Entwicklungen entschieden zu kurz: die Etablierung des modernen kapitalistischen Wirtschaftssystems einerseits und der allgemeine sexuelle Wandel (insbesondere des 20. Jahrhunderts) andererseits. Gleichwohl bietet der Band mannigfache Anregungen, Einblicke und Irritationen sowohl für Befürworter_innen als auch Gegner_innen „des kleineren Übels“ der Bordellprostitution.

Sven Lewandowski (Bielefeld)