Z Sex Forsch 2019; 32(02): 116-118
DOI: 10.1055/a-0892-0151
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Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik

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06 June 2019 (online)

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(© Suhrkamp Verlag)

Die letzten beiden Bände, die eine Gesamtschau der Geschichte von HIV/Aids in Deutschland versuchten, erschienen im Jahre 2000, offenkundig auch der Jahrhundertwende symbolisch Tribut zollend. Es sind dies der von Ulrich Marcus (Epidemiologe am Robert Koch-Institut, Berlin) herausgegebene Sammelband „Glück gehabt?“ und der von den Sozialwissenschaftlern Rolf Rosenbrock und Michael T. Wright herausgegebene Sammelband in englischer Sprache „Partnership and Pragmatism“. Im Gegensatz zu diesen beiden Sammelbänden konzentriert sich Martin Reichert, Journalist bei der „taz“, auf die Geschichte der Epidemie, wie sie von homo- und bisexuellen Männern erlebt wurde. Diese stellten und stellen zwei Drittel der von HIV/Aids betroffenen Personen in Deutschland. Eine solche Eingrenzung ist durchaus sinnvoll, unterscheiden sich doch die beiden anderen Hauptbetroffenengruppen, die intravenös (i. v.) konsumierenden Drogengebrauchenden und Menschen aus Subsahara-Afrika, zumeist sehr in ihren Lebenswelten von homo- und bisexuellen Männern.

Martin Reichert gibt seiner Analyse die Form eines historischen Berichts, einzelnen Kapiteln ordnet er Passagen aus ausführlichen Interviews zu, die er im Kontext seiner Recherchen geführt hat. Sein erstes Kapitel zur Frühzeit von HIV/Aids in der alten Bundesrepublik enthält z. B. Interviews mit dem Verleger Bruno Gmünder, dem Journalisten Jan Feddersen und dem Regisseur und „Panorama“-Programmleiter der Berlinale Wieland Speck, alle drei schon in der Schwulenbewegung der 1970er-Jahre aktiv. Das zweite Kapitel zur Entwicklung der HIV/Aids-Präventionspolitik in den 1980er-Jahren umschließt u. a. ein Interview mit der damaligen Gesundheitsministerin Rita Süssmuth und mit dem Sexualwissenschaftler Martin Dannecker. Seine historische Analyse gliedert Reichert analog zu den Fortschritten in der Entwicklung antiretroviraler Medikamente. Das dritte und vierte Kapitel der Publikation referieren deren Erfolge seit Mitte der 1990er-Jahre bis hin zu den Möglichkeiten der Prä-Expositionsprophylaxe, auf antiretroviralen Medikamenten basierend, deren Einnahme nicht-infizierte Personen weitgehend vor einer Infektion mit HIV schützt.

Reichert zeichnet anhand der Biografien von Gmünder, Feddersen und Speck Aspekte der Schwulenbewegung der alten Bundesrepublik in den 1970er-Jahren nach, einschließlich der Gründung bestimmter (West-)Berliner „Institutionen“ wie des Schwulenzentrums (Schwuz) und der Buchhandlung Prinz Eisenherz, die beide heute noch bestehen. Er schildert mit diesen Interviews auch den Einbruch von Aids in die Lebenswelten schwuler Männer. Bruno Gmünders langjähriger Partner Christian von Maltzahn stirbt 1997; berührend sind Gmünders Schilderungen, wie sehr er um die Lebensqualität seines Partners bis zu dessen Tod kämpfte. Wieland Speck berichtet, wie er mehrere Sommer hindurch sterbende Freunde im Krankenhaus begleitet hat: „Aids hat mich rund zehn Jahre meines Lebens gekostet. Und dann die Erschöpfung danach“ (S. 64). Das Interview mit dem Journalisten und Autor Axel Schock gibt Reichert die Gelegenheit aufzuzeigen, wie Eltern die Homosexualität und die Todesursache Aids nach dem Tod des Sohnes ungeschehen machen wollten. Schock verlor seinen Freund, als er 25 war. Dieser wollte auf dem Alten St.-Matthäus-Friedhof in Berlin-Schöneberg beerdigt werden. Sein Vater sorgte jedoch dafür, dass er in seiner norddeutschen Heimatstadt beigesetzt wurde. Der Vater vernichtete auch das Testament des Sohnes, das Axel Schock berücksichtigte, und behauptete, dass es gar keins gäbe. „ Zur Beerdigung bin ich mit einer gemeinsamen Freundin gefahren. Der Pfarrer erweckte in seiner Trauerrede den Eindruck, als wäre sie seine Lebensgefährtin gewesen. Und dass er an Krebs gestorben sei […]. Ich wurde aus der Trauergemeinschaft regelrecht hinausgeworfen. Ich fühlte mich in dieser Situation sehr allein – auch meine Mutter konnte mir nicht helfen, sie war ja schon damit überfordert, dass ich schwul war“ (S. 189). Viele der von Reichert festgehaltenen Berichte bestätigen die schon von Michael Pollak zu Beginn der Aids-Krise in Frankreich dokumentierte Erfahrung eines Krankenhausarztes mit den Eltern von sterbenden Söhnen: „Vor dem Tod weichen sie, aber sie akzeptieren nicht [die Homosexualität des Sohnes, Anm. von M. B.].“

Mit seinen Interviews gelingt es Reichert, nicht nur Exemplarisches in den Biografien von schwulen Männern in der Aids-Krise aufzuzeigen. Auch viel Zeitgeschichtliches wird auf diese Weise berichtet. Der „Spiegel“-Artikel zu Aids im Sommer 1983 habe dem „Einschlag eines Kometen“ in der Schwulenszene geglichen (S. 17). Das Interview mit Martin Dannecker gibt Reichert Gelegenheit, aus Danneckers offenem Brief an den „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein zu zitieren: “Im ‚Spiegel‘ wird seit nunmehr vier Jahren ein antihomosexueller und minderheitenfeindlicher Fortsetzungsroman veröffentlicht. Von diesen haben sich Abertausende in ihrem Selbstgefühl beleidigt und in ihrer Angst bestätigt gefühlt. Ein solches Stück, so haben Sie anlässlich der Diskussion um das Schauspiel von Fassbinder geschrieben, dürfe nicht gespielt werden. Bitte sorgen Sie in Ihrem eigenen Haus für das Absetzen der menschenfeindlichen Berichte über die von Aids so schrecklich gebeutelten sozialen Minderheiten“ (S. 108). Über Aids kam es zum Bruch zwischen Martin Dannecker und Rosa von Praunheim. Während Praunheim in seiner Panik den Aids-Hilfen vorwarf, zu lasche Safer-Sex-Empfehlungen zu geben und zu wenig auf deren Einhaltung zu achten, beharrte Dannecker darauf, dass für viele Männer eine durchgängige Kondombenutzung eine starke Einschränkung des sexuellen Erlebens bedeute. „Menschen fällt es schon schwer, sich regelmäßig die Zähne zu putzen, um sich vor Karies zu schützen“ (S. 113). Zu Recht arbeitet Reichert die bedeutsame Rolle von Rita Süssmuth, CDU-Gesundheitsministerin in den entscheidenden Jahren von 1985 bis 1988, heraus. Bei allen erheblichen Differenzen zu Martin Dannecker arbeitete auch sie gegen die Panik und stellt im Interview noch einen bemerkenswerten Vergleich an: „Es gibt Situationen, da versinken Menschen vor Ratlosigkeit in Angst – es ist wie bei der Flüchtlingskrise“ (S. 101). Wie sehr die Ministerin in der damaligen Situation strategisch gedacht hat, wird deutlich in ihrer lakonischen Bemerkung, dass ihr reaktionärer Antipode, der Staatssekretär im bayerischen Innenministerium Peter Gauweiler, nützlich gewesen sei, da er aufzeigte, was politisch vollkommen unangemessen gewesen wäre (S. 105).

Martin Reichert gelingt mit seinem Buch eine informative Zeitreise durch die drei Jahrzehnte, die auf 1983 folgten, dem Jahr der erstmaligen öffentlichen Thematisierung von HIV/Aids in der Bundesrepublik. Hervorzuheben ist, dass er ein eigenes Kapitel dem Thema HIV/Aids in der DDR widmet. Er erinnert daran, dass die DDR Studierende aus den sozialistischen Bruderländern nur einreisen ließ, wenn diese einen negativen HIV-Test vorlegen konnten, und dass in der DDR arbeitende Mosambikaner und Angolaner ausgewiesen wurden, wenn bei ihnen eine HIV-Infektion festgestellt wurde. Reichert versäumt ebenfalls nicht aufzuzeigen, wie sich die repressiven Kontrollstrategien in der DDR, im sozialdemokratischen Schweden und im katholischen Bayern ähnelten. Die Innovationen, die die Aids-Prävention in der alten Bundesrepublik bewirkte, werden gewürdigt. Lange vor der Einführung der eingetragenen Partnerschaft erlaubte es z. B. das Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Berlin, dass die Lebensgefährten von schwer kranken oder sterbenden Männern bei ihnen im Krankenhaus übernachteten. Die Aids-Krise führte zur Bereitstellung öffentlicher Mittel, wie dies vor 1985 undenkbar gewesen wären: „Alle möglichen Initiativen, von den schwulen Überfalltelefonen über Stricherprojekte bis hin zu Fortbildungsstätten wie der Akademie Waldschlösschen, würden in der heutigen Form wohl kaum existieren, hätte es die Aids-Krise nicht gegeben“ (S. 172). Aids habe auch in anderen Bereichen innovative Ansätze befördert, wie das Absehen von einem rigiden Abstinenzgebot bei i.v.-Drogenkonsument_innen mit dem Verteilen von Einwegspritzen oder dem Einsatz von Methadon in Substitutionsprogrammen, Maßnahmen, die allerdings in der Schweiz und in den Niederlanden deutlich früher als in der Bundesrepublik durchgeführt wurden.

Seine Interviews hat Reichert mit Empathie und Sorgfalt durchgeführt. Kritisiert werden kann, dass die allermeisten der Interviewpartner seiner eigenen Lebenswelt schwuler Mittelschichtsmänner angehören. Eine Ausnahme bildet das lange Interview mit dem Arzt Hans Wesselmann, dem Leiter des medizinischen Versorgungszentrums mit dem Schwerpunkt HIV, das auf dem Gelände des Berliner Virchow-Klinikums im Stadtteil Wedding liegt. Die Hälfte der Patient_innen sind schwule Männer, die andere Hälfte besteht u. a. aus heterosexuellen Migrant_innen und Prostituierten. Über ein Drittel der Patient_innen beziehen Hartz IV. Die Schilderung der Versorgung, die das medizinische Zentrum bietet, gibt gleichzeitig Aufschluss über die relativ gute Versorgung von HIV/Aids-Patient_innen in Deutschland. Reichert stellt allerdings fest: „Die Aids-Katastrophe ist zum Verwaltungsakt geworden, zum ‚HIV-Komplex‘. Ein Abrechnungsmodus für chronisch Kranke, das bedeutet Extrageld […]. Bei so viel Geld wollen die Krankenkassen es ganz genau wissen, daher die aufwendige Dokumentation“ (S. 148). Damit ist ein Aspekt der Studie von Reichert angesprochen, der zuweilen irritiert. Es ist der manchmal etwas getragene Ton, zu dem er sich wohl verpflichtet fühlt, angesichts des Leidens der während der Aids-Krise so früh gestorbenen schwulen Männer und der Einsamkeit vieler Überlebender, die den Verlust des Lebensgefährten oder enger Freunde schwer verarbeiten konnten oder sich auch bis heute nicht damit abfinden können. Dieses Leiden möchte Reichert in Erinnerung rufen, seine Erinnerungsarbeit soll eine Mahnung wegen versäumter Trauerarbeit sein. Seine Studie basiert auf einer zentralen Annahme, die er seiner Einleitung in programmatischen Sätzen voranstellt: „Für jüngere Schwule um die zwanzig ist Aids ungefähr so weit weg wie der zweite Weltkrieg […]. Doch für mindestens eine Generation von schwulen Männern waren die achtziger und frühen neunziger Jahre eine Zeit, die schwere Traumatisierungen hinterlassen hat. Ihre Erlebnisse haben die meisten von ihnen jedoch fest in einer Kapsel verschlossen, die sie mit sich herumtragen, samt all den Erinnerungen an jene dunkle Zeit“ (S. 7). Reichert beklagt eine konsequente De-Thematisierung von HIV/Aids, nicht nur bei den Generationen, die die Aids-Krise direkt miterlebten, sondern auch bei den nachfolgenden Generationen und vor allem auch bei denen, die sie als HIV-Infizierte überlebten. An anderer Stelle merkt Reichert an: „Als die Scherben weggefegt waren, kam das Schweigen. In den schwulen Freundeskreisen redete man nicht mehr über das, was geschehen war“ (S. 67). Als einen Grund für das Schweigen sieht er „schwulen Selbsthass […], verursacht durch internalisierte Homophobie oder auch ‚Homonegativität‘“ (ebd.) an. Reichert zitiert hier zustimmend eine Vermutung von Wieland Speck, die dieser im Interview äußert. Sowohl an der These der De-Thematisierung von HIV/Aids seit dem Ende der1990er-Jahre wie an ihrer Begründung durch internalisierte Homonegativität müssen starke Zweifel geäußert werden. Gemessen an anderen lebensbedrohlichen Krankheiten wie Krebs, die eine ungleich größere Anzahl von Todesfällen im Jahr fordern, ist die Präsenz von HIV/Aids in den Medien, im Bewusstsein der Bevölkerung und vor allem auch vieler schwuler Männer nicht zu übersehen. Dass sie häufig routinehaft erfolgt wie zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember, bei Charity-Veranstaltungen oder anlässlich der internationalen Aids-Konferenzen, ist kein Beleg für die De-Thematisierung von Aids. Am Ende seines Buches stellt Reichert die Frage, „warum die Älteren nie etwas erzählt haben über die Zeit der Aids-Krise“ – um sie für sich so zu beantworten: „Weil niemand nachgefragt hat, auch ich nicht“ (S. 255). Ob Reichert nicht nachgefragt hat, mag dahingestellt bleiben; dass von anderen schwulen Männern (und nicht nur diesen) nachgefragt wurde und wird, belegen die Veranstaltungskalender der queeren Stadtmagazine in Berlin, Hamburg, München und Köln, um nur die großen deutschen Schwulenmetropolen zu nennen. Literarische Zeugnisse deutscher schwuler Autoren, wie die von Mario Wirz, Detlev Meyer, Napoleon Seyfarth und Christoph Klinke, von Fritz J. Raddatz in unsäglicher Arroganz als „Gossenliteratur“ (S. 187) abqualifiziert, sind keineswegs in Vergessenheit geraten. Dass junge Schwule Aids als eine schon ferne Geschichte betrachten, kann auch positiv wahrgenommen werden. Aids hat seinen Schrecken verloren, selbst wenn neu festgestellte HIV-Infektionen bei den Betroffenen häufig noch Angst und Panik auslösen. Mit HIV-Infektionen, Reicherts Studie belegt es sehr gut, kann heute anders umgegangen werden als Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. Das ist keineswegs gleichbedeutend damit, die schweren Zeiten zu vergessen, und vor allem kein Indikator für internalisierte Homonegativität.

Möglicherweise überschätzt Reichert auch das Ausmaß der Betroffenheit durch HIV/Aids unter den homo- und bisexuellen Männern in Deutschland. Bei einer im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchgeführten Befragung homo- und bisexueller Männer im Jahre 1991, also noch zu den Hochzeiten der Aids-Krise, gab ein Drittel der befragten Männer an, dass sie weder selbst infiziert seien, noch in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis Männer mit HIV kennen würden. Da diese Befragung (wie auch andere in der Reihe) keine Repräsentativbefragung war, sondern vor allem sozial und sexuell besonders aktive schwule Männer erreichte (die Fragebögen wurden durch Monatsmagazine für schwule Männer verteilt), ist davon auszugehen, dass der Prozentsatz der schwulen Männer, die selbst oder in ihrem sozialen Umfeld nicht von HIV/Aids betroffen waren, erheblich höher lag. Homo- und bisexuelle Männer waren und sind in Deutschland deutlich weniger von HIV/Aids betroffen (auch wenn die neuen Bundesländer ausgeklammert werden) als z. B. in Kalifornien oder New York in den USA. Ein Vergleich von Berlin mit San Francisco, einer Großstadt mit ca. 880 000 Einwohnern, mag dies verdeutlichen. Bis 2016 wurden in Berlin mit einer vierfachen Bevölkerung ca. 5 000 Personen verzeichnet, die an den Folgen der Immunschwäche starben (davon ungefähr zwei Drittel homo- und bisexuelle Männer), in San Francisco waren es bis zum Jahr 2016 etwas mehr als 20 000 Personen (davon fast drei Vierteil homosexuelle Männer). Auch in dieser Perspektive ist es unwahrscheinlich, dass die Gesamtheit der schwulen Männer in Berlin oder in Deutschland, in gleichsam posttraumatischer Lähmung, die Folgen der Aids-Krise verleugnen muss. Dabei war und ist (West-)Berlin, neben den anderen Schwulenmetropolen Hamburg, München, Köln und Frankfurt, im deutschen Vergleich von HIV/Aids besonders betroffen. Die Mehrzahl der schwulen Interviewpartner von Reichert leben oder lebten in Berlin.

Selbst wenn die zentrale These in der Studie von Martin Reichert angezweifelt werden kann, ändert das nichts an dem Wert seiner Studie, eine solche fehlte bisher. Und auch wenn er mit seiner Hauptthese irren mag, irrt er gewiss auf hohem Niveau.

Michael Bochow (Berlin)