Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/a-0861-7911
Gabriela Adameșteanu: Verlorener Morgen
Die rumänische Suche nach der verlorenen ZeitPublication History
Publication Date:
12 June 2019 (online)
1914, Professor Mironescu im Gespräch mit seinem Studenten (in der Familienvilla, im Salon mit der Klematis-Terrasse): „…Und erscheint es dir nicht auch, mein Lieber, dass aus so viel Pragmatismus und so viel Ironie nationale Ideen und Illusionen nur sehr schwer hervorgehen können? Oder, wenn sie doch entstehen, dann ist doch zu erwarten, dass wir sie sehr leicht wieder verlieren, schon bei der ersten Versuchung der Geschichte? Gerade erst ist der Himmel aufgeklart und bei der ersten Wolke wird die Sonne wieder verschwinden. Ein schöner Morgen…verdorben…verloren…“ (S. 326).
1980, Ivona (Yvonne), Professor Mironescus Tochter beim Kaffee mit Vica, ihrer ehemaligen Näherin (am selben Ort, aus dem Salon sind zwei Zimmer geworden): Seit einer Stunde denke ich immer: Soll ich ihr heute das Geld geben, vor der Rente? Soll ich es vom Boiler-Geld nehmen? Soll ich es ihr eine Woche vorher geben und riskieren, dass sie dann immer früher kommt? Aber wenn nicht, dann muss ich in einer Woche zur Post gehen – wieder so ein Aufwand, noch mehr Mühe. (…) Ich habe sowieso schon den ganzen Morgen wegen ihr verloren! Ein verlorener Morgen! (S. 473).
Das Buch erschien 1983 im Original und wurde nun erstmals von Eva Ruth Wemme aus dem Rumänischen ins Deutsche übersetzt. Es spannt einen soziohistorischen Bogen von über 60 Jahren. Das Portrait der wohlhabenden Familie Mironescu bildet den Kern des Werkes (Teil 2 und Teil 3, die 1914 und 1916 spielen), der von der Geschichte von Vica und ihrem Mann (Teil 1 und Teil 4, 1980) gerahmt wird. Wie in zeitversetzten, doch miteinander verwobenen Kammerspielen werden anhand dieser Figuren die Verwerfungen einer zunächst jungen und später korrupten Nation sichtbar gemacht – inklusive der Narben, die diese im Leben hinterlassen. Und wie in allen bedeutenden Romanen spielen sich kleine und große familiäre Tragödien ab. Hier sind sie eingebettet in politische Umwälzungen oder werden durch diese hervorgerufen – die mal die eine, mal die andere Seite ins Lager, ins Gefängnis bringen (auf schwer erklärliche Weise kommen die Einen wieder heraus, die Anderen hingegen nicht). Am Ende scheint der Pragmatismus zu siegen: der Neffe Vicas übergibt dem Arzt einen Umschlag, damit seine Tante im Krankenhaus bleiben kann, da sie, mittlerweile Witwe, kein Geld (und keine Kraft) mehr hat, Holz für ihren Ofen zu besorgen.
Nicht nur inhaltlich ist das Buch brillant. Der Autorin (und der Übersetzerin, die den Preis der Leipziger Buchmesse 2019 in der Kategorie Übersetzung erhielt) gelingt es durch die Polyphonie der Stimmen in Dialogen, Gedanken, Tagebuchaufzeichnungen, Träumen etc. die jeweiligen Welten einzufangen. Die verlorene Zeit ist durchwirkt mit französischen Einsprengseln, der lingua franca der kultivierten rumänischen Gesellschaft. Die Fülle dieses Wortschatzes kontrastiert hart mit der sprachlichen Armut und der Grauheit der 1980er Jahre. Die Verbannung der Familie Mironescu in das Dachgeschoss ihres Hauses (während Funktionäre – Petruţa und ihr Mann – die Bel-Etage bewohnen) zeigt sich am Endpunkt als erlernte Hilflosigkeit („tu te laisse faire“) bei Yvonne/Ivona, der selbst der Name verstaatlicht wurde.
In der Welt von Gestern tändelte die kleine Yvonne um das Serviertischchen (und ihren Vater) herum, riskierte den Bruch des 5-Uhr-Tee-Porzellans, bis sie vom Personal aus der hall entfernt wurde. Als national homogenisierte Ivona erzählt sie Vica: „Ich sehe noch, wie Mutti immer anfing: Petruţa, das Tischchen mit den Rollen und das Serviertischchen in deinem Zimmer sind Erinnerungsstücke, die mir viel bedeuten … Wenn du bitte gut darauf achtgeben würdest … Sie wollte sie eigentlich darauf hinweisen, nicht mehr die Ölflasche und das nasse Geschirr und die gerade erst vom Herd genommen Töpfe darauf zu stellen! (…) Aber glaub nicht, dass die keine Antwort parat hatte! … Jetzt red’ste schon wie meine Mutter! Das war Petruţas Antwort: Meine Mutter tut auch ihr ganzes Zeugs leid, das sie hat, jetzt‘ mach es weg, Mama, verbrenn’s Mama, das is‘ zu nichts mehr nütze! Das kannst du doch gar nicht alles sauber halten! Ja, ja, sagt Mama, und macht eben doch, was sie will! So sind die alten Leutchen, denen bedeutet alles was, was sie so im Haus haben, das eine erinnert sie an dies, das andere an das …“ (S. 442).
Als die Funktionäre eine bessere Bleibe finden, möchte Yvonnes Mutter die Tischchen zum Restaurieren geben. Doch der Tischler ist bereits verstorben.
Prof. Dr. Maria Borcsa, Leipzig