Notfall & Hausarztmedizin 2007; 33(7): 347
DOI: 10.1055/s-2007-985668
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der Arzt vor Gericht

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Publication Date:
03 August 2007 (online)

Frau Dr. M., Fachärztin für Allgemeinmedizin, erhält wegen unterlassener Hilfeleistung vom Landgericht L. eine Geldbuße über 9000 Euro. Von der Möglichkeit des Widerspruchs ist die Rede, aber ganz klar ist ihr nicht, um was es überhaupt geht. Der Schock sitzt tief, sie ist sich keiner Schuld bewusst. Ihr fällt ein, dass sie sich vor zwei Monaten geweigert hatte, eine ihrer schwer kranken alten Patientinnen „wegen einer Exsikkose” in das Städtische Krankenhaus einzuweisen. Ja, da gab es einen Streit mit dem Pflegepersonal des Altenheims; man könne „die Verantwortung nicht mehr übernehmen”. Alle Fragen kommen jetzt auf einmal! Verliere ich meine Approbation, darf ich weiter in meiner Praxis arbeiten? Und: Was muss ich tun? Wer hilft mir jetzt? Widerspruch, natürlich, aber wie? Ihre übervolle Landpraxis harrt der Aufgabenbewältigung. Wochenenddienste schieben sich dazwischen. Es ist ihr unmöglich, ihre Praxis vorübergehend zu schließen. Wer hat da etwas gegen mich? Wer will mir schaden? Warum habe ich denn die Patientin nicht doch eingewiesen? Nach einer unruhigen Nacht ohne erholsamen Schlaf kann sie sich nur schwer auf ihre Patienten in der Sprechstunde konzentrieren.

Dr. K., Facharzt für Orthopädie, operiert an drei Tagen in der Woche. Knie sind das Spezialgebiet der großen Gemeinschaftspraxis. Dr. K. weiß, er muss sparsam wirtschaften zum Erhalt des Solidarsystems. Er folgt seiner KV stets gehorsam. Natürlich bekommen seine frisch operierten Patienten von ihm Heparin. Er hat es gleich in der Praxis, auf Sprechstundenbedarf in größeren Mengen preisgünstig bestellt. Der Regress kommt ohne Vorwarnung, getarnt als „Friendly Fire”. Er vermutet einen Irrtum, da er billiger abrechnete als ein Rezept in der Apotheke nebenan. Sein Widerspruch sei nicht begründet, hieß es. Um Wirtschaftlichkeit gehe es nicht. Er habe die Verträge der KV mit den Kassen zu beachten. Auch Dr. K. schlief schlecht, kämpfte nachts im Traum mit „seiner” KV und dem Beschwerdeausschuss. Schließlich wurde er sehr ärgerlich und zog vor Gericht. Aber auch hier beschied man ihn, wirtschaftlich zu handeln, sei zwar auch nötig, aber die Regelungen hätten Vorrang, auch wenn sie teurer seien. Seitdem reagiert Dr. K. - sicher unangemessen - aggressiv auf alles, was von der KV kommt! Er will sobald wie möglich aufhören und seine Praxis abgeben.

Selbstverständlich können und müssen sich Ärzte aufgrund von Straftatbeständen vor Gericht verantworten. Ärzte in ihrer Berufsausübung können aus drei Gründen vor ein Gericht gerufen werden: 1. als Zeugen und Sachverständige, 2. als Kläger und 3. als Beklagte.

Zu einer erheblichen psychischen Belastung kann eine Vorladung aber werden, wenn der Arzt sich keiner Schuld bewusst ist. „Ich wollte meinen Patienten doch optimal behandeln!” sagte ein Arzt dem Richter. Ja, das habe er zweifelsohne auch, stimmte der Jurist ihm zu, nur das sei nicht erlaubt. Ausreichend, müsse die Therapie sein, wurde er belehrt.

Ärzte treten ihren Patienten emotional und empathisch gegenüber. Sie erfahren häufig, für wie notwendig andere Menschen in ihrer Not ihre Handlungen, ihren Rat einschätzen. Dies ruft ein Gefühl der Kompetenz hervor, als attributionsabhängige Emotion (Weiner 1986). Die geschilderten Beispiele lassen ihn jedoch vor Gericht als inkompetent, als eben „angeklagt” erscheinen, mit deutlichen Folgen für Selbstwertgefühl und Selbstachtung. Diese Emotionen werden unmittelbar verhaltenswirksam. Liegt dem gerichtsanhängigen Verhalten eigenes Verschulden zu Grunde, resultiert meist Ärger. Nicht erkanntes Verschulden, vor allem die unterlassene Hilfeleistung, kann Schuldgefühle zur Folge haben.

Sucht man Literatur zu „Kollateralschäden” solcher Prozesse, Folgen von tausendfach verschickten Regressen, so sucht man vergeblich. Statistiken über Regressforderungen und Anklagen von (Haus-)ärzten sind bisher wenig publiziert. Manchmal sind sie auf eine bestimmte KV bezogen und somit begrenzt. Die Wahrscheinlichkeit steigt für Ärzte als Praxisinhaber, in ein gerichtliches Verfahren verstrickt zu werden. Auch unabhängig von der Schuldfrage ist die Situation, so aussichtsvoll sie auch sein mag, eine hohe psychosoziale Belastung. Nicht zuletzt drohen finanzielle Einbußen bis zum Ruin, womöglich ein schlechter Leumund. Die Auseinandersetzung mit juristischen Angelegenheiten ist bislang im ärztlichen Alltag nicht vorgesehen. Was ist zu tun? Jedenfalls keine introvertierten Kämpfe, nachts im Traum mit imaginären Gegnern, sondern kühl distanziert gehört der erste Blick beim kritischen, juristischen Brief auf die Frist, die jedes amtliche Schreiben enthalten muss. Ein unmittelbar formulierter Widerspruch mildert erste Wut und Angst, eine Begründung kann folgen. Erste Hilfe kann ein erfahrener Kollege leisten, die definitive Versorgung ein Fachanwalt.

Dr. med. Ulrich Rendenbach

Selbständige Abteilung für Allgemeinmedizin, Universität Leipzig

Dipl.-Psych. Katrin Große

UniversitätsSchmerzCentrum,

Dresden