Z Sex Forsch 2006; 19(4): 279-294
DOI: 10.1055/s-2006-955203
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die paradoxale Grundstruktur des Sadomasochismus

Sönke Ahrens
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Publication Date:
21 December 2006 (online)

Übersicht:

Sadomasochismus, der inzwischen als weitgehend entpathologisiert angesehen werden kann, wird in aktuellen soziologischen Theorien oft als Beispiel für Verhandlungsmoral thematisiert. Er erscheint dann als eine sexuelle Praxis, die vollständig auf freien Entscheidungen aller Beteiligten beruht. Gegen eine solche Beschreibung wendet sich der Autor mit Nachdruck. Auf systemtheoretischer Grundlage attestiert er dem Sadomasochismus vielmehr ein paradoxales Verhältnis von Freiwilligkeit und Zwang. Dieses bestehe in der beständigen Herausforderung, unter den Bedingungen der Freiwilligkeit Zwang auszuüben - ein filigranes Unterfangen, das die Grundidee durchkreuze, die Sexualpartner seien vor allem gleichberechtigte Verhandlungspartner.

Literatur

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1 Dass dies durchaus noch ein Thema ist, beweist beispielsweise der Erfolg von Claudia Haarmanns Buch „Unten rum…”, in dem sich die Autorin mit den Schwierigkeiten der jüngeren Generation befasst, über sexuelle Fragen zu sprechen (Haarmann 2005). Auch die in den Boulevardmedien lang anhaltende und breitgetretene Debatte um vorgetäuschte Orgasmen lässt zumindest Zweifel an einer flächendeckenden Umsetzung der Verhandlungsmoral in klassischen Beziehungen aufkommen.

2 So gaben alle befragten Sadomasochisten in einer Studie an, kategorisch zwischen konsensuellem S/M und sexueller Gewalt zu unterscheiden (Taylor und Ussher 2001). Eine andere Studie kommt über die Auswertung von szenebezogenen Webseiten zu dem Schluss, dass S/M-Beziehungen geradezu als Prototypen der „reinen Beziehung” (Giddens) gelten können - also als solche Beziehungen, die aufgrund einer Verhandlung der Partner zustande gekommen sind und nur so lange bestehen bleiben, wie beide Beteiligten dies wünschen (Langdridge und Butt 2004).

3 Wenn die Rollenverteilung in einem Setting erfolgreich und gleichberechtigt ausgehandelt wird, heißt das ja noch lange nicht, dass klassische Alltagsrollenfragen wie etwa die Frage, wer sich um die Kinder kümmert, nun ebenso ergebnisoffen gehandhabt werden.

4 Um eine Beschränkung auf das nahe liegende psychoanalytische Verständnis zu vermeiden, scheint es mir hier geboten, „desire” mit Verlangen anstatt mit Begehren zu übersetzen.

5 Die Bereitschaft der Schüler, sich auf diesen Zwang einzulassen, wird allerdings geringer, wenn das Freiheitsversprechen nach der Schule (mit Blick auf die Berufswahl beispielsweise) nicht mehr überzeugt. Keine Freiheit später, dann bitte auch keinen Zwang jetzt, lautet die durchaus systemkonforme Antwort aufsässiger Schüler (vgl. Baecker 2006: 17).

6 Anders als bei klassischen sexuellen Beziehungen: Den Anfang im Unklaren zu lassen, kann einen besonderen Reiz ausüben, und als ein eindeutiges Signal, dass man jetzt aufhören kann, reicht gemeinhin der Orgasmus (vgl. Lewandowski 2001).

7 Auch hier ließe sich wieder eine komplementäre Analogie zur Schule ziehen: Längst der Schulzeit Entwachsene machen noch die Erfahrung, dass sie beim Betreten eines Schulgebäudes unwillkürlich eine veränderte Haltung einnehmen (und ärgern sich dann darüber).

8 Und diese kann zu einem höchst befremdlichen Untersuchungsdesign führen, wenn sie mit politisch besetzten Unterscheidungen wie Männer/Frauen bzw. Weiß/Schwarz kombiniert wird (vgl. Price und Miller 1984).

9 Dass es Hollywood auch besser kann, beweist Steven Shainbergs „Secretary” (2002). Trotz der einen oder anderen überflüssigen Reminiszenz an den pathologischen Diskurs (Erklärung von S/M-Tendenzen über schwere Kindheit) gelingt hier das Kunststück einer nicht peinlichen Darstellung sadomasochistisch Liebender, bei der ganz beiläufig auch noch die romantische Vorstellung des Für-einander-bestimmt-Seins ausgehebelt wird.

10 Ironischerweise zitiert Schulze Foucault: Nein zum König Sex müsse man sagen, wenn diese so eng mit Schmerz und Macht verbunden sei. Damit wird die Aussage Foucaults, der S/M selbst ja gerade als Möglichkeit sah, „Nein zum König Sex” zu sagen, komplett verdreht.

11 Ein anderes, aktuelleres Beispiel aus dem Bereich Film wäre „Topâzu” von Ryu Murakami, der die Entfremdung des Menschen in einer durch und durch kapitalistischen Gesellschaft in unterkühlten sadomasochistischen Ritualen metaphorisiert (vgl. dazu auch Stiglegger 2002).

12 Vgl. z. B. crymsin.tripod.com/LSM/DSandabuse.htm

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