Z Sex Forsch 2006; 19(4): 359-366
DOI: 10.1055/s-2006-955197
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Jenseits der Zonengrenze

Über die Schwierigkeiten der Altbundesdeutschen, die Ostdeutschen als zugehörig zu erkennen - am Beispiel von Partnerschaft und Sexualität[*] Kurt Starke
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21 December 2006 (online)

Mein Hintergrund: Ich habe bis zur Schließung 1990 am Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig (ZIJ) gearbeitet und danach die Forschungsstelle Partner- und Sexualforschung Leipzig geleitet. Meine Ausführungen basieren auf eigenen empirischen Studien (vgl. u. a. Friedrich et al. 1999; Starke 2005).

Zunächst etwas Persönliches zur Fremd- und Eigensicht: Wenn mein Hamburger Forscherkollege Gunter Schmidt über Sexualität spricht, dann bewegt er sich ganz selbstverständlich im altbundesdeutsch-westlichen Rahmen, er spricht über das Hier, er ist das Wir. Wenn ich zum selben Thema und zu denselben Ergebnissen unserer gemeinsamen Untersuchungen spreche, dann werde ich nach den Ost-West-Unterschieden gefragt. Ich werde als das Ostdeutsche, als das Andere wahrgenommen. Das wirkt auf mein Selbstverständnis, auf meine Identität. Es wirft mich gewissermaßen auf das Ostdeutsche zurück.

Ein andere Geschichte: Anfang der 1990er-Jahre habe ich im Zusammenhang mit einer Partnerstudie des ZIJ (Starke und Weller 1999: 400 f; Weller 1991) auch eine Erhebung unter homosexuellen Männern (Starke 1994) und eine zu „Liebe und Leben von Lesben” geleitet. Die für die Auswertung beantragte Förderung scheiterte nicht nur daran, dass sich die Geldgeber nicht für Lesben interessierten und erst recht nicht für ostdeutsche, und sie scheiterte auch nicht nur an meiner Herkunft. Die Förderung blieb aus, weil ich keine Frau und keine Lesbe, sondern ein Mann bin. Ich wurde gewissermaßen auf mein Mannsein reduziert und nicht als ein empirischer Sozialforscher betrachtet, der üblicherweise auch Aussagen über Personenkreise trifft, die er nicht selbst repräsentieren kann. Gleichzeitig wurde auch der fragliche Personenkreis auf ein einziges Merkmal reduziert, nämlich auf das Lesbischsein. Das Ostdeutsche, das mich im Übrigen mit ihm verbindet, wurde exmittiert.

Nicht selten und zu bestimmten Zwecken wird die Identität eines Individuums nicht an seinem ganzen Ich festgemacht, sondern nur an einem Ausschnitt seines Ichs. Diesem Pars pro Toto kann das Individuum oft gar nicht entgehen oder will es auch nicht, wiewohl es Invarianzen seines Ichs gibt, die in bestimmten Situationen oder bestimmten Zusammenhängen von großer Bedeutung sein können. Ich folge hier durchaus nicht dem Konzept der „hybriden Identitäten” und gehe nicht davon aus, dass der Mensch verschiedene Teilidentitäten in sich trägt. Für mich ist das Individuum auch nicht Träger von Merkmalen oder nur eines ausgewählten Merkmals, das es wie einen Rucksack mit sich herumschleppt. Mein Ansatz ist ein anderer, nämlich der einer ganzheitlichen Persönlichkeit, die ein bestimmtes Profil, Eigenheiten, Merkmale hat. Die leibhaftige Person trägt nicht das Merkmal (zum Beispiel männlich) - das tut sie höchstens im statistischen Sinne -, sondern ist das Merkmal (zum Beispiel ein Mann).

Zugleich konstituieren bestimmte Merkmale der an sich einzigartigen Persönlichkeit soziale und andere Gruppen, sofern andere Personen ebenfalls dieses Merkmal sind (zum Beispiel ein Mann). Dafür genügt schon ein einziges Merkmal wie zum Beispiel das Geschlecht, die ethnische Zugehörigkeit, die Religion. Diese fixe Zugehörigkeit zu einer Gruppe kann auf persönlicher Ebene durchaus identitätsstiftend sein und das Selbstsein immer wieder bekräftigen, vor allem, wenn es sich um eine wesentliche und verhaltensrelevante Gruppe handelt.

Auf kollektiver Ebene bildet sich - je nach Art der Gruppe - ein mehr oder weniger starkes Wir-Bewusstsein und Wir-Gefühl heraus. Dieses bedeutet zugleich eine Grenzziehung oder auch eine Eingrenzung und Abgrenzung. Eine solche Gruppe kann politisch, sozial und massenpsychologisch von größter Relevanz sein und ganz und gar dominant werden, die Grenzziehung kann freundlich oder feindlich sein, sie kann eine vernünftige Ordnung herstellen oder zur Manie werden; die Grenze kann zum Graben, zur Mauer werden. Verbunden mit dem „Beharren auf einer besonderen Identität” kann „die Fixierung aufs Anderssein […] sehr gefährlich” werden und zur „Logik des Wir gegen sie‘” führen (Saghie 2006: 35). Für diejenigen, die ihr eigenes Schicksal besänftigen wollen, ist nichts „beruhigender als das Verletzen Andersartiger” (Sigusch 2005: 148). Es ist nicht die Grenzziehung an sich, sondern die Art und Weise der Grenzziehung und der Umgang mit der Grenze, die problematisch werden können. Auf jeden Fall kann eine Grenzziehung, wie immer sie auch beschaffen ist, zu einem Element der individuellen Sozialisation werden, dessen Verschwinden freud- oder leidvoll sein kann.

Bei einer Grenzziehung, die auf einem einzigen Kriterium beruht, wird leicht nicht nur die innere Differenziertheit von Gruppen nivelliert, sondern auch die Tatsache übersehen, dass jeder Mensch sehr vielen Gruppen oder Gruppierungen angehört und dass sich Gruppen-Zugehörigkeiten überlappen. Diese Überlappungen können Verbindendes sein und Abgrenzungen ad absurdum führen oder auch dramatische Konflikte auslösen. Es stellt sich mir die Frage, was es bedeutet, wenn aus Eigensinn oder Fremdsicht die Identität eines Individuums an einem einzigen soziografischen oder anderen Merkmal unter weitgehender Vernachlässigung anderer Merkmale festgemacht wird und so das Konstrukt einer Persönlichkeit anstelle derselben tritt. Oder wenn das Konstrukt einer Gruppe anstelle derselben tritt.

Nun zu einem bestimmten Konstrukt: dem fremden Osten. Die häufigste Frage, die mir seit 1990 gestellt wird, lautet: Wie hat sich das Sexualverhalten der Ostdeutschen nach der Wende, im vereinigten Deutschland verändert? Hat es sie gegeben, die „Wende im Bett”? Freilich ist mir niemals ganz klar geworden, was eine „Wende im Bett” eigentlich sein soll. Aber immerhin impliziert diese Frage neben manchen anderen die Frage, ob das andere sich verändert hat, ob es anders geworden oder anders geblieben ist oder ob es sein Anderssein schon verloren hat - vielleicht - im Sinne der „nachholenden Modernisierung”.

Die Urteile über die Ostdeutschen können keineswegs nur als Vorurteile und als ansozialisierte Bewertungsmuster oder als nationale Stereotype betrachtet werden. Sie haben ein materielles Substrat. Bei unseren deutsch-deutschen Untersuchungen zu Partnerschaft und Sexualität stellten wir zwar von Anfang an fest, dass bei etwa zwei Dritteln der Indikatoren eine kongruente Antwortverteilung vorliegt. Die Gemeinsamkeiten überwiegen bei weitem - entgegen mancher Annahmen. Aber zugleich finden sich teils erhebliche Unterschiede, Andersheiten, die irritieren, rätselhaft sind, unerklärbar erscheinen, die als ungewöhnlich betrachtet werden und selten als mögliches Eigenes vorgestellt werden können.

Ich will einige Beispiele für solche Unterschiede im Partner- und Sexualverhalten nennen.

Beispiel 1. Das Alter beim ersten Koitus differiert erheblich nach Ost und West und zugleich nach Geschlecht. Ein Startalter von unter 18 Jahren war besonders für DDR-Frauen charakteristisch, gefolgt von DDR-Männern, dann von Westfrauen und - mit einigem Abstand - den West-Männern. In unserer Hamburg-Leipziger Interviewstudie (Schmidt et al. 2006; Starke 2005) sieht das bei den 1972 Geborenen (also den jetzt 34-Jährigen) so aus: 72 % der Leipziger Frauen hatten ihren ersten Koitus im Alter von unter 18 Jahren, 64 % der Leipziger Männer, 57 % der Hamburger Frauen und 39 % der Hamburger Männer.

Diese Rangfolge findet sich in allen Untersuchungen: Die Extremgruppen werden von den Ost-Frauen und den West-Männern gebildet - sie liegen am weitesten auseinander. Hier wie bei vielen anderen Befunden zeigt sich, dass der Ost-West-Vergleich allein nicht alles sagt, sondern dass weitere Differenzierungsmerkmale wichtig sind, in diesem Fall das Geschlecht.

Beispiel 2. Die sexuelle Aktivität, bei der es zum ersten Orgasmus kam, war bei Ost-Frauen eine andere als bei Westfrauen. Bei Ost-Frauen wurde der erste Orgasmus überwiegend beim partnerschaftlichen Sex, vor allem beim Geschlechtsverkehr erlebt, bei Westfrauen häufiger durch Petting und Masturbation. In unserer Studie „Jugendsexualität” sagten 55 % der Ostdeutschen, aber nur 25 % der Westdeutschen, der erste Orgasmus sei beim Geschlechtsverkehr ausgelöst worden, während 17 % der Ostdeutschen gegenüber 29 % der Westdeutschen ihren ersten Orgasmus bei der Selbstbefriedigung erreichten (Starke und Weller 1993: 100). 1980 gaben 90 % der ostdeutschen Studentinnen an, ihren ersten Orgasmus beim Sex mit einem Mann erlebt zu haben. Der Wert fiel 1990 auf 77 % und 1996 mit 41 % auf das Westniveau von 39 % (Starke und Weller 2000: 245).

Beispiel 3. Noch bis in die 1990er-Jahre hinein gaben Ost-Frauen eine erheblich geringere Masturbationserfahrung und -häufigkeit an als Westfrauen (ebd.: 234 f). Dieser Unterschied ist inzwischen nahezu verschwunden, vor allem in den jüngeren Altersgruppen. In der Studie „Beziehungsbiographien” beträgt die durchschnittliche monatliche Masturbationshäufigkeit bei den 30-Jährigen 2,4-mal im Osten und 2,5-mal im Westen. Bei den Männern besteht dieser Unterschied allerdings fort: Die Masturbationshäufigkeit der West-Männer ist nach wie vor erheblich höher als die der Ost-Männer: 6,6-mal gegenüber 4,1-mal bei den 30-Jährigen (Starke 2005: 132).

Beispiel 4. Bei der Orgasmusrate von Frauen beim heterosexuellen Koitus sind keine wesentlichen Ost-West-Unterschiede mehr feststellbar.

Dazu eine kleine, anekdotenhafte Geschichte: Ende der 1980er-Jahre kam es in der Sexualforschung zu einem für die damalige Zeit abenteuerlichen Unternehmen. In heimlicher deutsch-deutscher Kooperation wurden die Ergebnisse der Partnerstudie des ZIJ Leipzig aus dem Jahr 1980 mit der 1981er-Studentenuntersuchung der Hamburger Abteilung für Sexualforschung verglichen. Das Resultat war ein gemeinsamer Artikel von Ulrich Clement und mir im ersten Heft der „Zeitschrift für Sexualforschung” (Clement und Starke 1988). Darin ist zu lesen, dass mehr Studentinnen im Osten als im Westen angaben, beim jüngsten Geschlechtsverkehr einen Orgasmus erlebt zu haben. Dies griff die „Bild”-Zeitung am 30. Mai 1990, also kurz vor der Währungsunion, auf. Sich auf mich berufend, titelte sie verallgemeinernd in vier Zentimeter hohen Lettern auf der ersten Seite: „DDR-Frauen kriegen öfter einen Orgasmus.” Als Erklärung wurde angeboten, dass das Leben in der DDR so trist, traurig und grau war, dass der Orgasmus als einzige Freude blieb. Zugleich sah „Bild” in dem Ergebnis eine „plump getarnte Propaganda” zwecks „Warnung vor der Einheit” und fragte: „Haben DDR-Bürger weniger Orgasmen, wenn sie mit Bundesdeutschen in einem Staat leben?” Über Nacht freilich besannen sich die „Bild”-Redakteure und drehten die Bewertung um. Das mit dem „Orgasmusvorteil” durfte nicht sein. Am nächsten Tag berichteten DDR-Frauen in „Bild”, sie hätten infolge ihrer anstrengenden und öden Berufstätigkeit gar keine Zeit und keine Muße für die Liebe, und BRD-Leserinnen wiederum beteuerten, sie hätten immer einen Orgasmus. „Bild” titelte auf der ersten Seite: „Der Orgasmusprofessor spinnt”.

Die Legende von der größeren Orgasmusfähigkeit der Ost-Frauen geistert bis heute durch den Blätterwald, obwohl es keine empirischen Belege mehr dafür gibt. Als einzigen Unterschied fanden wir (Starke und Weller 1993: 87), dass mehr Ost- als Westfrauen beim jüngsten Sex glücklich und zufrieden waren, auch wenn der Orgasmus diesmal ausblieb, während mehr West- als Ost-Frauen trotz Orgasmus mit dem jüngsten Sex unzufrieden waren. Das ist kein Hinweis auf eine andere Orgasmusrate, sondern allenfalls auf eine partiell andere Funktion des Orgasmus beim intimen Zusammensein: Im Osten war der Orgasmus weniger prestige-behaftet.

Beispiel 5. In der DDR wurden früher als in der alten BRD (und als heute) feste, auf Dauer gerichtete Partnerbeziehungen eingegangen, es wurde früher (und häufiger) geheiratet, und das Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes lag erheblich niedriger. Warum? Das gängige Antwortklischee war: Weil man dadurch eher eine Wohnung sowie Ehekredite und Geburtsprämien bekam. Jung schwanger zu werden wurde westsichtig als unnormal abgewehrt, abwertend und verkürzt erklärt. Die Frage, warum in der eigenen, der westlichen Gesellschaft Kinder so spät geboren werden, kam gar nicht erst auf. (Erst in jüngster Zeit wird angesichts der fallenden Geburtenrate darüber nachgedacht.) Das ist ein Paradebeispiel für Normalismus, einen Begriff, den Rüdiger Lautmann so erklärt: „Normalismus ist das, was unbefragt als richtig gilt […]. Normal ist das, was nicht speziell benannt werden muss, was als kulturelle Selbstverständlichkeit passiert” (Lautmann 2003: 366). In unserem Falle ist bei den einen frühe Elternschaft und bei den anderen späte Elternschaft gesellschaftlicher Standard. Der Normalismus kann als ein wesentliches Element der Inklusion und Identitätsstiftung einerseits und der Exklusion des Anderen andererseits betrachtet werden.

Beispiel 6. Studierte Frauen um die 50-60 haben im Osten zu 95 % Kinder, im Westen sind es kaum 50 %. Diese Ost-Frauen haben oft schon während des Studiums Kinder bekommen; am Studienende - da waren die meisten keine 25 Jahre alt (also jünger als im Westen) - hatten bereits gut 40 % eigene Kinder zu versorgen (Bathke und Starke 1999: 250 f). Dieser Anteil fiel mit der Wende schlagartig auf Westniveau von 2-5 %. Inzwischen freilich wird verschiedentlich wieder darüber nachgedacht, ob und wie ein Studium mit Kind möglich ist.

Beispiel 7. Bekanntlich gehörte die Berufstätigkeit der Frau zum gesellschaftlichen Standard in der DDR, und auch heute noch sind in den neuen Bundesländern trotz hoher Arbeitslosigkeit mehr Frauen berufstätig als im Westen. In unserer Studie „Beziehungsbiographien” sind in Hamburg 52 % der Mütter der befragten 60-Jährigen immer Hausfrau gewesen, dieser Anteil fällt bei den Müttern der 30-Jährigen auf 31 %, in Leipzig sind die beiden Vergleichzahlen 26 % zu 5 %. Bereits unter den Müttern der heute 60-Jährigen und erst recht der heute 30-Jährigen waren im Osten kaum Hausfrauen zu finden. Aktuell sind von den 60-Jährigen Frauen 32 % der Hamburgerinnen und 9 % der Leipzigerinnen Hausfrauen, bei den 30-Jährigen 17 % und 4 % (Starke 2005). Außerhalb von Großstädten wie Hamburg ist der Anteil an Hausfrauen in den alten Bundesländern noch weit höher.

Beispiel 8. Die Eheschließung hatte (und hat) in Ost und West eine unterschiedliche Bedeutung in der Biografie von Frauen. In der DDR hatte die Eheschließung kaum Auswirkungen auf Berufstätigkeit und Reproduktion. Dies war und ist - wie vor allem unsere Studie „frauen leben” (Helfferich et al. 2001) gezeigt hat - in den alten Bundesländern in vielen Gegenden ganz anders. Heiraten bedeutet für die Frau immer noch recht häufig, zu Hause zu bleiben und die Kinder zu betreuen. Allerdings: Es wird ja kaum noch oder sehr spät geheiratet. Mit 30 sind - wiederum ein Ergebnis der Studie „Beziehungsbiographien” - in Leipzig 31 % verheiratet, in Hamburg 16 %. Das war 30 Jahre zuvor ganz anders. Da waren von den 30-Jährigen in Leipzig 83 % und in Hamburg immerhin 69 % verheiratet. Also ein gleichartiger Trend in Ost und West, wenngleich auf unterschiedlichem Niveau.

Beispiel 9. Nach wie vor werden im Osten weit mehr Kinder von unverheirateten Frauen geboren, gegenwärtig sind es über 50 %, im Westen ist der Anteil inzwischen auf 18 % gestiegen. Cornelia Helfferich (2000) spricht von einer größeren „repoduktiven Autonomie” der Frauen im Osten - und das ist keineswegs ironisch oder negativ gemeint. In Bezug auf die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Elternschaft wird das Andere, der Osten, generell weniger negativ und weniger unmodern und weniger unterlegen gesehen. Das hängt damit zusammen, dass das Vereinbarkeitsideal in Ost und West vorherrschend geworden ist, auch wenn es immer wieder aufgeweicht wird. Gerade jetzt erleben wir ja wieder eine lärmende Heim-und-Herd-Diskussion, die den genuinen Ostdeutschen nun ihrerseits völlig albern und abseitig vorkommt.

Beispiel 10. In unserer gemeinsamen Studie zur Jugendsexualität in Ost und West - 1990, noch vor der Vereinigung (Schmidt 1993) - hatten wir 16- bis 17-Jährige gefragt: „Haben Sie sich selbst schon einmal benachteiligt gefühlt, weil Sie ein Mädchen sind?” Erwartungsgemäß bejahten diese Frage weit mehr Mädchen im Westen als im Osten. Aber auch die nachfolgende Frage „Haben Sie selbst schon einmal Vorteile davon gehabt, dass Sie ein Mädchen sind?” haben mehr Mädchen aus der alten BRD als aus der DDR bejaht. Bestimmte Ereignisse und Erlebnisse ihres Lebens verbanden die West-Mädchen weit stärker als die Ost-Mädchen mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit. Sie sahen sich stärker als Frau und Angehörige einer Gruppe, ihrer Geschlechtergruppe, während die Ostdeutschen mehr das Individuum als Gesamtes dachten und so empfanden und weniger die Zugehörigkeit zu der Geschlechtergruppe betonten. Und sie verhielten und bewegten sich auch dementsprechend. Das wiederum hat Besucher aus dem Westen immer ein wenig irritiert: Die ostdeutschen Frauen entsprachen ihren Frauenbildern so gar nicht. (In Bezug auf die Männer ist es ähnlich.)

Beispiel 11. Einstellung und Verhalten zur Nacktheit veränderten sich im Osten vor allem in den 1970er-Jahren. Eltern und Kinder gingen unbefangener mit Nacktheit um, verhüllten sich nicht voreinander, planschten zusammen in der Badewanne. Am Ostseestrand wie an den Inlandseen wurde das Nacktbaden zur Massenbewegung - bis auf den heutigen Tag ein erstaunlicher, teils unbegreiflicher Vorgang für viele Westdeutsche, zumal er vor allem von Frauen und Familien getragen wurde (Weller 1991: 20 ff.; Starke 1997: 170). Inzwischen hat sich die Situation verändert. Der DDR-FKK-Fan ist alt geworden, das junge Mädchen aus den neuen Bundesländern trägt nun wenigstens einen Striptanga, während ihre Oma ein wenig trotzig - „Wir lassen uns nicht alles nehmen” - nach wie vor splitternackt ins Wasser geht.

Ich komme zum Schluss. Der Ostbürger, der nun gesamtdeutsch firmiert, will ein wenig so bleiben, wie er war. Aber er will nicht nur ostdeutsch sein, vor allem sich nicht jenem Konstrukt unterwerfen, das seit 1990 von ihm kursiert. Fernab von einer naiven Liebessehnsucht, die längst dahin ist, will er angenommen und respektiert werden, wenn er gesamtdeutsch sein will, und er freut sich, wenn ihm nicht ständig seine andere Biografie und sein anderer gesellschaftlicher Rahmen um die Ohren gehauen wird. Es ist ihm über, sich ständig dafür rechtfertigen zu müssen, nicht so gelebt zu haben wie die „eigentlichen” Deutschen im Westen.

Das stellt nun das ganze deutsch-deutsche Dilemma und zugleich die Gunst eines deutsch-deutschen Schicksals dar. Der Ostdeutsche könnte Verständnis dafür entwickeln, dass ihn der Westdeutsche nicht immer begreift, dass er ihn anders sieht - und manchmal gar nicht sieht und ihn einfach ausklammert. Er könnte verstehen, dass das etwas mit ihm selber zu tun hat und nicht nur mit dem Anderen - und dass es vielleicht auch ein Zug der föderalen Zeit ist, einander wurscht zu sein. Der Ostdeutsche sollte milde sein und begreifen, dass das tiefe Überlegenheitsgefühl der Altbundesdeutschen gegenüber dem unterlegenen Osten als Teil der westdeutschen Identität nicht einfach verschwinden kann oder wegzuschwindeln ist. Er muss sich freilich dagegen wehren, wenn er dieses Überlegenheitsgefühl politisch wieder und wieder durch das Prinzip „Divide et impera” genährt sieht. Zugleich stünde es ihm gut, wenn er ein Selbstbewusstsein entwickelte, das nicht binnenbeschränkt oder rückwärts gewandt, sondern zukunftsoffen ist. Dieses Selbstbewusstsein wäre dann ein dynamisches Moment der gesamtdeutschen Gesellschaft, das sich konstruktiv-verbindend anstatt destruktiv-trennend auswirkte, neue Gemeinsamkeiten schüfe und damit Katalysator für Veränderungen des jeweils Anderen sein könnte.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel - eine unserer alten Gemeinsamkeiten - spricht von einer „Verdopplung des Selbstbewusstseins in seiner Einheit” als Anerkennen. Dieses Anerkennen hat zuerst die „Seite der Ungleichheit”, es ist „das eine nur Anerkanntes, der andre nur Anerkennendes”. Das für Hegel so wichtige Anerkennen hat aber dann den Aspekt der Gegenseitigkeit - und sein philosophisches Wort „Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend” (1967: 143) klingt ein bisschen wie Liebe.

1 Vortrag auf dem Symposium „Das exkludierte Andere und wir” anlässlich des 75. Geburtstages von Fritz Sack und Rüdiger Lautmanns 70. Geburtstag, das am 22. September 2006 in Hamburg stattfand. Der Vortrag erscheint auch in dem von Daniela Klimke herausgegebenen Buch „Exklusion in der Marktgesellschaft” (in Vorb.).

Literatur

  • 1 Bathke G W, Starke K. Studentenforschung. In: Friedrich et al. 1999
  • 2 Clement U, Starke K. Sexualverhalten und Einstellungen zur Sexualität bei Studenten in der BRD und in der DDR.  Z Sexualforsch. 1988;  1 30-44
  • 3 Friedrich W, Förster P, Starke K. (Hrsg) .Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966-1990. Berlin: edition ost, 1999
  • 4 Hegel G WF. Phänomenologie des Geistes. Kap. IV, A: Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft. Berlin: Akademie-Verlag, 1967
  • 5 Helfferich C. Reproduktive Kulturen in Ost und West - Kontinuitäten und Wandel. In: Familienplanung und Lebensläufe von Frauen. Köln: BZgA, 2000; 22-28
  • 6 Helfferich C,, Karmaus W, Starke K, Weller K. Frauen Leben. Eine Studie zu Lebensläufen und Familienplanung im Auftrag der BZgA. Köln: BZgA, 2001
  • 7 Lautmann R. „Ich schreibe einen Anti-Schelsky!” [Rüdiger Lautmann im Gespräch mit Gunter Schmidt].  Z Sexualforsch. 2003;  16 362-371
  • 8 Saghie H. Warum die Wut weiter wachsen wird. Die Zeit, Nr. 34, 17. August 2006, S. 35
  • 9 Schmidt G. (Hrsg) .Jugendsexualität. Sozialer Wandel, Gruppenunterschiede, Konfliktfelder. Stuttgart: Enke, 1993
  • 10 Schmidt G, Matthiesen S, Dekker A, Starke K. Spätmoderne Beziehungswelten. Report über Partnerschaft und Sexualität in drei Generationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006
  • 11 Sigusch V. Sexuelle Welten. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2005
  • 12 Starke K. Die ungewöhnliche gewöhnliche Sexualität in der DDR. In: Ansichten zur Geschichte der DDR, Bd. VIII. Eggersdorf: Kirchner, 1997; 156-200
  • 13 Starke K. Schwuler Osten. Homosexuelle Männer in der DDR. Berlin: Links, 1994
  • 14 Starke K. Nichts als die reine Liebe. Beziehungsbiographien und Sexualität im sozialen und psychologischen Wandel: Ost-West-Unterschiede. Lengerich: Pabst Science Publishers, 2005
  • 15 Starke K, Weller K. West- und ostdeutsche Jugendliche. (2) Eine östliche Sicht. In: Schmidt 1993; 80-101
  • 16 Starke K, Weller K. Partner- und Sexualforschung. In: Friedrich et al. 1999
  • 17 Starke K, Weller K. Deutsch-deutsche Unterschiede 1980-1996. In: Schmidt G (Hrsg). Kinder der sexuellen Revolution. Kontinuität und Wandel studentischer Sexualität 1966-1996. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2000; 231-255
  • 18 Weller K. Das Sexuelle in der deutsch-deutschen Vereinigung. Leipzig: Forum Verlag, 1991

1 Vortrag auf dem Symposium „Das exkludierte Andere und wir” anlässlich des 75. Geburtstages von Fritz Sack und Rüdiger Lautmanns 70. Geburtstag, das am 22. September 2006 in Hamburg stattfand. Der Vortrag erscheint auch in dem von Daniela Klimke herausgegebenen Buch „Exklusion in der Marktgesellschaft” (in Vorb.).

Prof. Dr. habil. K. Starke

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Email: kurtstarke@gmx.de