Z Sex Forsch 2006; 19(3): 241-250
DOI: 10.1055/s-2006-942151
Im Gespräch

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Die Quellen waren mit Sexualität gesättigt”

D. Herzog
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Publikationsdatum:
15. September 2006 (online)

Die Historikerin Dagmar Herzog lehrte und forschte an den Universitäten Michigan State, Brown und Harvard sowie am Institute for Advanced Study in Princeton und ist jetzt als Professorin am History Department des Graduate Center, City University of New York, tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutsche und europäische Zeitgeschichte, ­Sexual- und Geschlechtergeschichte und die Geschichte des Holocaust. Seit vielen Jahren untersucht Dagmar Herzog die Sexualpolitik der Nationalsozialisten und die Auswirkungen dieser Politik auf die sexuelle Restauration in den 1950er-Jahren sowie auf die „sexuelle Revolution” in den späten 1960ern und frühen 1970ern in Deutschland. [1] Die Ergebnisse Ihrer Forschungsarbeiten hat sie gerade in ihrem Buch „Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts” zusammen­gefasst. [2] Über dieses Buch sprach Gunter Schmidt mit Dagmar Herzog. [3]
Die Redaktion

Schmidt: Sie schildern die Sexualpolitik der Nationalsozialisten als nicht durchgehend repressiv, sondern als gespalten, widersprüchlich, partiell liberal. Was heißt das?

Herzog: Ich war ja auch überrascht, was ich gefunden habe. Zunächst ging es mir überhaupt nicht um das „Dritte Reich” selber und schon gar nicht um Sexualität, sondern um die Lehren, die aus dem Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit gezogen worden sind. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren stellten Christen das „Dritte Reich” als einen Abfall von Gott dar und forderten eine Re-Christianisierung. Andere hielten den Militarismus für das schlimmste Kennzeichen des Nationalsozialismus und verlangten Pazifismus. Für viele Achtundsechziger war der autoritäre Charakter der Deutschen eine Ursache des Faschismus, sie forderten antiautoritäre Erziehung und so weiter. Mich interessierte, warum Antirassismus so spät zum Thema wurde, nämlich erst nach Mölln und den anderen schockierenden Vorfällen von Misshandlung und Verfolgung von Migranten in den 1980ern und 1990ern. Bei meinen Forschungen fiel mir bald auf, dass es in den Quellen immer wieder um Sexualität ging, sie waren einfach gesättigt mit Sexualität. Die Nachkriegschristen redeten dauernd davon, dass die Deutschen im Nationalsozialismus sexuell enthemmt gewesen seien und dass Deutschland wieder „sauber” werden müsse, wenn man den Faschismus hinter sich lassen wolle. Die Achtundsechziger hatten dann die entgegengesetzte Lesart, nämlich dass die Nazis sexuell verklemmt gewesen seien und dass man sich ent-hemmen müsse, um den Faschismus zu überwinden. Diesen Widerspruch wollte ich verstehen. Und ich wollte verstehen, warum die Diskussion über Massenmord auf dem Feld der Sexualität und der Sexualpolitik ausgetragen wurde. Dazu musste ich mich auch mit der Sexualität im Nationalsozialismus auseinander setzen.

„Weder prüde noch lustfeindlich?” fragt etwas irritiert eine Ihrer Rezensentinnen. [4] Wie kann es sexuell liberal zugehen in einer Gesellschaft, in der sexuelle Minderheiten brutal verfolgt werden, ein tief patriarchalisches Frauen- und Familienbild propagiert wird, Abtreibungen martialisch bestraft oder zwangsmäßig verfügt und vollzogen werden und die Reproduktionspolitik rassistisch ist? Was kann an einer solchen Gesellschaft sexualliberal sein?

Für das Gros der Bevölkerung, das nicht zu den verfolgten Minderheiten gehört, war die Botschaft „Leute, habt Spaß!” Die Botschaft meinte Verheiratete wie Unverheiratete, Männer wie Frauen. Das ist natürlich ein Bild vom „Dritten Reich”, das man nicht gerne sehen möchte. Kondome waren zugänglich, Vorschläge für bessere Orgasmen präsent, Freude an der Sexualität war erwünscht, die ganze Diskussion war eher sexpositiv eingestellt - für Nichthomosexuelle, Nichtbehinderte, Nichtjuden.

Sie schildern eine relativ liberale Haltung zu vorehelichen Beziehungen, zur Sexualität von Jugendlichen und zum Ideal des häuslichen und mutuellen Orgasmus von Paaren, die ja meistens Ehepaare waren. Sind das nicht sexualliberale Petitessen im Vergleich zu den sexualrepressiven Basics, die ich gerade genannt habe: Zwangsabtreibung, Abtreibungsverbot, Zwangssterilisation, patriarchalisches Frauen- und Familienbild, Schwulen- und Lesbenverfolgung?

Klar, die Sexualpolitik der Nationalsozialisten war doppelbödig. Wenn ich in Deutschland Vorträge über meine Studie halte, dann kommen manchmal ältere Menschen auf mich zu und sagen: „Stimmt, das war liberaler als Weimar. Für uns war's liberaler. Wir haben das so erlebt. Der Schwenk in den Konservatismus kam in den 1950er-Jahren.” Das müssen wir ernst nehmen. In der Nachkriegszeit klagten die Kirchen über die sexuelle Enthemmung im „Dritten Reich”. Das war natürlich eine Übertreibung, die den Kirchen half, sich als Widersacher der Nazis darzustellen, um ihre Mitverantwortung dafür zu verleugnen, dass sie den Antisemitismus geschürt und den Nationalsozialismus mitlegitimiert haben. Ich sehe schon, dass die Klagen über die lockeren Sexualsitten im „Dritten Reich” funktionalisiert wurden; aber sie waren auch plausibel, weil Menschen das so erfahren hatten. Menschen hatten Spaß, während um sie herum andere verschleppt wurden.

Sie haben gerade die 1950er angesprochen, diesen enormen konservativen Schub, der ja vor allen Dingen von den Kirchen und der Politik ausging, und sagten, dies sei eine Möglichkeit gewesen

… ein sich selbst ausgestellter Persilschein. Da kamen Ernsthaftigkeit und Zynismus zusammen. Sie glaubten wirklich, dass die das Richtige machten. Sie ehren Gott, indem sie die Deutschen zurück zur sexuellen Sauberkeit bringen. Das war ehrlich gemeint, und zugleich war es zynisch und funktionalisierend. Linke Christen, couragierte Antifaschisten wie die Autoren der von Walter Dirks herausgegebenen „Frankfurter Hefte” sprechen in den späten 1940er-Jahren davon, dass Abtreibung gleich Auschwitz sei. Auch intellektuelle, eher linksgerichtete und liberale Christen verwendeten solche schrecklichen Analogien, auch sie wollten Deutschland wieder auf die strenge Bahn bringen. Sie waren ehrlich davon überzeugt, dass die Grenzüberschreitung in sexuellen Dingen mit einer Grenzüberschreitung gegenüber Wehrlosen eng verknüpft war - und haben dennoch dazu beigetragen, die Christen als Opfer der Nationalsozialisten zu stilisieren, anstatt sie als deren Geburtshelfer zu begreifen, das war eine Verschleierung christlicher Kollaboration.

Gibt es nicht noch eine andere Funktionalisierung, nämlich die Indienstnahme der Nazigräuel, um die eigenen moralischen Positionen wieder unters Volk zu bringen, das diese Positionen seit den 1920er-Jahren nicht mehr teilte?

Ja, das stimmt. Das ist genau das, was passiert ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Deutschland die liberalste Sexualkultur in der Welt, und es war seit langem ein Bedürfnis der Konservativen, damit aufzuräumen. In den 1950er-Jahren sahen sie ihre Zeit gekommen.

Dieses militante sexualmoralische Sperrfeuer von Kirchen und Politik hatte einen erstaunlich geringen Effekt. Sie schildern, dass Anfang der 1960er liberale Einstellungen zur vorehelichen Sexualität von einem sehr hohen Niveau um zehn Prozentpunkte gesunken waren - und immer noch sehr viel häufiger vorkamen als in den USA oder in Großbritannien. Viel Lärm um wenig?

Einerseits war die Befürwortung und Praktizierung des vorehelichen Koitus in Deutschland sehr viel verbreiteter als in den meisten Ländern der westlichen Welt. Andererseits wurde die Sexualität wegen des Geschnatters der Kirchen und der Regierung nun anders erfahren, Sex wurde wieder stärker mit Scham und Schuld besetzt. Frauen berichten über eine wahnsinnige Angst vor Schwangerschaft und über entwürdigende Umstände, unter denen sie abtrieben. Diese Selbsterniedrigung, die haben sie dann auch ins Bett getragen, ob darin nun ein vorehelicher Liebhaber oder der Ehegatte lag.

Am konkretesten waren die Auswirkungen dieser Retraditionalisierung dort, wo sie politisch oder administrativ umgesetzt wurden.

Ja, in den 1950ern wurde der Zugang zu Verhütungsmitteln erschwert, die gesetzliche Verankerung der weiblichen Unterordnung und die Erschwerung der Scheidung erfolgten noch Anfang der 1960er-Jahre. 1962 kam dann der berüchtigte Entwurf zur Verschärfung des Sexualstrafrechts auf den Plan, der 1963 im Bundestag verabschiedet werden sollte. Und das ist der Moment, wo der große Umschwung kam. Liberalere jüdische Remigranten und Exnazis und von je her Liberale haben gemeinsam großen Krach gemacht und auch junge Wissenschaftler mitbewegt, zum Beispiel in dem Buch „Sexualität und Verbrechen”. [5]

Wer waren die liberalen Exnazis, die dagegen gekämpft haben?

Das wissen Sie sehr gut, Hans Bürger-Prinz und Hans Giese, die Begründer der „Beiträge zur Sexualforschung”, die Sie, Martin Dannecker und Volkmar Sigusch heute herausgeben. Das finde ich immer noch wahnsinnig interessant. Wer waren die Mentoren der Sexualwissenschaftler Ihrer Generation? Jüdische Remigranten - bei Ihnen war es Curt Bondy, bei anderen Adorno - und Exnazis. Es ist einfach wichtig festzuhalten, dass die sexuelle Liberalisierung Westdeutschlands nicht ohne diese Kombination passiert wäre. Und man soll festhalten, dass das nicht passiert wäre ohne die Generationen übergreifende Zusammenarbeit zwischen diesen Älteren, die das „Dritte Reich” - in Deutschland oder im Exil - noch erlebt haben, und die Jüngeren, die dann ein paar Jahre später zur neuen Linken gehörten. Man redet immer über Generationenzwist und vergisst, dass es Anfang der 1960er-Jahre unheimlich wichtige, Generationen übergreifende Zusammenarbeit gab.

Schon im Kapitel über die 1950er stellt sich dem Leser die Frage: Wie unterscheiden Historiker generelle und spezielle Effekte? Auch in den USA verschärfte sich die konservative Rhetorik in den 1950er-Jahren. Die Rockefeller Foundation, die bis dahin die Forschungen Kinseys großzügig unterstützt hatte, stellte die Förderung aus politischen Gründen abrupt ein; im McCarthy-Amerika war ein Sexualliberaler ein kommunistischer Unterwanderer.

Auf jeden Fall. Ob wir jetzt auf England, Frankreich, Italien, die USA, Österreich oder Deutschland schauen, überall wurde in den 1950ern versucht, eine sehr konservative Sexualkultur wieder zu beleben. Das ist ganz klar. Aber dieser Prozess hatte in jedem Land eine andere Funktion und wurde aus unterschiedlichen Gründen „von unten”, also vom Volk mitgetragen. Claire Langhamer von der University of Sussex hat herausgearbeitet, wie entschlossen englische Frauen in den 1950er waren, nicht so arm, karg und elend wie ihre Mütter zu leben. [6] Redomestizierte Heterosexualität war für sie ein Wunschbild, das sie gerne leben wollten. Und die älteren Frauen sahen in der Ehe, dem eigenen Heim, der häuslichen Enge Trost und Belohnung für durchstandenes Leid in der wirtschaftlichen Depression und im Krieg. In den USA hat die Redomestizierung viel mit der Bedrohung im Kalten Krieg und mit einer Stabilisierung nach dem Krieg zu tun. Durchschnittsbürger und -bürgerinnen hatten einfach ein starkes Bedürfnis nach Nestwärme. Nach so vielen Trennungen, nach so viel Schmerz, nach so vielen Verlusten verlockte der Rückzug in die private Idylle. Letzteres spielte auch in Deutschland und Österreich eine Rolle, aber eben auch der Versuch einer moralischen Kompensation. In Österreich wurde das ganz offen ausgesprochen, wie Ingrid Bauer und Renate Huber gerade gezeigt haben. [7] Quer durch das ideologische Spektrum wurde argumentiert: Wir haben einen grauenvollen Krieg hinter uns, wir ­haben so viel Scham und Schuld auf uns geladen, jetzt müssen wir wieder „sauber” werden.

Während in den 1950er-Jahren die partiell sexualliberalen Aspekte der Nationalsozialisten für die Konservativen ­herhalten mussten, um die sexuelle ­Restauration voranzutreiben, nahmen die Achtundsechziger - so Ihre These - diese sexualliberalen Tendenzen nicht mehr wahr, sie wurden vergessen.

In den 1950er-Jahren ging viel Wissen über das „Dritte Reich” verloren. Die Älteren hatten gute Gründe, nicht zu reden, sie stilisierten sich lieber zum Opfer der Zeit. Das hat ja auch ziemlich gut geklappt. Die Kinder kriegten wenig mit über das Leben ihrer Eltern im „Dritten Reich” und dass das für manche schöne Zeiten waren. Sie hörten lediglich Geschichten aus dem Krieg, über die Bombennächte und über die Nöte der Nachkriegszeit, aber sonst nichts. Und dann, 1963, kommt der Auschwitz-Prozess. Dieser Prozess ist für mich ein wichtiger Schnittpunkt in der Sexualgeschichte Westdeutschlands. Im „Spiegel” wurde einer der Staatsanwälte mit dem Satz zitiert, Auschwitz sei von Spießern erbaut. Die Ehefrau eines Angeklagten sagte vor Gericht, ihr Mann sei doch so ein netter Mann, er habe mit ihr geweint, als ihr Kätzchen gestorben sei. Ich kann gut verstehen, dass junge Leute, die das ­damals lasen oder hörten, das zum Kotzen fanden und sich sagten: nichts wie raus aus diesem Milieu. Der Begriff „Spießer” war 1963 noch ganz mit geistiger Enge, emotionalem Mief und dumpfer Sentimentalität assoziiert, wurde aber innerhalb weniger Jahre zunehmend sexuell konnotiert: Der Spießer war nun auch sexuell verklemmt, unterdrückt und unterdrückend. Arno Plack brachte 1967 die neue Sicht mit dem Satz auf den Punkt: Das, was in Auschwitz geschehen war, sei typisch für eine ­Gesellschaft, die die Sexualität unterdrückt. [8] Thesen über sexuelle Unterdrückung und Faschismus fanden sich in dieser Zeit auch in den Studentenzeitschriften „Konkret” und „Diskus”, im „Argument”, ja selbst in „Twen”. Die Idee eines durchweg sexuell repressiven „Dritten Reichs” hatte sich verdichtet.

Sie nennen diese Idee der Achtundsechziger nicht antifaschistisch, sondern antipostfaschistisch.

Die Achtundsechziger reagierten auf die Kultur, in der sie groß geworden waren. Sie haben nicht verstanden, dass die sexuell konservative Kultur, gegen die sie rebelliert haben, eine Art Vergangenheitsbewältigung ihrer Elterngeneration war. Das ist meine These. Sie sind antipostfaschistisch, weil sie auf den Konservatismus der Nachkriegszeit reagierten.

Wendeten sich die Studenten nicht gegen das, was ich vorhin die repressiven Basics genannt habe, also Minderheitenverfolgung, Abtreibungsverbot, patriarchalische, autoritäre Familien- und Geschlechterstrukturen?

Ich verstehe nicht, wieso voreheliche Sexualität und weiblicher Orgasmus „liberale Petitessen”, wie Sie es vorhin nannten, sein sollen.

Gut, aber sie rebellierten doch gerade gegen die Sexualkonzepte der Nationalsozialisten, die ihre Eltern nicht infrage gestellt hatten, sie zielten auf eine andere Repression. Sie zitieren aus einer Broschüre der Berliner Kinderläden …

… „Auch wenn zehnmal mehr gebumst würde als früher, wäre das keine eigentliche Befreiung der Sexualität”, und der gleichzeitige Orgasmus allein könne „noch nicht als befriedigende Form der Sexualität angesehen werden”. [*]

Ja, darin steckt doch eine Empörung über die viel basaleren Formen sexueller Ungleichheit und Behinderung.

Das ist für mich sehr bewegend und ich versuchte, das darzustellen und zu würdigen. Wir sind ja in einer Phase von Achtundsechziger-Bashing und ich will mich daran keinesfalls beteiligen.

In Ihrer Darstellung der Achtundsechziger Sexualkonzeptionen beziehen Sie sich vor allem auf die Kommunen 1 und 2 und auf die Kinderladenbewegung …

Die wurden ja auch heiß diskutiert.

Die wurden heiß diskutiert und von Achtundsechzigern selbst besonders scharf kritisiert. Sie zitieren Rudi Dutschkes und Reimut Reiches Einwände ausführlich.

Beide Bewegungen sind in ihrer Radikalität deutsche Phänomene. Natürlich gab es auch in den USA junge Leute, die ihre Kinder kollektiv erzogen haben. Aber diese forcierte Sexualisierung der Kinder gab es nicht.

Aber es ging in der Kinderladenbewegung nicht nur um diese fragwürdigen sexualpädagogischen Experimente. Deutschland hatte, im Vergleich zu anderen westlichen Ländern, ein erhebliches Defizit in der mentalen Entwicklung, die holländische Soziologen einmal den Übergang von der Gehorsamsfamilie zur Verhandlungsfamilie genannt haben. Ich glaube, es ist ein Verdienst der Kinderladenbewegung, diese Diskussion in Deutschland provoziert zu haben.

Ja, auf jeden Fall. Das ist vielleicht eine der größten Leistungen der neuen Linken.

Zwei zentrale Manifeste der Sexualkonzeptionen der Achtundsechziger spielen in Ihrem Buch nur eine geringe Rolle, Günter Amendts „Sexfront” und Reimut Reiches „Sexualität und Klassenkampf”.

Obwohl ich die beiden so verehre! Das hat wohl damit zu tun, dass mein Buch am Anfang keine Sexualitätsgeschichte werden sollte, sondern eben eine Vergangenheitsbewältigungsgeschichte. „Memory and Morality” heißt es im Untertitel des amerikanischen Originals, das „Memory” entfällt im deutschen Titel. Beide Bücher haben mit Vergangenheitsbewältigung nicht viel zu tun, das ist wohl der Grund, warum ich mich in meinem Buch mit ihnen kaum befasse. Eine schlechte Ausrede, aber immerhin eine Erklärung. Ich schätze beide Werke. Es ist interessant, dass sie so unterschiedlich sind. Reiche hat ein etwas normativeres Verständnis von Sexualität. Man spürt in „Sexualität und Klassenkampf” nicht nur ein Aufbegehren gegen die Gesellschaft, sondern auch eine Vorstellung davon, was normale Sexualität ist. Und an Günter Amendt schätze ich so sehr, dass für ihn die Frage nach dem „Normalen” schon mal die erste falsche Frage ist.

Sie beschreiben sehr genau, dass die Liberalisierung der späten 1960er-Jahre keineswegs nur eine Sache der Studentinnen und Studenten gewesen ist, sondern eine breite Bewegung - aller Schichten, der Medien, ja selbst der Kirchen.

Ja, auch der Kirchen, das untersuche ich in meinem Buch ausführlich.

Diese „überbordende Sexwelle”, wie Sie sagen, mit der Sexualisierung der Öffentlichkeit, den Aufklärungskampagnen, der prosexuellen Propaganda, dem Sex- und Pornographiekonsum stellen Sie unter marktkritischen Vorbehalt und Sie schildern sie mit einem leichten Unterton moralischer Missbilligung.

Wieso? Überhaupt nicht.

„Im ganzen Land war man fasziniert vom Ehebruch”, heißt es, „Sexbesessenheit wurde zu einer respektablen Freizeitbeschäftigung”. Sie konstatieren einen „unglaublichen Hunger der Westdeutschen nach Pornographie”, „der erste Koitus fand immer früher statt”, der wackere Oswalt Kolle wird zum „selbst ernannten Sexapostel”, die ganze Republik ist ein „sexueller Vergnügungspalast” usw. usf. [10]

Und was ist falsch am Vergnügungspalast? Wir würden doch alle gern im Vergnügungspalast leben. Sie schieben mir Ihre eigenen moralischen Normen in die Schuhe. Also wenn Sie wüssten, woran ich zur Zeit forsche, dann würden Sie sich wundern, dass Sie das so gelesen haben. Aber das können wir nachher diskutieren. Was ich besser verstehen möchte, ist dieses Phänomen des forcierten Voyeurismus. „Sex als Zuschauersport” hieß es in einem „Spiegel”-Bericht über die Sexwelle. Diese Obsession zu wissen, was andere Leute im Bett machen. Kinsey verkündete Ende der 1940er/Anfang der 1950er: „Seht, alle andern machen auch das Nichtnormative. Einmal tief durchatmen, alles ist okay.” Diese Botschaft war erleichternd und befreiend. In den 1960ern hieß es dann: „Alle anderen haben besseren Sex als du.” Irgendjemand hat die bessere Technik, den besseren Trick, irgendwo gibt es einen leidenschaftlicheren Partner. Dieses Gefühl, es nicht toll genug zu haben, das Gefühl, dass es tiefer, wilder, befriedigender sein könnte, stammt aus den 1960er-Jahren und ist heute extrem ausgeprägt, in den USA auf jeden Fall. Diese Unsicherheit macht die Leute manipulierbar und bereit, sich immer wieder auf die medialen Ratschläge zu stürzen. Welchen Effekt hat die permanente Medienpräsenz der Sexualität? Wie wirkt sie sich in den Betten aus, wie verändert sie das sexuelle Feeling? Die Geschichte der Nachwehen der sexuellen Revolution muss erst noch geschrieben werden.

Zurück zu den 1960ern. Die zeitliche Nähe von Auschwitz-Prozess und Sexwelle bringt Sie zur Frage: „Wollte sich hier eine Gesellschaft im Angesicht ihrer Vergangenheit vor massiver Depression und Konfrontation mit sich selbst schützen, indem sie sich in einen Zustand steter sexueller Aufforderung und Erregung versetzte?” [11]

Das Fragezeichen muss mitgelesen werden. Die Achtundsechziger waren nicht die ersten, die das Trauma der Vergangenheit auf die Ebene der Sexualität schoben und dort zu verarbeiten versuchten. Schon ihre Eltern haben den Holocaust sexualisiert, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, nämlich mit einer rigiden Sexualmoral. Aber waren es in den 1960ern nur die moralisch sehr ernsthaften Studenten, die unbewältigte Affekte auf die Sexualität verschoben? War dieser problematische Umgang mit der Vergangenheit nicht ein gesamtgesellschaftliches Problem? Darauf zielt die Frage, die Sie zitierten.

Auch in der DDR kam es zur Retraditionalisierung in den 1950ern und zur sexuellen Liberalisierung in den 1960ern. Sie verstehen die Entwicklung in der DDR als sexuelle Evolution, die ohne die mal extrem reaktionären, mal extrem liberalistischen Konvulsionen, wie sie für die BRD typisch waren, erfolgte.

Ja, in den 1950er-Jahren herrschte auch in der DDR eine große Strenge, die mit sozialistischem Jargon untermauert war. Auch hier wurde das auf den Nationalsozialismus bezogen. Hilde Benjamin zum Beispiel sagte dem Sinne nach, die Nazis seien sexuell enthemmt gewesen, jetzt müsse etwas sozialistisch Sauberes kommen. Anfang der 1970er dann - die Regierung war nervös, dass die DDR-Jugend auch Radau machen könnte - wurde den Jugendlichen in Zeitschriften wie „Für dich” auf einmal gesagt, ihr dürft Sex haben, auch schon mit 16, der Sozialismus bietet die besten Bedingungen für freie und glückliche Liebe. Das wurde von der Regierung ganz offen forciert. Ganz im Gegensatz zur BRD wurde allerdings die Frauenerwerbstätigkeit von Anfang an befürwortet und gefördert. Das war eine außerordentlich wichtige Differenz zwischen den beiden deutschen Staaten, denn die Marxisten haben doch ganz Recht damit, dass die finanzielle Unabhängigkeit der Frau die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern stark verändert.

Das ist ein zentrales Argument in Ihrem Kapitel über die DDR: Die fortschrittliche Position der Frauen - Erwerbstätigkeit, finanzielle Unabhängigkeit, breite Organisation kollektiver Erziehung - habe eine besondere Form der Heterosexualität in der DDR hervorgebracht.

Ja, bestimmt. In den 1950er- und 1960er-Jahren gab es noch diese große Wohnungsnot, die die sexuelle Entfaltung junger Leute beschränkte. Doch mit der Liberalisierung in den 1970ern konnte diese freiere Sexualkultur zwischen Mann und Frau entstehen. Das wird von Zeitzeugen immer wieder beschrieben. In den 1990ern, der Kollaps des Kommunismus lag nicht so weit zurück, traf ich auf Konferenzen oft Ex-DDR-Frauen. Sie hielten mich für eine Westdeutsche und ihre herablassende Art, mit mir über Sexualität zu sprechen, verwunderte und amüsierte mich: „Ach, die armen westdeutschen Frauen. Die haben natürlich viel weniger Orgasmen und nicht so schöne wie die ostdeutschen.” Es sei doch wirklich wahr, was der Kurt Starke gefunden habe. [*] Ich habe immer wieder erlebt, wie überzeugt die Ostfrauen davon waren. Zum Beispiel bekam ich zu hören: „Ja, ihr Westfrauen, ihr redet immer drüber, aber wohl nur, weil ihr nicht so viel Freude daran habt.” Und natürlich gab es im Osten auch eine andere Art von Männlichkeit, die sich durch die starken Frauen nicht bedroht fühlte. Wenn Frauen nicht arbeiten und finanziell abhängig sind, bringt das ein ganz anderes Machtgefälle ins Bett, das ist doch klar. Ich habe immer wieder versucht, nicht nur die Quellen aus der Zeit zu lesen, sondern eben auch diese rückblickenden Perspektiven von Zeitzeugen mit hineinzubringen. Na ja, ich hab mir Sorgen gemacht, dass ich ein zu romantisches Bild vom Osten entwickelt habe, das Kapitel heißt ja auch „Die Romanze des Sozialismus”. Aber immerhin: Noch 2006 passiert es mir, dass ich Frauen aus den neuen Bundesländern treffe und sie mir ziemlich schnell von der lustvollen Sinnlichkeit und der sexuellen Freizügigkeit in der ehemaligen DDR erzählen.

Auf der letzten Seite Ihres Buchs zitieren Sie respektvoll und kritisch den Strafrechtler Herbert Jäger mit dem Satz „Ich kann mir vorstellen, in einer sexuell freieren Gesellschaft hätte so ein System wie Auschwitz nicht entstehen können”. [13] Hängt die Evidenz dieser Aussage nicht davon ab, wie man eine „sexuell freiere Gesellschaft” definiert? …

Ja, bestimmt.

… Wenn damit nicht nur Freizügigkeit im Hinblick auf bestimmte sexuelle Verhaltensweisen bestimmter Gruppen gemeint ist, sondern eine Haltung, die die Vielfalt sexueller Formen und Beziehungen respektiert und sexuell Andere toleriert?

Eine solche Gesellschaft wünsche ich mir auch, und man kann sie nicht haben ohne andere Formen von Gerechtigkeit. Andererseits beharre ich darauf, dass die Kausalzusammenhänge, die viele Deutsche im Nachhinein immer wieder konstruiert haben, nie so existiert haben. Man kann Auschwitz nicht verhindern, indem man frei fickt, und man kann Auschwitz nicht verhindern, indem man sexuell streng ist, das ist einfach zu simpel. Aber das wurde immer wieder gesagt. In den letzten zehn Jahren habe ich darüber nachgedacht, wie hängt Sexualität mit Politik zusammen, das ist immer wieder mein Thema. Was wird sonst noch verhandelt, wenn über Sexualität verhandelt wird, und welche Effekte hat das auf die Sexualität? Sexualität an und für sich gibt es nicht, sie ist immer von Politik durchtränkt, sie wird von so vielen Lebensbereichen durchkreuzt. Ich wollte Herbert Jäger Tribut zollen, ­diesem Bemühen um die Frage „Wie hängen Lust und das Böse und Lust und das Gute zusammen?” Andererseits denke ich, dass darin eine falsche Lesart des „Dritten Reichs” steckt. Das Schockierende am „Dritten Reich” ist doch auch, dass eine Mehrheit Freuden nachgehen konnte, während Min­derheiten unglaubliches Leid zugefügt wurde. Das müssen wir in den Blick kriegen. Tun wir diesen Minderheiten nicht noch einmal weh, wenn wir sagen, ach ja, wir waren alle ein bisschen unterdrückt? Die These vom sexuell repressiven „Dritten Reich” verfehlt die schockierende Wirklichkeit, dass Leute ihre Narrenfreiheit gelebt haben, während andere getötet wurden. So denke ich darüber.

Werden Sie weiterhin zur deutschen Sexualgeschichte forschen?

Im Moment befasse ich mich mit der religiösen Rechten in den USA. Die Fundamentalisten arbeiten intensiv an der sexuellen Restauration. Sie sind aggressiv und feindselig gegenüber Homosexuellen, und sie sind militante Abtreibungsgegner. Sie fordern Abstinenz vor der Ehe und werben dafür mit sexuellen Argumenten: Eine heiße eheliche Sexualität, glückliche Orgasmen in lebenslangen Ehen seien die Belohnung für voreheliche Keuschheit. Das ist die Sexualisierung repressiver Sexualmoral. Sie reiten auch wieder gegen die Onanie. Die Fundamentalisten reden und reden über Sex, explizit und im Detail und überall, selbst im Kongress und im Senat. Die Demokraten halten still, selbst Hillary Clinton rät Jugendlichen, abstinent zu leben. Und Bill Clinton hat das Gesetz zur „Abstinence-based Sex Education” unterschrieben, das verfügt, nur solchen Bundesstaaten Geld für Sexualerziehungsprogramme zu geben, die voreheliche Enthaltsamkeit propagieren. George W. Bush hat dieses Projekt massiv gefördert. 1988 haben nur 2 % der Lehrerinnen und Lehrer Abstinenz als die alleinige Möglichkeit propagiert, Geschlechtskrankheiten und ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden, 2003 waren es schon 30 %. Der Umschwung ist überall zu spüren, bei Politikern, bei Studentinnen und Studenten, bei Schwarzen und Weißen, in der Unterschicht und in der Mittelklasse. Einen besonders perversen Sexualakt habe ich kürzlich im TV gesehen. Teenagermädchen, herausgeputzt und in schicken langen Kleidern, tanzen mit ihren befrackten Vätern auf einem „purity ball”, einem Reinheitsball. Nach dem Tanz geloben diese jungen Mädchen dem Papa von Angesicht zu Angesicht: „Ich verspreche dir, Vater, dass ich meine sexuelle Reinheit bis zur Ehe bewahren werde.” Die Hintergründe dieser bizarren Entwicklung will ich verstehen und der Frage nachgehen, warum diese Art der Propaganda bei US-Amerikanern und -Amerikanerinnen so viel Resonanz findet.

1 Vgl. unter anderem: “Pleasure, sex and politics belong together”. Post-Holocaust memory and the sexual revolution in West Germany. Critical Inquiry 1998; 24 (2): 393-444; Sexuelle Revolution und Vergangenheitsbewältigung. Z Sexualforsch 2000; 13: 87-103; Desperately seeking normality. Sex and morality in the wake of the war. In: Bessel R, Schumann D (Hrsg). Life after death. Cambridge, UK: Cambridge University Press, 2003: 161-192; Postwar ideologies and the body politics of 1968. In: Müller JW (Hrsg). German ideologies since 1945. New York: Palgrave Macmillan; 2003: 101-116; Sex and secularization in Nazi Germany. In: Fenner A, Weitz E. Fascism and neofascism. New York: Palgrave Macmillan, 2004: 103-123; Sexuality, memory, morality. History and Memory 2005; 17: 238-266; Sexual morality in 1960s West Germany. German History 2005; 23: 371-384

2 München: Siedler, 2005; US-amerikanische Originalausgabe: Sex after fascism. Memory and morality in twentieth-century Germany. Princeton: Princeton University Press, 2005

3 Das Gespräch wurde auf deutsch geführt. Die Tonbandaufzeichnung transkribierte Johannes von Stritzky, Hamburg.

4 Brückner J. Weder prüde noch lustfeindlich? Freitag, Nr. 3, 20. Januar 2006

5 Bauer F, Bürger-Prinz H, Giese H, Jäger H (Hrsg). Sexualität und Verbrechen. Frankfurt/M., Hamburg: Fischer Bücherei, 1963

6 Langhamer C. The meanings of home in postwar Britain. J Contemp Hist [Special issue: Domestic dreamworlds: Notions of home in post-1945 Europe] 2005; 40 (2): 341-362

7 Bauer I, Huber R. Sexual encounters across (former) enemy borderlines. Contemp Austrian Stud 2007; 15 (in Vorb.); Bauer I. “Austria's prestige dragged into the dirt”? The “GI-brides” and postwar Austrian society (1945-1955). Contemp Austrian Stud 1998; 6: 41-55

8 Plack A. Die Gesellschaft und das Böse. Eine Kritik der herrschenden Moral. München: List, 1967

9 Herzog D. Die Politisierung der Lust. München: Siedler, 2005: 190

10 Herzog, ebd.: 175, 178, 180, 181, 176, 244

11 Herzog, ebd.: 222

12 Clement U, Starke K. Sexualverhalten und Einstellungen zur Sexualität bei Studenten in der BRD und in der DDR. Ein Vergleich. Z Sexualforsch 1988; 1: 30-44

13 Herzog D. Die Politisierung der Lust. München: Siedler, 2005: 317