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DOI: 10.1055/s-2006-932394
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Der Kranke als lebensgeschichtliches Subjekt
Publication History
Publication Date:
24 January 2006 (online)
Es war der Heidelberger Ordinarius für Innere Medizin Ludolf von Krehl, der 1910 feststellte: Krankheiten als solche kennen wir nicht, es gibt nur kranke Menschen. Krankheiten mithin sind Abstraktionen im Querschnitt und im Längsschnitt aus dem persönlichen Schicksal zahlreicher Patienten. Ludolf von Krehl eröffnete damit eine Perspektive, die sein Schüler Viktor von Weizäcker aufgriff, indem er den Kranken als lebensgeschichtliches Subjekt in die medizinische Diagnostik und Therapie einführte. Er gab dem Leiden am Leib den lebensgeschichtlichen Sinn zurück. Die subjektive Situation und deren persönliche Bedeutung generieren unbewusste Leibfantasien und bezeugen ungelebte Lebensentwürfe, sie formen das Krankheitsgeschehen: Unterdrückte Liebe, unterdrückter Ehrgeiz, Hass, Neid und Eifersucht schlagen sich in mancherlei Körperbeschwerden nieder. Das freilich vermag nur eine bio-psycho-soziale Gesamtdiagnostik zu Tage fördern, und diese erwächst erst aus einer vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung.
Sigmund Freud gab es der von ihm entwickelten Psychoanalyse zum Auftrag, es möge dort ICH werden, wo zuvor ES war. Dem versäumte er allerdings nicht hinzuzufügen, dass das ICH zuerst ein körperliches sei, womit er auf die ursprüngliche Mutter-Kind-Einheit verwies. Bauchschmerzen und Verdauungsstörungen treten auf, wenn es dem Kind an warmer Geborgenheit am Körper der Mutter fehlt. Psychosomatische Medizin bedeutet deshalb nicht, das Körpergeschehen weniger ernst zu nehmen, sondern den seelischen Prozessen das gleiche Gewicht zuzuschreiben. Der Schlüssel zum Körper ist das Unbewusste der Seele, und dieses stammt aus den Tiefen des Gehirns. Um dies zu begreifen, muss der Arzt seinem Patienten zuhören, er muss das bisher Ungehörte und Unerhörte zwischen den Zeilen verstehen.
Derlei Postulate sind uns bereits aus den Zeiten der romantischen Medizin vertraut und bewegen sich heute im Mainstream der aktuellen Neurobiologie, von der wir lernen, dass individuelle Beziehungserfahrungen biologische Signale freisetzen zur Genregulation und -expression im Gehirn, also die neuronale Plastizität bis ins hohe Alter anregen. Solches ist relevant bei somatoformen Störungen, posttraumatischen Erkrankungen, Dysthymien, Ängsten und vielem mehr.
Wesentlich zerebral und über die Phylogenese verankert ist hier das menschliche Grundbedürfnis nach sicherer Bindung zu erwähnen als eine grundlegende Verhaltens- und Gefühlsdisposition, welche uns Menschen sozial erdet. Das Soziale ist unsere Überlebensgrundlage als Erben der Herdentiere und der Traglinge (im Gegensatz zu Nesthockern und Nestflüchtern). Störungen im Bindungsgefüge aber führen bei unreifer Emotionalität zu vielfältigen seelischen und psychosomatischen Störungen.
Durch aggressive und sexuelle Übergriffe oder auch durch schiere Verwahrlosung in der Kindheit verwahrlost aber auch das Gesundheitsverhalten der betroffenen Menschen unmittelbar. Da für sie nicht gesorgt wurde, sind sie es sich nicht wert, für sich selbst zu sorgen. Sie verfallen einem gesundheitsschädlichen Lebensstil (Drogen, polymorphe Sexualität, Gefahren-Suche und allgemeine Verdrängung der Gesundheitsrisiken), der allerdings oft genug das unspezifisch hohe Arousal dieser Menschen reduziert, langfristig aber zu chronischer Schädigung und letztlich zu frühzeitigem Tod führt.
Ich freue mich daher sehr, dass Notfall & Hausarztmedizin sich dieser Problematik öffnet und hoffe auf ein breites Interesse an den Beiträgen dieses Heftes.