ergoscience 2006; 1(2): 45-46
DOI: 10.1055/s-2006-926886
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

E. Kraus1
  • 1Alice Salomon Fachhochschule, Bachelor Studiengang Ergotherapie
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Publication Date:
13 July 2006 (online)

Liebe Leserin, lieber Leser,

Ergotherapie in den deutschsprachigen Ländern ist im Umbruch. Themen wie Clinical Reasoning, Evidenz-basierte Praxis, problemorientiertes Lernen, Prävention, klientenzentrierte, handlungsorientierte und umweltbezogene Ansätze, ICF und ergotherapeutische Praxismodelle wurden während der letzten Jahre eingeführt und sind aktuell geworden. Diese Themenbereiche werden an vielen Berufsfachschulen in der Grundausbildung behandelt, auf Hochschulebene im Bachelor-Studium vertieft sowie in Fort- und Weiterbildungen angeboten. Für ihre Verbreitung und Anwendung in der Praxis zeugen unter anderem Vorträge und Seminare beim Leipziger Ergotherapiekongress, Themen der Bachelor-Arbeiten und auch Artikel der Fachzeitschriften. Die Akademisierung und Professionalisierung der Ergotherapie macht sich durchaus bemerkbar.

Ausschlaggebend für viele Ergotherapeuten ist jedoch, ob die Akademisierungs- und Professionalisierungsprozesse tatsächlich eine bessere Praxis gewährleisten. Es ist leicht einzusehen, dass diese Entwicklungen viele Vorteile mit sich bringen: einen erhöhten Berufsstatus, ein differenzierteres Berufsprofil und damit bessere Zukunftschancen innerhalb des Gesundheitssystems, die Möglichkeit, diagnostische und Behandlungsverfahren und deren Wirksamkeit wissenschaftlich zu be- oder widerlegen ebenso wie internationale und interdisziplinäre Eingebundenheit und Anerkennung.

Wie sieht es aber mit dem so genannten reflektierten Praktiker aus -, ein Hauptziel, das in den Bachelor-Studiengängen angestrebt wird? Besteht durch die Akademisierung nicht eher die Gefahr, dass sich die Ergotherapie von der Praxis in einen abstrakten Bereich abhebt und den engen Bezug zum Patienten/Klienten verliert? Diese und ähnliche Bedenken werden oft geäußert und sind verständlich. Sie beschränken sich auch nicht auf den deutschsprachigen Raum. In den USA entwickelt sich beispielsweise eine Tendenz, die Basisqualifikation der ergotherapeutischen Ausbildung von einem Bachelor- zu einem Master-Studium anzuheben. Dies geschieht im Rahmen der Differenzierung zwischen Master-qualifizierten Ergotherapeuten, die Befunde erheben sowie die Therapieziele und den Therapieplan erstellen; und Ergotherapie-Assistenten, die direkt mit dem Patienten/Klienten arbeiten und den Therapieplan unter Supervision ausführen. Hier wäre die Frage durchaus berechtigt, ob diese fortgeschrittene akademische Entwicklung in der Ergotherapie nicht auf Kosten der Patienten/Klienten geht, da sich unter anderem das therapeutische Verhältnis zwischen Ergotherapeutin und Patient nicht mehr unmittelbar, sondern nur indirekt und über die Assistenten entfalten kann.

Im deutschsprachigen Raum ist die Situation noch ganz anders. Als Endziel strebt der deutsche Akademisierungsprozess natürlich auch ein grundständiges Bachelor-Studium an den Fachhochschulen an. Dieses Ziel konnte vor kurzem in der Schweiz und in Österreich durchgesetzt werden. Obwohl eine derartige Umstrukturierung in Deutschland bundesweit noch nicht möglich ist, bringt gerade diese Übergangsphase zwischen Berufsfachschule und Fachhochschule zweierlei Vorteile für die Praxis.

Einerseits haben sich die Berufsfachschulen im Rahmen der 1999 überarbeiteten bundesweiten Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Ergotherapie inhaltlich auf die Akademisierung vorbereitet. Das hatte zum Beispiel zur Folge, dass in einigen Bundesländern wie Niedersachsen und Berlin berufsbezogener Unterricht in Form von Lernfeldern entwickelt wurde. Er soll auf der Basis der neuen theoretischen Grundlagen eine problem- und kompetenzorientierte sowie praxisnahe Ausrichtung ermöglichen. Andererseits werden die meisten Studiengänge berufsbegleitend angeboten. Das bedeutet, ausgebildete Ergotherapeuten können die Praxis mit der Theorie verknüpfen, während sie Berufserfahrung sammeln.

Auf beiden Ebenen gibt es also Bemühungen, die ergotherapeutische Praxis und Kompetenzen zu reflektieren und zu vertiefen. In diesem Zusammenhang ist die Sorge um eine Theoretisierung auf Kosten eines praxis- und klientennahen Umgangs unbegründet-, im Gegenteil, international betrachtet bestehen in den deutschsprachigen Ländern für die Ergotherapie ausgezeichnete Voraussetzungen, Praxis und Theorie effektiv und zum Vorteil des Patienten/Klienten zu verschmelzen.

Die Artikel der 2. Ausgabe der ergoscience zeugen von 3 unterschiedlichen Perspektiven des Engagements und der Bindung an theoriegeleitete ergotherapeutische Praxis, in der der Patient/Klient im Mittelpunkt steht. Im Rahmen der Akademisierung untersucht eine Studie die Implementation des Lernfeldkonzepts in der Ergotherapieausbildung. Die Erfahrungen eines kompetenzorientierten Ansatzes in der Ausbildung bilden hier die Voraussetzung für eine effektive Praxis und Klientenzentrierung.

Aus der Praxis- und Behandlungsperspektive im Fachbereich Pädiatrie wird ein Ergotherapeutisches Elterntraining (ETET) vorgestellt und seine Wirksamkeit evaluiert. Die Einführung derartiger multimodaler Programme stellt einen wichtigen Schritt in Richtung Prävention und der Befähigung (Empowerment) für Kinder und Eltern dar, die die Effektivität und Nachhaltigkeit der Therapie nur verstärken kann.

Von einem 3. Ausgangspunkt werden die Erfahrungen und Ausblicke von Patienten mit Multipler Sklerose im Kontext der Adaption erforscht: Wie erleben Menschen mit progressiver neurologischer Erkrankung die Veränderung ihrer Betätigung? Die Studie leistet einen Beitrag zum Verständnis von Anpassungsprozessen bei chronisch-progressiven Krankheitsbildern, die in der Ergotherapie für einen klientenzentrierten und umweltorientierten Ansatz von Bedeutung sind.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen!

Für das HerausgeberteamElke Kraus

Prof. Dr. Elke Kraus

Alice Salomon Fachhochschule, Bachelor Studiengang Ergotherapie

Alice-Salomon-Platz 5

12627 Berlin

Email: kraus@asfh-berlin.de