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DOI: 10.1055/s-2005-866957
Die „Silberkornerkrankung” - Demenz mit argyrophilen Körperchen
Dementia with Argyrophilic GrainsPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
24. November 2005 (online)
Die Differenzialdiagnose der degenerativen Demenzen untereinander hat erheblich gewonnen, nachdem in Konsensuskonferenzen einheitliche Kriterien für die Diagnosen der frontotemporalen Lobaratrophien [1] und der Demenz mit Lewy-Körperchen [2] festgelegt wurden. Auch wenn beide Konzepte weiterhin umstritten sind, die frontotemporalen Demenzen hinsichtlich ihrer nosologischen Homogenität, die Demenz mit Lewy-Körperchen hinsichtlich ihrer Überschneidungen mit M. Parkinson und M. Alzheimer, ist es durch die Festlegung diagnostischer Kriterien zu einem geradezu explosionsartigen Zuwachs an Wissen über diese Erkrankungen gekommen.
Ein weiterer Kandidat für die Festlegung diagnostischer Kriterien ist die „Demenz mit argyrophilen Körperchen”. Braak u. Braak [3] hatten 1987 auf den nicht seltenen neuropathologischen Befund nach Silberfärbung in Sektionsfällen dementer Patienten hingewiesen. Die Autoren fanden nach Ausschluss vaskulärer Demenzursachen bei 80 Hirnsektionen der Patienten einer Nervenklinik 48 histologisch gesicherte Fälle eines M. Alzheimer, 4 eines M. Pick und in 28 Fällen „bei Anwendung der Silberimprägnierung nach Gallyas eigentümliche argyrophile Körperchen in bestimmten Lokalisationen, vor allem aber im anteromedianen Bereich des Temporallappens” ([4], S. 25 - 26). „Die 28 Fälle des vorliegenden Materials zeigten klinisch einen rasch progredienten Verfall der intellektuellen Fähigkeiten. In nicht wenigen Fällen betrug die Krankheitsdauer nur ein Jahr. Die Patienten waren örtlich und zeitlich desorientiert, ängstlich und ruhelos, vielfach zeigten sie auch das Bild einer Depression. Die meisten Patienten waren stark kachektisch und doppelt inkontinent. Sie erreichten ein Alter von im Median 74 Lebensjahren bei einem durchschnittlichen Hirngewicht von 1200 g” ([4], S. 25). In größeren Statistiken finden sich argyrophile Granula in etwa 5 % zur Hirnsektion kommender dementer Patienten [5] [6], kommen aber auch bei Nichtdementen vor. Sie bestehen aus einem abnorm phosphorylierten Tau-Protein, die Erkrankung gehört somit zur Gruppe der Tauopathien.
Es scheint sich also um einen zumindest nicht ganz seltenen Befund bei Hirnsektion degenerativ Dementer zu handeln. Klinische Kriterien stehen jedoch noch aus. Die Forschung und damit auch die mögliche Entwicklung zukünftiger Therapiestrategien wird dadurch behindert, dass die Sektionsfrequenz deutlich abgenommen hat.
Roth et al. [7] stellen in diesem Heft einen neuropathologisch gesicherten Fall nebst sorgfältig dokumentierter Klinik vor. Die 77-jährige Patientin wies eine rasch progrediente Demenz mit Aggressivität, Inkontinenz und Hyperkinesen auf. Im Verlauf fanden sich im EEG zunächst fokale, dann generalisierte triphasische Wellen von 4/s, klinisch Phasen von Bewusstseinstrübung und präfinal spontane, nicht stimulussensitive Myoklonien.
Ein weiterer Fall wird von der Erlanger Arbeitsgruppe um C. J. G. Lang berichtet [8]. Diese mit 69 Jahren verstorbene Patientin entwickelte zunächst ab dem 64. Lebensjahr Urgeinkontinenz und Gewichtsverlust, dann Gedächtnisstörungen und depressive Verstimmung. Im Verlauf traten dann Wesensänderung, Unruhe, Aggressivität, eine schwere Zeitgitterstörung, Perseverationen und Stereotypien hinzu. Die Autoren berichten, dass lange Zeit die Verhaltensstörung wesentlich ausgeprägter war als die eher geringen kognitiven Einbußen. Das EEG zeigte eine Allgemeinveränderung.
Aufgrund klinischer Kriterien lag bei der Patientin von Roth et al. [7] eine Jakob-Creutzfeldtsche Erkrankung, bei der von Lang et al. [8] eine frontotemporale Demenz nahe, was im letzteren Fall auch durch ein Perfusions-SPECT gestützt wurde. Beiden Fällen gemeinsam sind die bereits im Frühstadium ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten und die im Vergleich zu anderen degenerativen Demenzerkrankungen raschere Progredienz. Das in den Arbeiten von Roth et al. [7] und Lang et al. [8] skizzierte Bild lässt beim Autor einige Patienten vor dem geistigen Auge erscheinen, bei denen die Silberkornerkrankung differenzialdiagnostisch in Betracht gekommen wäre, bei denen jedoch keine Hirnsektion erfolgte. Auch die japanische Literatur berichtet über schwerwiegende Verhaltensauffälligkeiten mit Aggressivität und Dysphorie bereits in frühen Stadien der Erkrankung [9]. Bei den kognitiven Defiziten stehen Störungen der Merkfähigkeit im Vordergrund [10]. Braak u. Braak [3] [4] setzten die Klinik in Zusammenhang mit einem im Vordergrund stehenden Befall der entorhinalen Region und des anterioren Hippokampus [10].
Bislang ist die klinische Literatur zur Demenz mit argyrophilen Körperchen dürftig. Es scheint sich um keine seltene Erkrankung zu handeln. Es steht zu hoffen, dass zunächst vorläufige klinische Verdachtskriterien für die Diagnose definiert werden und dies - wie im Falle der frontotemporalen Demenzen und der Lewy-Körper-Erkrankung - die Forschung koordiniert und inspiriert. Dazu ist es unabdingbar, dass bei Patienten mit unklaren und atypischen neurodegenerativen Erkrankungen wenn irgend möglich eine Hirnsektion durchgeführt wird und den Angehörigen die Notwendigkeit vermittelt wird. Für eine erste Annäherung an das klinische Syndrom der Silberkornerkrankung, die bislang nur neuropathologisch diagnostiziert werden kann, ist eine größere Zahl klinisch gut dokumentierter Fälle gemeinsam mit pathologischem Befund notwendig. Erst die so gewonnenen Informationen werden zukünftig eine klinische Diagnose ermöglichen. Eine liquordiagnostische Abgrenzung zur Alzheimer-Demenz ist nach derzeitigem Stand problematisch, weil dasselbe abnorme Tau-Protein, das die Silberkornerkrankung charakterisiert, auch beim M. Alzheimer vorkommt [11].
Dia Autoren haben die Bezeichnung „Silberkornerkrankung” gewählt, es wäre schön, wenn diese den Begriff „argyrophilic grain disease” zumindet in der deutschsprachigen Literatur ersetzt.
Literatur
- 1 Neary D, Snowden J S, Gustafson L. et al . Frontotemporal lobar degeneration: a consensus on clinical diagnostic criteria. Neurology. 1998; 51 1546-1554
- 2 McKeith I G, Galasko D, Kosaka K. et al . Consensus guidelines for the clinical and pathologic diagnosis of dementia with Lewy bodies (DLB): report of the consortium on DLB international workshop. Neurology. 1996; 47 1113-1124
- 3 Braak H, Braak E. Argyrophilic grains: Characteristic pathology of cerebral cortex in cases of adult onset dementia without Alzheimer changes. Neurosci Lett. 1987; 76 124-127
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4 Braak H, Braak E.
Demenz mit argyrophilen Körperchen - Morphologie einer bisher unbekannten zur Demenz führenden Erkrankung. In: Helmchen H (Hrsg) Wirkungen und Wirksamkeit von Nootropika. Heidelberg; Springer 1988: 19-28 - 5 Thal D R, Schultz C, Botez G. et al . The impact of argyrophilic grain disease on the development of dementia and ist relationship to concurrent Alzheimer's disease-related pathology. Neuropathol Appl Neurobiol. 2005; 31 270-279
- 6 Togo T, Cookson N, Dickson D W. Argyrophilic grain disease: neuropathology, frequency in a dementia brain bank and lack of relationship with apolipoprotein E. Brain Pathol. 2002; 12 45-52
- 7 Roth C, Herath H, Arzberger T. et al . Die Silberkornerkrankung als Ursache einer rasch progredienten Demenz mit triphasischen EEG-Veränderungen: Eine Differenzialdiagnose zur Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung. Akt Neurol. 2005; 32 604-608
- 8 Lang C JG, Dworak O, Roggendorf W. Demenz mit argyrophilen Granula. Fortschr Neurol Psychiat 2005, im Druck
- 9 Ishihara K, Araki S, Ihori N. et al . Argyrophilic grain disease presenting with frontotemporal dementia: a neuropsychological and pathological study of an autopsied case with presenile onset. Neuropathology. 2005; 25 165-170
- 10 Botez G, Schultz C, Ghebremedhin E. et al . Klinische Aspekte der „argyrophilic grain disease”. Nervenarzt. 2000; 71 38-43
- 11 Tolnay M, Clavaguera F. Argyrophilic grain disease: a late-onset dementia with distinctive features among tauopathies. Neuropathology. 2004; 24 269-283
Prof. Dr. C.-W. Wallesch
Klinik und Poliklinik für Neurologie der Otto-von-Guericke-Universität
Leipziger Straße 44
39120 Magdeburg
eMail: Wallesch@medizin.uni-magdeburg.de