Gesundheitswesen 2005; 67(5): 325-331
DOI: 10.1055/s-2005-858221
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit: zwei ethische Gebote? Eine Grundlagenreflexion

Economic Efficiency and Fairness: Two Ethical Criteria?W. Lübbe1
  • 1Universität Leipzig, Institut für Philosophie, Leipzig
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Publication Date:
25 May 2005 (online)

Zusammenfassung

Der Beitrag präsentiert aktuelle Argumente aus der ethischen Grundlagendebatte zum Verhältnis von Effizienz und Gleichheit als Zuteilungskriterien für knappe Gesundheitsressourcen. Es wird die These vertreten, dass über Personengrenzen hinweg aggregierte Vorteile (die „Nutzensummen” des Utilitarismus) als solche keinen ethischen Eigenwert haben. Der Hinweis auf sie liefert daher auch nicht als solcher einen Gesichtspunkt, der mit dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit oder des „gleichen Zugangs” zu medizinischen Ressourcen im Wege einer ethischen „Güterabwägung” zu verrechnen wäre. Bestimmte zweifellos rekonstruktionsbedürftige Effizienzintuitionen sind, wenn die vorgetragene Argumentation richtig ist, ohne Rückgriff auf einen Eigenwert aggregierter Vorteile zu begründen.

Abstract

Many statements on the allocation of health care resources show an appreciation of the two criteria “efficiency” and “fairness” as two values which are to be weighed against each other in case of conflict. This article provides a critique of this model, which is conceived to rest on a hybrid (partly utilitarian, partly counter-utilitarian) basis. The most important fairness-related argument, or so it is argued, is of a sort which is incompatible with the reasons utilitarianism (or, indeed, consequentialism) provides as a basis for the efficiency criterion. If the argument is right, we have to provide another basis, at least as far as moral inhibitions are strong about taking efficiency into account. The present article does not go into detail about such an alternative. It relates to the on-going discussion on John Taurek’s (1977) article about “numbers”, especially on the so-called aggregation argument against Taurek’s “no-worse-claim”, and argues against the majority of commentators, consequentialist and deontological alike, that Taurek was right.

Literatur

  • 1 Breyer F, Zweifel P, Kifmann M. Gesundheitsökonomik. 5. Aufl. Berlin/Heidelberg; Springer 2005: 22
  • 2 Broome J. Kamm on fairness.  Philosophy and Phenomenological Research. 1998;  955-961
  • 3 Edgar A, Salek S, Shickle D. et al .The Ethical QALY. Ethical Issues in Healthcare Resource Allocations. Haslemere; Euromed Communications 1998
  • 4 Taurek J. Should the numbers count? Philosophy & Public Affairs 1977: 293-316. Dt. Lübbe W Tödliche Entscheidung. Allokation von Leben und Tod in Zwangslagen Paderborn; mentis 2004: 124-143
  • 5 In Diskussionen zu diesem Punkt wird immer wieder die Frage gestellt, warum man eine Münze nehme und nicht einen Würfel, der doch, der Anzahl der Personen entsprechend, sechs gleichmögliche Resultate habe. Der Grund ist, dass die (für jede Person gleiche) Chance, den Würfelwurf zu gewinnen, nicht gleiche, sondern unterschiedliche Überlebenschancen zuteilt: 1/6 für David und 5/6 für die anderen fünf. Denn nur die anderen, nicht David, können von der nach Versorgung des Gewinners verbleibenden Menge mitgerettet werden, wenn die geworfene Zahl nicht Davids Gewinnzahl ist. Die (ebenfalls für jede Person gleiche) Chance, den Münzwurf zu gewinnen, teilt dagegen auch wirklich gleiche Überlebenschancen zu. 
  • 6 Literaturnachweise zur Taurek-Kontroverse bei Lübbe [4]: 233 f. 
  • 7 Taurek [4]: 307. 
  • 8 Sidgwick H. The Methods of Ethics (1. Aufl. 1874). 7. Aufl. 1907: 382 (dt. Übers. W. L.). 
  • 9 Vgl. Kamm FM. Morality, Mortality, Vol. 1: Death and whom to save from it. New York/Oxford: Oxford UP. 1993: 85, die zwar mit Taureks egalitaristischen Intuitionen sympathisiert und allerlei Bedenken, aber keine harte Entgegnung gegen die Schlüssigkeit des Arguments vorbringt. Im Ergebnis kann sie allenfalls als Gegnerin eines „acting on the conclusion” gelten, nicht aber (wie Taurek) als Befürworterin des „no-worse-claims” vgl. ebd.: 93: „This does not mean that we would not be right to say that the world is worse if more rather than fewer die when it is not possible to save everyone”. Eine etwas andere, aber analog funktionierende Version des Arguments vertritt bereits Kavka G. The numbers should count. Philosophical Studies 1979: 285-294, 291 f; nochmals nachdrücklich, im Rückgriff auf Kamm, Hirose I. Saving the greater number without combining claims. Analysis 2001: 341-342, 341; vgl. auch Hirose I. Aggregation and Numbers. Utilitas 2004: 62-79, bes. 68-70. 
  • 10 Kamm [9]: 83. 
  • 11 Für Leserinnen und Leser, die mit diesen Begriffen möglicherweise aus anderen medizinethischen Kontexten vertraut sind, sei hinzugefügt, dass ich mit dieser Unterscheidung im moralphilosophischen Grundlagenstreit zwischen Deontologen und Konsequentialisten für die deontologische Seite optiert habe. 
  • 12 Lübbe W. Veralltäglichung der Triage? Überlegungen zu Ausmaß und Grenzen der Opportunitätskostenorientierung in der Katastrophenmedizin und ihrer Übertragbarkeit auf die Alltagsmedizin.  Ethik in der Medizin. 2001;  148-160
  • 13 Nicht erläutern kann ich hier auch das genaue Verhältnis zum (in der Philosophie sehr umstrittenen) Konzept einer vernünftigen Wahl hinter dem „Schleier des Nichtwissens”, das aus der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls stammt und in der allokationsethischen Diskussion als Alternative zum Utilitarismus vorgestellt wird; vgl. z. B. Lauterbach KW, Schrappe M (Hrsg). Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidence-based Medicine. Eine systematische Einführung. Stuttgart/New York: Schattauer, 2004: 6-9. Bei Entscheidungsproblemen, die die Struktur des David-Dilemmas haben, kommt man jedenfalls mit dem Rawls’schen Unterschiedsprinzip nicht weiter. 

1 Für die Gültigkeit des Arguments macht es keinen Unterschied, ob die mit David konkurrierende Gruppe aus zwei oder aus mehr Personen (zum Beispiel fünf) besteht.

Prof. Dr. Weyma Lübbe

Universität Leipzig, Institut für Philosophie

Beethovenstraße 15

04107 Leipzig

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