Notfall & Hausarztmedizin (Hausarztmedizin) 2004; 30(2): 59
DOI: 10.1055/s-2004-820792
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Osteoporose zu ignorieren ist menschenverachtend

Helmut W. Minne1
  • 1Bad Pyrmont
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Publikationsdatum:
30. März 2004 (online)

Wenn ein 76-jähriger Patient eine proximale, hüftgelenksnahe Femurfraktur erleidet, so beträgt die durchschnittliche Lebensverkürzung durch vorzeitiges Sterben zirka sieben Jahre. Auch wenn die Fraktur jenseits des 80. Lebensjahres auftritt, dann wird die resultierende Lebensverkürzung noch immer Jahre betragen.

Das Risiko vorzeitigen Sterbens als Folge der frakturbedingten Anhebung der Multimorbidität steigt auch bei Patienten mit Wirbelkörperfrakturen exponentiell an. Es konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass die Lungenfunktion, gemessen als Vital- oder Sekundenkapazität, durch Wirbelfrakturen beeinträchtigt wird.

Jährlich ereilt die proximale Femurfraktur in Deutschland 130000 Männer und Frauen, bei der Mehrzahl durch Osteoporose mitverursacht. 220000 Männer und Frauen erleben in Deutschland jährlich frische Wirbelkörpereinbrüche, auch dies bei der Mehrzahl durch Osteoporose verursacht. Versorgungspflichtige Invalidität entsteht bei mehr als 20 % der Patienten mit proximalen Femurfrakturen, bei weniger als 5 % der Kontrollpersonen, während der ersten zwölf dem Ereignis folgenden Monate. Mehrheitlich berichten Patienten mit Wirbelbrüchen, dass sie bei der Selbstversorgung, bei alltäglichen Arbeiten im Haushalt, von Fremdhilfe abhängig werden.

Mehrheitlich berichten Männer und Frauen, dass Wirbelkörpereinbrüche mit den schlimmst vorstellbaren und je erlebten Schmerzen assoziiert sind, die über Wochen und Monate anhalten. Dies berichten auch die Patienten, die den Schmerz bei Gallenkolik, bei Nierenkolik, bei Herzinfarkt, unter der Geburt aus eigener Erfahrung kennen. Sie berichten aber auch, dass ihnen die Beschwerden nicht geglaubt werden, dass ihnen Wichtigtuerei und Sozialschmarotzertum unterstellt wird.

Wenn wir weiterhin zulassen, dass die Osteoporosen als herbeigeredete Krankheiten beschrieben werden, dass die Patienten gekränkt und denunziert werden, dass den Organisatoren von klinischen Studien mangelnde Redlichkeit und Industriehurentum unterstellt wird, dann lassen wir zu, dass auch zukünftig hunderttausende Männer und Frauen mit ihrer schmerzhaften Krankheit alleingelassen werden, dass adäquate Pharmakotherapien vorenthalten werden, dass notwendige Rehabilitationsmaßnahmen verweigert werden, dass die Kosten für die notwendig werdenden Behandlungen nach Brüchen, ausgehend von zur Zeit jährlich mehr als 5 Milliarden Euro, weiter explodieren werden.

Osteoporose weiter zu ignorieren ist menschenverachtend, ist unmoralisch und ist außerdem eine gesundheitsökonomische Dummheit.

Prof. Dr. med. Helmut W. Minne

Bad Pyrmont