Z Sex Forsch 2005; 18(1): 24-29
DOI: 10.1055/s-2004-820280
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sadomasochismus 100 Jahre nach den „Drei Abhandlungen”

L. Böllinger
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Publication Date:
13 April 2005 (online)

I.

Rückschauend auf eine dreijährige abgeschlossene Analyse mit einer zuletzt 29-jährigen Frau mit manifester masochistischer Perversion finde ich, dass die „Drei Abhandlungen” auch gegenwärtig noch aufschlussreich sind. Im Vorwort zur dritten Auflage betont Freud in gewohnt nüchterner Selbstbegrenzung, seine Abhandlungen beruhten ausschließlich auf den „psychoanalytischen Erfahrungen”, seien keine „Sexualtheorie” und nähmen „zu manchen wichtigen Problemen des Sexuallebens überhaupt nicht Stellung” [4: S. 29]. Auch zur Biologie baut er keine Gegenposition auf, sondern sieht sie - was er im Vorwort zur 4. Auflage noch einmal betont - als unabhängige Wissenschaft, deren Sicht der „Wirklichkeit” nicht die allein mögliche oder richtige sei [4: S. 32]. Schon 1905 bezeichnet Freud den Sadomasochismus als die häufigste und bedeutsamste aller Perversionen [4: S. 56 ff]. Die Sexualität der meisten Männer zeige „eine Beimengung von Aggression, von Neigung zur Überwältigung”, eine „aggressive Komponente” des Sexualtriebes, die Freud auch für kulturhistorisch belegt und biologisch ko-determiniert hält. Aber nur die ausschließliche Bindung der Befriedigung an die Unterwerfung und Misshandlung des Sexualobjekts bzw. des Selbst könne als Perversion bezeichnet werden, ein Hinweis auf die prägenitale Genese der entsprechenden Konflikte. Und er geht von einer „Ergänzungsreihe von konstitutionellen und akzidentellen Faktoren” aus [4: S. 141], womit auch der soziologische und der Gender-Aspekt angesprochen erscheinen. So viel kurz zur Erinnerung an den hinreichend bekannten, immer wieder eindrucksvollen Text.

Freud war im aufklärerischen Sinne bestrebt, die menschliche Wirklichkeit zu erfassen, und zwar im Bewusstsein, dass dies immer nur vorläufige, aus der Perspektive der verschiedenen Disziplinen wechselseitig zu ergänzende oder zu kritisierende Sichten (heute: Konstruktionen) von Wirklichkeit sind. So gesehen würde ich seine Methode nicht nur als interdisziplinär bezeichnen, sondern auch als transdisziplinär in dem Sinne, dass die jeweiligen Konstrukte immer nur vorläufige sind und eine spezifische und ständig zu erneuernde Erkenntnismethode erfordern. So verstanden ist die psychoanalytische Methode Teil eines Erkenntnisgeflechts und zugänglich für andere Erfahrungswissenschaften, welche die sich wandelnde gesellschaftliche Realität zu erfassen suchen. Allerdings haben wir es beim „Projekt der Moderne” - der Vollendung der Aufklärung - heute mit starken Widerständen zu tun: Ein verselbständigter Neo-Biologismus grassiert, und dem offiziell verkündeten Anspruch der Transdisziplinarität opponiert die Faktizität disziplinärer und narzisstischer Machtkämpfe um Ressourcen und Definitionsherrschaft sowie die aggressive Kollusion von Medien, Stammtischen und Politik. Gerade Letzteres erscheint mir als wesentlicher Aspekt der widersprüchlichen, immer wieder neu zu analysierenden gesellschaftlichen Realität.

  • 1 Becker S. Weibliche Perversion.  Z Sexualforsch. 2002;  15 281-301
  • 2 Becker S. Frauen und Perversion.  Psychodyn Psychother. 2003;  2 155-166
  • 3 Dornhof D. Inszenierte Perversionen. Geschlechterverhältnisse zwischen Pathologie und Normalität um die Jahrhundertwende. In: Hornscheidt A et al. (Hrsg). Kritische Differenzen - Geteilte Perspektiven. Zum Verhältnis von Feminismus und Postmoderne. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998; 253-277
  • 4 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Gesammelte Werke, Bd. 5. London: Imago, 1942; 27-145
  • 5 Gsell M. Weibliche Perversion und die Verleugnung des Phallus. [Rezension des Buches „Perversionen der Frau” von Estela V. Welldon]. Querelles-Net 2003; Nr. 11, www.querelles-net.de/2003-11/text15.shtml
  • 6 Kaplan L J. Weibliche Perversionen. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1991
  • 7 Quensel E. Weibliche Perversion?. In: Kolte B et al. (Hrsg). Gedankengefängnisse aufbrechen. Festschrift für Stephan Quensel zum 65. Geburtstag. 2001. www.bisdro.uni-bremen.de/FSQUENSEL/festschrift_index.htm
  • 8 Welldon E V. Perversionen der Frau (1992). Um ein aktuelles Vorwort von S. Becker ergänzte Neuaufl. der Ausg. Waiblingen 1992. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2003