Z Sex Forsch 2004; 17(2): 116-133
DOI: 10.1055/s-2004-820275
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Alter, Beziehungsform und Beziehungsdauer als Faktoren sexueller Aktivität in heterosexuellen Beziehungen

Eine empirische Studie an drei GenerationenG. Schmidt, S. Matthiesen, U. Meyerhof
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
22. Juli 2004 (online)

Übersicht:

Die sexuelle Aktivität in heterosexuellen Beziehungen ist ein zentraler Topos der empirischen Sexualforschung. Auch die vorliegende Studie, welche die sexuelle Aktivität an drei Generationen untersucht, greift diesen Topos auf. Das geschieht allerdings vor dem Hintergrund der diversifizierten Paarbeziehungen und immer häufigeren Wechseln zwischen Single- und Beziehungsperioden. Ausgewertet wurden die Daten einer Interviewstudie von 776 großstädtischen Frauen und Männern, und es wird der Einfluss von Alter, Beziehungsstatus und Beziehungsform sowie der Dauer der Beziehung auf die Koitusfrequenz untersucht. Heterosexueller Geschlechtsverkehr ist, wie die Analyse der Daten zeigt, auch gegenwärtig in hohem Maße an „feste Beziehungen” gebunden. Die Koitusfrequenz in Beziehungen ist aber stark abhängig von der Dauer der Beziehung. Diese ist einflussreicher als das Alter der Befragten. Bestätigt werden konnte ein Ergebnis aus einer früheren Hamburger empirischen Studie, das die Autorinnen als geschlechtsspezifische Polarisierung sexueller und zärtlicher Wünsche im Verlaufe einer Beziehung bezeichnen. In der Paarbildungsphase unterscheiden sich die sexuellen und zärtlichen Wünsche von Frauen und Männern nicht wesentlich voneinander. Mit zunehmender Dauer der Beziehung fallen die Wünsche von Männern und Frauen jedoch auseinander: Typisch für den in einer längeren Beziehung lebenden Mann ist der Wunsch nach häufigerem Sex und für die in einer längeren Beziehung lebenden Frau der Wunsch nach Zärtlichkeit. Die Autorinnen deuten dieses Phänomen als eine Retraditionalisierung der Geschlechterrollen im Verlaufe von heterosexuellen Beziehungen.

Literatur

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1 Affektive, interaktive und konfliktpsychologische Merkmale, die einen erheblichen Effekt auf sexuelle Aktivität und Zufriedenheit haben, sowie soziale Variablen wie Schicht, Einkommen, Berufstätigkeit usw. werden hier nicht berücksichtigt.

2 Entgegen den Befunden anderer Surveys, in denen sich die Frequenzangaben von Männern und Frauen nur geringfügig unterscheiden (vgl. zusammenfassend Bozon 1998), berichten in unserer Studie Männer über höhere Koitusfrequenzen als Frauen. Dieser Unterschied bleibt auch dann bestehen, wenn man wichtige Merkmale (Alter, Dauer der Beziehung) kontrolliert: Frauen hatten durchschnittlich 5,6, Männer über 6,8 Mal Koitus in den letzten 4 Wochen. Diese Diskrepanz ist vor allem durch einen geschlechtsspezifischen Reportbias zu erklären.

3 Das gilt, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt, ebenfalls für homo- und bisexuelle Männer, bei denen 83 % aller Geschlechtsverkehre in den letzten 4 Wochen in festen Beziehungen erfolgten.

4 4 % der 60-Jährigen und 7 % bzw. 6 % der 45- bzw. 30-Jährigen, die in einer festen Beziehung leben, haben im Jahr vor der Befragung Sex mit einem anderen Partner/ einer anderen Partnerin gehabt. In der Regel bleibt der außerpartnerschaftliche Sex ein sporadisches Phänomen (1 - 3 Akte pro Jahr). Männer berichten etwas häufiger als Frauen über außerpartnerschaftliche sexuelle Erfahrungen.

5 Bei Kinsey taucht das Merkmal „Beziehungsdauer” nur einmal auf, und zwar bei der Analyse der Orgasmushäufigkeit der Frau (Kinsey et al. 1953 : 383 f).

6 Die Autoren des US-amerikanischen Surveys (Laumann et al. 1994) untersuchen den Einfluss der Beziehungsdauer hingegen nicht, sondern in Kinseyscher Tradition nur das Alter.

7 Kritisch zu bedenken ist, dass wir hier (wie die anderen Surveys auch) pseudo-longitudinale Daten analysieren. Eine exakte Analyse wäre nur möglich, wenn man die Koitusfrequenzen derselben Befragten in den Abschnitten x bis n ihrer Partnerschaft untersuchte, also für jeden Befragten Wiederholungsmessungen erhebt. Pseudo-longitudinale Studien können die Ergebnisse durchaus verzerren, z. B. in dem hypothetischen Fall, dass Männer und Frauen, die zu langen Beziehungen neigen, sexuell weniger aktiv oder motiviert sind als solche, die zu hoher Beziehungsfluktuation neigen und mithin eher in kürzeren Partnerschaften leben (vgl. dazu Klusmann 2000 : 151 f).

Prof. Dr. phil G Schmidt
Dipl.-Soz. S Matthiesen
U Meyerhof

Institut für Sexualforschung und forensische Psychiatrie

Zentrum für Psychosoziale Medizin

Universität Hamburg

Martinistraße 52

20246 Hamburg