Z Sex Forsch 2003; 16(2): 160-166
DOI: 10.1055/s-2003-40682
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Eine neue Sicht der sexuellen Probleme von Frauen [1]

The Working Group for A New View of Women’s Sexual ProblemsL. Tiefer
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Publication Date:
15 July 2003 (online)

Einleitung

In den letzten Jahren hat sich das öffentliche Interesse im Zuge neuer Möglichkeiten zur Behandlung der Erektionsprobleme von Männern in wachsendem Maße auf die Sexualität von Frauen gerichtet und einen kommerziellen Wettlauf um die Entdeckung des „Viagra für Frauen” in Gang gesetzt. Die sexuellen Probleme von Frauen unterscheiden sich jedoch grundlegend von den sexuellen Problemen von Männern; diese Unterschiede werden weder untersucht noch berücksichtigt.

Wir sind der Meinung, dass das gegenwärtig verwendete medizinische Klassifikationsschema, welches 1980 von der American Psychiatric Association für ihr Diagnostic and Statistical Manual of Disorders (DSM) entwickelt und 1987 und 1994 revidiert wurde, ein wesentliches Hindernis für das Verständnis der weiblichen Sexualität darstellt. Das Klassifikationsschema unterteilt die sexuellen Probleme von Frauen (ebenso wie die von Männern) in vier Kategorien von Funktionsstörungen: Störungen der sexuellen Appetenz, Störungen der sexuellen Erregung, Orgasmusstörungen sowie Störungen mit sexuell bedingten Schmerzen. Bei diesen „Dysfunktionen” handelt es sich um Abweichungen von einem für universell erklärten sexualphysiologischen Reaktionsmuster (einer „Normalfunktion”), das zum ersten Mal von Masters und Johnson in den 1960ern beschrieben wurde (Masters und Johnson 1966, 1970).

In den letzten Jahrzehnten sind die Mängel dieses Ansatzes und seiner Anwendung auf Frauen zur Genüge dokumentiert worden (Tiefer 1991; Basson 2000). Die drei gravierendsten Verzerrungen, die durch einen Ansatz entstehen, der Sexualprobleme auf Störungen der physiologischen Funktionen reduziert, als sei Sexualität der Atmung oder der Verdauung vergleichbar, sind folgende:

1. Eine falsche Vorstellung von der Gleichsetzbarkeit von Männern und Frauen. Weil die frühen Forschungen die Ähnlichkeiten der physiologischen Reaktionen von Männern und Frauen während ihrer sexuellen Aktivitäten unterstrichen haben, ging man davon aus, dass sich auch ihre sexuellen Störungen gleichen müssten. Nur wenige Forscher befragten Frauen nach ihren Erfahrungen aus eigener Sicht. Als solche Studien dann durchgeführt wurden, zeigte sich, dass Frauen und Männer sich in vielen wichtigen Hinsichten unterscheiden. Die Schilderungen von Frauen passen mehr schlecht als recht in das Modell von Masters und Johnson. So unterscheiden Frauen beispielsweise kaum zwischen „Begehren” und „Erregung”, sie messen der körperlichen Erregung weniger Bedeutung bei als der subjektiv erlebten, und ihre sexuellen Beschwerden konzentrieren sich oft auf „Schwierigkeiten”, die im DSM überhaupt nicht vorkommen (vgl. Frank etal. 1978; Hite 1976; Ellison 2000).

Die Betonung genitaler und physiologischer Ähnlichkeiten von Männern und Frauen ignoriert außerdem die Bedeutung von Ungleichheiten, die mit Geschlechterrollen, sozialer Klasse, Ethnizität, sexueller Orientierung etc. zusammenhängen. Die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse einschließlich der weit verbreiteten sexuellen Gewalt verwehren Frauen in vielen Teilen der Welt den Zugang zu sexueller Gesundheit, Lust und Befriedigung. Die soziale Umgebung von Frauen kann also die Entfaltung biologischer Fähigkeiten verhindern; diese Realität wird jedoch durch ein rein physiologisches Verständnis sexueller Dysfunktionen vollkommen ausgeblendet.

2. Die Leugnung des Beziehungscharakters von Sexualität. Der Ansatz, den die American Psychiatric Association im DSM verfolgt, umgeht die Beziehungsaspekte weiblicher Sexualität, die oft die Grundlage sowohl der sexuellen Zufriedenheit als auch sexueller Probleme sind: das Verlangen nach Intimität, der Wunsch, dem Partner oder der Partnerin zu gefallen oder ihn bzw. sie nicht zu verletzen, zu verlieren oder zu verärgern. Dem DSM liegt ein völlig individualistisches Verständnis von Sexualität zugrunde; solange die sexuellen „Teile” funktionieren, gibt es keine Probleme, nur wenn die „Teile” nicht mitspielen, gibt es ein Problem. Viele Frauen begreifen ihre sexuellen Schwierigkeiten jedoch nicht auf diese Weise. Die Reduktion der „normalen Sexualfunktion” auf Physiologie, die im DSM kanonisiert ist, impliziert fälschlicherweise, dass man genitale und physiologische Schwierigkeiten ohne Rücksicht auf die Beziehungen, innerhalb derer Sexualität stattfindet, messen und behandeln könne.

3. Die Einebnung der Unterschiede zwischen Frauen. Nicht alle Frauen sind gleich, und ihre sexuellen Bedürfnisse, ihre Befriedigung und ihre Probleme lassen sich kaum den Kategorien Appetenz, Erregung, Orgasmus oder Schmerz zuordnen. Frauen unterscheiden sich in ihren Werten, in ihrer Einstellung zur Sexualität, nach ihrem sozialen und kulturellen Hintergrund und nach ihren aktuellen Lebenssituationen. Diese Unterschiede können nicht durch den Einheitsbegriff „Dysfunktion” oder auch eine einheitliche Behandlung eingeebnet werden.

Da es gegen die soziokulturellen, politischen, psychologischen, sozialen oder Beziehungsursachen weiblicher Sexualprobleme keine Wundermittel gibt, konzentrieren sich die von der Pharmaindustrie unterstützten Forschungs- und Public-Relations-Programme auf die Reparatur des Körpers, insbesondere der Genitalien. Das industrielle Sponsoring der Sexualforschung und die fortwährenden Medienberichte über angebliche „Durchbrüche” bei der Behandlung haben die öffentliche Aufmerksamkeit ganz auf körperliche Probleme gelenkt und diese aus ihrem Kontext herausgelöst. Faktoren, die weitaus häufiger zur Quelle sexueller Probleme von Frauen werden - wie zum Beispiel Beziehungs- und Kulturkonflikte oder sexuelle Unkenntnis oder Angst -, werden heruntergespielt oder abgetan. Solche Faktoren werden der Generalkategorie „psychische Ursachen” zugeschlagen und weder angesprochen noch erforscht. Frauen mit diesen Problemen werden von der klinischen Erprobung neuer Wirkstoffe ausgeschlossen. Die neuen Arzneimittel werden, darauf deuten die gegenwärtigen Vermarktungspraktiken bei Männern hin, aggressiv beworben und gegen jede Form von sexueller Unzufriedenheit bei Frauen eingesetzt werden.

Diese Entwicklung muss dringend korrigiert werden. Wir schlagen eine neue und sinnvollere Klassifikation weiblicher Sexualprobleme vor, die den individuellen Nöten und Hemmungen, die innerhalb eines breiteren Kontexts von kulturellen und Beziehungsaspekten auftreten, einen angemessenen Stellenwert einräumt. Wir kritisieren die kulturellen Vorannahmen, die dem DSM zugrunde liegen, und wenden uns gegen die reduktionistischen Forschungen und Vermarktungsprogramme der Pharmaindustrie. Wir fordern Forschungs- und Behandlungsmöglichkeiten, die nicht von kommerziellen Interessen angetrieben sind, sondern sich an den Bedürfnissen und den sexuellen Realitäten der Frauen orientieren.

1 Der Beitrag erschien unter dem Titel „A new view of women’s sexual problems” in der Zeitschrift „Women & Therapy” (2001; 24 [1/2]: 1-8) und gleichzeitig in dem von Ellyn Kaschak und Leonore Tiefer herausgegebenen Band „A new view of women’s sexual problems” (New York, London, Oxford: Haworth, 2001). - Aus dem Amerikanischen von Robin Cackett, Berlin. Der Text ist von einer Gruppe von zwölf Klinikerinnen und Sozialwissenschaftlerinnen verfasst und im Oktober 2000 auf einer Pressekonferenz in Boston vorgetragen worden. Die Gruppe nennt sich „The Working Group for A New View of Women’s Sexual Problems”. Ihr gehören an: Linda Alperstein, MSW; Carol Ellison, PhD; Jennifer R. Fishman, BA; Marny Hall, PhD; Lisa Handwerker, PhD, MPH; Heather Hartley, PhD; Ellyn Kaschak, PhD; Peggy Kleinplatz, PhD; Meika Loe, MA; Laura Mamo, BA; Carol Tavris, PhD; Leonore Tiefer, PhD.

Literatur

  • 1 American Psychiatric Association .Diagnostic and statistical manual of mental diseases. 3. Aufl. Washington, DC, 1980; 3., rev. Aufl. 1987; 4. Aufl. 1994 (dt.: Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen DSM-IV. Übersetzt nach der 4. Aufl. des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association. Dt. Bearb. und Einf. von H. Saß etal. 2., verb. Aufl. Göttingen u. a.: Hogrefe, Verlag für Psychologie; 1998)
  • 2 Basson R. The female sexual response revisited.  J Soc Obstet Gynecol Canada. 2000;  22 383-387
  • 3 Ellison C. Women’s sexualities. Oakland/CA: New Harbinger; 2000
  • 4 Frank E, Anderson C, Rubinstein D. Frequency of sexual dysfunction in „normal” couples.  New Engl J Med. 1978;  299 111-115
  • 5 Hite S. The Hite report: A nationwide study of female sexuality. New York: Macmillan; 1976 (dt.: Hite-Report - das sexuelle Erleben der Frau. München: Bertelsmann; 1977)
  • 6 Masters W H, Johnson V E. Human sexual response. Boston: Little, Brown and Co.; 1966 (dt.: Die sexuelle Reaktion. Frankfurt/M.: Akademische Verlagsgesellschaft; 1967)
  • 7 Masters W H, Johnson V E. Human sexual inadequacy. Boston: Little, Brown and Co.; 1970 (dt.: Impotenz und Anogasmie. Zur Therapie funktioneller Sexualstörungen. Frankfurt/M.: Goverts Krüger Stahlberg; 1973)
  • 8 Ng E ML, Borras-Valls J J, Perez-Conchillo M, Coleman E ( Hrsg). Sexuality in the new millenium. Bologna: Editrice Compositor; 2000
  • 9 Tiefer L. Historical, scientific, clinical and feminist criticisms of the „Human Sexual Response Cycle”model.  Ann Rev Sex Res. 1991;  2 1-23
  • 10 [WHO] World Health Organisation .Education and treatment in human sexuality: The training of health professionals. 1975 (Technical Report, series Nr.572) (Der gesamte Text ist auf der Website des Magnus-Hirschfeld-Archivs an der Humboldt-Universität Berlin http://www2.hu-berlin.de/sexology abrufbar)

1 Der Beitrag erschien unter dem Titel „A new view of women’s sexual problems” in der Zeitschrift „Women & Therapy” (2001; 24 [1/2]: 1-8) und gleichzeitig in dem von Ellyn Kaschak und Leonore Tiefer herausgegebenen Band „A new view of women’s sexual problems” (New York, London, Oxford: Haworth, 2001). - Aus dem Amerikanischen von Robin Cackett, Berlin. Der Text ist von einer Gruppe von zwölf Klinikerinnen und Sozialwissenschaftlerinnen verfasst und im Oktober 2000 auf einer Pressekonferenz in Boston vorgetragen worden. Die Gruppe nennt sich „The Working Group for A New View of Women’s Sexual Problems”. Ihr gehören an: Linda Alperstein, MSW; Carol Ellison, PhD; Jennifer R. Fishman, BA; Marny Hall, PhD; Lisa Handwerker, PhD, MPH; Heather Hartley, PhD; Ellyn Kaschak, PhD; Peggy Kleinplatz, PhD; Meika Loe, MA; Laura Mamo, BA; Carol Tavris, PhD; Leonore Tiefer, PhD.

Leonore Tiefer Ph.D 

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