Z Sex Forsch 2016; 29(04): 307-309
DOI: 10.1055/s-0042-124544
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schwerpunktheft: 40 Jahre Foucaults Sexualität und Wahrheit

Sven Lewandowski
a   Institut für Politikwissenschaft und Soziologie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
,
Arne Dekker
b   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication History

Publication Date:
22 February 2017 (online)

„Vierzig Jahre“ sind der klassische Ausdruck für eine Generation. Gering ist die Zahl der Werke, die man vierzig Jahre nach ihrem Erscheinen noch mit Gewinn lesen kann, noch geringer jene derer, die einen Paradigmenwechsel markieren, der es erlaubt, das Denken über den jeweiligen Gegenstand in ein Vorher und ein Nachher zu unterteilen. Für die wissenschaftliche Erforschung der Sexualität und das allgemeine (Nach-)Denken über Sexualität trifft dies auf zwei Werke in besonderer Weise zu: Sigmund Freuds erstmalig 1905 publizierte Schrift „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ und Michel Foucaults „Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Band I“ von 1976 (dt. 1977), der ursprünglich der Auftakt zu einer auf sechs Bände angelegten Untersuchung zur Geschichte der Sexualität bilden sollte.[1]

Wie bereits anlässlich des hundertjährigen Jubiläums von Freuds „Drei Abhandlungen“[2] nimmt die Zeitschrift für Sexualforschung das Jubiläum von Foucaults „Der Wille zum Wissen“ zum Anlass, dieses Werk in einem Schwerpunktheft zu würdigen. Wiederum widmen sich mit der Zeitschrift verbundene Autorinnen und Autoren einem epochemachenden Werk aus vielfältigen Perspektiven – mit besonderem Augenmerk auf die Bedeutung dieses Werks für die eigene Arbeit, das eigene Denken und den eigenen Werdegang.

Die Zahl „vierzig“ mag als willkürlich oder gar zufällig gewählt erscheinen. Wie bereits gesagt fällt jedoch auf, dass sie klassisch der Spanne einer Generation entspricht. Im Gegensatz zu einem hundertjährigen Jubiläum liegt der zusätzliche Reiz eines vierzigjährigen Jubiläums darin, dass nicht nur die „Nachgeborenen“ über das Werk schreiben können, sondern auch jene, die von den Umwälzungen, die das zu würdigende Werk bewirkte – hier: dem „Foucault-Schock“ – noch aus eigenem Erleben berichten können. All jene hingegen, die heutzutage über Freud schreiben, sind vielleicht nicht mit Freud, aber in einem (post-) freudianisch geprägten Zeitalter aufgewachsen. Ähnlich wie ältere Fachkolleginnen und -kollegen mit den Schriften Freuds (oder auch gegen sie) wissenschaftlich zu denken lernten, geht es einer Vielzahl jüngerer (Sozial- und Geistes-)WissenschaftlerInnen mit Foucault. Und wie Freud viele Ältere überhaupt erst zur Sexualwissenschaft gebracht haben mag, so geht es den Jüngeren mit den Werken Foucaults im Allgemeinen und „Sexualität und Wahrheit“ im Speziellen. Sie können „Sexualität“ möglicherweise gar nicht mehr ohne „Wahrheit“ denken, aber auch nicht mehr Zusammenhänge von Sexualität und Wahrheit ohne Foucault.

Michel Foucault hat den ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“ als „Leuchtbombe“ (1977: 8) verstanden und sich als Ziel gesetzt, einige historische „Probebohrungen“ vorzunehmen (ebd.: 7). Aus Anlass des Schwerpunktheftes zum 100. Jubiläum von Freuds „Drei Abhandlungen“ (1905) schrieb Lewandowski vom Licht Freuds und der Schwierigkeit, aus seinem Schatten herauszutreten (2005: 72). „Sexualität und Wahrheit“ lässt sich auch als ein Versuch lesen, diese Schwierigkeit zu meistern oder zumindest anzugehen. Jedoch wird man Autor und Werk nicht gerecht, wenn man Sexualität und Wahrheit lediglich als Kritik an Freud respektive dem Freudomarxismus liest. Foucault geht es um weitaus mehr, nämlich darum, die zunächst bescheiden daherkommende Frage zu stellen, ob die moderne Gesellschaft Sexualität tatsächlich nur unterdrückt habe, wie jene meinen, die Foucault als Vertreter der „Repressionshypothese“ bespöttelt. Allerdings zieht er weniger in Zweifel, dass Sexualunterdrückung vorgekommen sei, als dass er fragt, ob eine Unterdrückung des Sexuellen die „ganze Geschichte“ sei. Wer so fragt, kann seine Hypothese, dass dem nicht so sei, nicht lange verbergen und so fällt Foucault mit der Tür ins Haus, wenn er argumentiert, dass die Geschichte der Sexualität nur unzureichend begriffen werde, wenn man sie von der Unterdrückung her schreibe. Vielmehr sei nach jenen gesellschaftlichen Mechanismen zu fragen, die das Sexuelle angereizt, hervorgelockt, in die Reflexion gedrängt und an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt haben, mithin um das Sexuelle einen Diskurs entfaltet, das Sexuelle in eine „diskursive Existenz“ getrieben hätten. Ja, mehr noch: Zu fragen sei, wie ebenjener Diskurs das, was wir unter „Sexualität“ verstehen, erst hervorgebracht habe.

Der Paradigmenwechsel, auf den Foucault abzielt und den seine Schrift einleitet, ist ähnlich radikal wie jener, den Freuds „Drei Abhandlungen“ (1905) markieren: Wie Freud zeigt, dass die „normale“ Sexualität ein Amalgam unterschiedlicher Partialtriebe und ein Produkt psychosexueller Entwicklungen ist, also eine Geschichte hat, so zeigt Foucault, dass dies nicht nur für die individuelle Sexualität gilt, sondern auch für die gesellschaftliche Vorstellung von Sexualität, ja „Sexualität“ selbst das Produkt einer sozio-historischen Genese ist, die nicht einer Logik der Repression folgt bzw. als eine solche zu entschlüsseln ist. In gewisser Weise lässt sich also formulieren, dass Foucault Freuds Projekt einer Denaturalisierung des Sexuellen sowohl weitertreibt als auch radikalisiert. In der Sexualwissenschaft wurde Foucault folglich – neben den Interaktionisten William Simon und John Gagnon (1973) – zu einem der zentralen Bezugspunkte „konstruktivistischer“ Argumentationen: Seine Theorie bot das kulturwissenschaftliche Werkzeug für eine Kritik „essentialistischer“, d. h. meist medizinischer oder naturwissenschaftlicher Positionen zur Sexualität. Statt den Blick etwa auf biologische Ursachen von Homosexualität zu richten, ließ sich mit Foucault fragen, wie Homosexualität als medizinische Kategorie (und damit als soziale Tatsache) historisch entstanden war, und wie dabei ein abweichendes Verhalten mit unserer auch heute noch wirksamen Vorstellung von einer spezifischen homosexuellen Identität verknüpft wurde. Hatte sich Foucault bereits in seinem Werk „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1969) mit den gesellschaftlichen Mechanismen der Aussonderung von „Anderem“ beschäftigt, ermöglichte er mit „Der Wille zum Wissen“ (1977) einen kritischen Blick auf die universelle medizinische und naturwissenschaftliche Deutungshoheit sexueller und geschlechtlicher Abweichung.

Foucault zeigt, dass auch „Sexualität“ gesellschaftlich produziert ist und zwar nicht mittels Sexualunterdrückung, sondern mittels eines permanenten Anreizes zum Diskurs, dem sich bald niemand mehr entziehen kann. Foucaults zentrale These läuft darauf hinaus, dass die Genese des modernen Subjekts und die Genese der modernen Sexualität ineinander fallen: Sexualität wird zum Kern subjektiver Identität, sodass (noch immer) gilt: Sage mir, was du begehrst, und ich sage dir, wer du bist. Oder – in Bezug auf das Thema dieses Schwerpunkthefts: Sage mir, wie du dich zu Foucault stellst und ich sage dir… aber lesen Sie selbst.