Z Sex Forsch 2016; 29(04): 351-360
DOI: 10.1055/s-0042-124488
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Michel Foucault, die Macht, die Sexualität und der Körper

Volkmar Sigusch
a   Institut für Sexualwissenschaft, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main, jetzt: Praxisklinik Vitalicum am Opernplatz
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
22 February 2017 (online)

An Foucault scheiden sich die Geister. Für die einen ist er ein Irrationalist, Nihilist oder Anarchist, für die anderen ein Strukturalist oder gar Systemtheoretiker. Für die einen ist er ein geistiger Wegbereiter der extremen Linken, für die anderen ein rechter Wirrkopf, der das Projekt der Aufklärung verrät. Die einen sehen in ihm den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, andere, vor allem Schulphilosophen, sprechen von frog fog (Frosch/Franzose; Nebel), wenn sein Name fällt. Habermas (1984: 13) sagte nach Foucaults Tod, er sei von den „philosophischen Zeitdiagnostikern seiner Generation“ derjenige gewesen, der den Zeitgeist „am nachhaltigsten affiziert“ habe, und es sei zu bewundern, mit welchem Ernst „er in produktiven Widersprüchen“ ausharrte. Zweifellos ist der Einfluss des Foucault’schen Denkens in westlichen Ländern beinahe einmalig im Hinblick auf fächerübergreifende Rezeption und Anwendung. Seine Diskurs- und Machtanalytik wurde als neues Forschungsinstrument erprobt; seine Machttheorie wurde als Kritik moderner Gesellschaften weiterentwickelt; seine ästhetischen Einsichten in die Funktion moderner Kunst wurden erörtert; und seine Darlegungen antiker Lebensführung wurden unter dem Aspekt ernst genommen, ob sie ein normatives Kriterium zu liefern vermögen. Zahllose Studien in verschiedenen Disziplinen, von der Literatur- bis zur Sexualwissenschaft, sind direkt von Foucaults Werk angeregt worden; mehr noch: die Richtungen Konstruktivismus und Dekonstruktivismus gingen von ihm (und daneben Derrida und Lacan) aus. Und wir alle sprechen mittlerweile beispielsweise von Diskurs, einem Terminus, der durch Foucault geradezu populär wurde bis in den wissenschaftlichen Jargon und die Alltagssprache hinein, was Philosophen nicht so oft gelingt. Trotz dieses Einflusses halten die meisten Foucault für einen Eklektiker, der das, was schon lange gedacht und damit kritisiert worden ist, von der Überschätzung und Selbstüberschätzung des bürgerlichen Subjekts über die Verheerungen der instrumentellen Vernunft bis hin zum gesamten okzidentalen Rationalismus, der das alles ebenso angestrengt systematisch wie locker schweifend noch einmal mit tragischem Weltblick und nostalgischem Optimismus einer Kultgemeinde zum Besten gab. Claudia Honnegger (1982: 501) sprach vom „Gestus der schillernden Revolte“.

Oft danach gefragt, wer ihn geistig beeinflusst habe, hat Foucault immer wieder Nietzsche und Heidegger genannt, außerdem Schriftsteller der Transgression und des Eigenlebens der Sprache wie Bataille, Nerval, Mallarmé, Artaud, Raymond Roussel. Als ein Strukturalist wollte er auf gar keinen Fall angesehen werden, obgleich er nachweislich vom Strukturalismus zehrte und ihn auch bis in die Begriffe hinein aufgriff (vgl. die Änderung des Vokabulars von Ausgabe zu Ausgabe). Er befürchtete wohl, nicht als eigensinniger Denker gewürdigt zu werden, wenn man ihn in den französischen Modetopf des Strukturalismus oder der nouveaux philosophes werfen würde. Nachdem er in seinem philosophischen Hauptwerk „Les mots et les choses“ (1966) – dessen deutschen Titel „Die Ordnung der Dinge“ (1971) er übrigens treffender fand als den Originaltitel – die Humanwissenschaften in Grund und Boden, das heißt mit ihm: archäologisch, kritisiert hatte, bricht er für die „Gegenwissenschaften“ Ethnologie und Psychoanalyse eine Lanze, weil sie „den Menschen auflösen“ (Foucault 1966/1993: 453) und in Strukturen denken. Er meint also nicht Malinowski und Freud, wie einige annahmen, sondern Lévi-Strauss und Lacan.

Die Urteile und Meinungen über Foucault und sein Werk können hier nicht zurechtgerückt werden. Gesagt aber sei: Ihn als einen rechten Denker zu denunzieren, weil er analytisch ratifiziere, was die Menschen unter den ausweglosen Verhältnissen des Spätkapitalismus werden mussten: nämlich „steuerbare Anhängsel eines allmächtigen Apparates“ (Schmidt 1969: 231), ist selbst den Bornierungen der subjektzentrierten Vernunft geschuldet. Und ihm einen „Rückzug aus dem Humanismus“ (Sloterdijk 1972: 181) vorzuwerfen, den er ernsthaft begründet vollzogen hat, vergisst: dass ihn Adorno bereits begründet und vollzogen hatte, soweit das überhaupt in einer „humanen“ Gesellschaft möglich ist. Anfang der 1960er-Jahre aufgefordert, in die „Humanistische Union“ einzutreten, antwortete Adorno öffentlich, er würde höchstens einer „Antihumanistischen Union“ beitreten. Noch in seiner „Ästhetischen Theorie“ (Adorno 1970: 54) hat er das „Geschwafel vom Menschen“ als das Korrelat der real ansteigenden Unmenschlichkeit gekennzeichnet. Foucault hat begriffen, dass sie alle, Psychiater wie Gefängnisdirektoren und Theologen, linke wie rechte Politiker, Stalinisten wie Nationalsozialisten, eine conditio humana im Munde führen: dass der Humanismus samt seiner Humanwissenschaften die Ideologie seiner Verhinderung ist. Für mich ist Foucault ein Kritiker der Aufklärung in der Nachfolge der Kritischen Theorie, die er, wie er selbst sagte, leider viel zu spät, nämlich während seiner produktiven Jahre überhaupt nicht studiert hatte, ein Kritiker des okzidentalen Rationalismus mit einer enormen Historisierungswut, der die herkömmlichen Vernunfts-, Geschichts-, Gesellschafts- und Subjektauffassungen angreift, ohne eine einheitliche Theorie dagegenzusetzen. Wer die aus seinem Werk herausliest, ignoriert seinen Denkweg, der einer des ständigen Neuansatzes ist.

Ein Eklektiker ist Foucault ohne Frage. Manches bei ihm ist von Saussure, Merleau-Ponty, Lévi-Strauss, Duméziel, Hyppolite, Canguilhem entnommen, anderes von Bataille, Nietzsche, Husserl, Heidegger usw. Besonders belastet durch die geistige Situation in Frankreich war sein Verhältnis zur Existenzialphilosophie, besonders zur Institution Sartre, und zum Marxismus. In dem einen Buch schreibt er, der Marxismus „ruht im Denken des 19. Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser“ (Foucault 1966/1993: 320), im nächsten Buch sagt er, Marx habe einen epistemologischen Bruch, also in Foucaults Archäologie des Denkens und Wissens das Höchste, bewirkt. Reizvoll wäre, das Denken von Foucault und Marx in ein direktes Verhältnis zu setzen. Sein historisches Apriori hat mich jedenfalls sehr an Marxens Fetischcharakter erinnert. Und ein Subjektapriori haben sie beide nicht. Foucault setzt zunächst an die Stelle der traditionellen Subjekttheorie eine Diskurstheorie, später eine Machttheorie; bei Marx bestimmen nicht die Subjekte den Gang der Dinge, sondern die Entwicklung der Produktivkräfte und die Art und Weise der Produktionsverhältnisse. Was bei Marx, kategorial und „ontologisch“, die gesellschaftliche Arbeit ist, ist bei Foucault zunächst die kulturelle Vernunft, dann der Diskurs und die Sprache, schließlich die Macht und am Ende und bei genauester Lektüre durchlaufend: der Körper. Entsprechend hier: Arbeits-Kraft und Körper-Kraft, Waren-Körper und Menschen-Körper. Bei Marx ist der Mensch entfremdet, ein Anhängsel der Produktionsmaschinerie, bei Foucault ist er der Effekt von assujettissement (Unterwerfung) oder Wissensformationen, verschwindet immer dann, wenn Sprache „wiederkehrt“ (ebd.: 459). Beide denken mit und in Positivitäten, die dem individuellen Bewusstsein entzogen sind, beide argumentieren „positivistisch“ und sind theoretisch auf Transzendentalien wie Fetischcharakter oder Episteme angewiesen. Marxens Movens ist das Kapital, Foucaults ist letztlich die Macht. Für beide ist ihr Movens nicht nur schlecht, sondern produktiv im Sinne von Fortschritt bei Marx und Bereicherung bei Foucault.