Z Sex Forsch 2016; 29(04): 323-326
DOI: 10.1055/s-0042-120071
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Michel Foucault, der Rattenfänger der Sexualitätsgeschichte?

Franz X. Eder
a   Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

Bekanntermaßen wurde Michel Foucaults (1977) „Der Wille zum Wissen“ (WzW) erst relativ spät von der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft wahrgenommen – dafür fielen die Reaktionen umso heftiger aus. Am lautesten polemisierte wohl Hans-Ulrich Wehler, der dem französischen Philosophen „sadomasochistische […] Praktiken in San Francisco, vielleicht sogar, wie einige seiner Freunde in Berkeley meinen, die bewußte Übernahme des Aids-Risikos“ vorwarf und mit dessen unsolider Haltung als Wissenschaftler verknüpfte. Deshalb käme „jede Interpretation […] nicht darum herum, Foucaults Homosexualität zu berücksichtigen“. Er sei ein „intellektuell unredlicher, empirisch absolut unzuverlässiger, kryptonormativistischer ‚Rattenfänger’ für die Postmoderne“ (Wehler 1998: 88 ff.). Vielleicht fiel Wehlers Reaktion auch deshalb so emotional aus, weil sich Foucault über die historiografische Suche nach den „Ursprüngen“, der „eigentlichen Bedeutung“ und dem wahren „Verstehen“ von (Quellen-)Texten lustig gemacht und sie als „liebenswerte, aber verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen“ (Foucault 1973: 205) tituliert hatte. Für einen um sozialwissenschaftliche Objektivität bemühten „Bielefelder“ musste sich das besonders schmerzlich angefühlt haben.

Ich selbst gehörte eindeutig zur Foucault-Fraktion und habe WzW als „kopernikanische Wende in der historischen Sicht der menschlichen Sexualität und Infragestellung scheinbar unverrückbarer Grundannahmen im Gefolge der Psychoanalyse als auch der empirischen Sexualforschung“ gepriesen (Eder 1994: 8). Ähnlich sahen Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz in dem Band eine „Art Gründungsdokument der Sexualitätsgeschichte“, Foucaults Denken habe „maßgeblich dazu beigetragen, Sexualität als zentrale Kategorie sowohl für die Konstituierung des menschlichen Subjekts als auch für die Ordnung der Gesellschaft zu fassen“ (Martschukat und Stieglitz 2005: 177/181). Viele andere „junge“ Historikerinnen und Historiker machten mit WzW ihre ersten Gehversuche auf dem Feld der Sexualitäts- und Körpergeschichte. Dank Foucault konnten sie sich jenseits der ausgetretenen Pfade der „Repressionsthese“ à la Jos van Ussel bewegen, kamen ohne die Elias’sche Zivilisationstheorie aus und standen nicht unter dem Druck des Freudschen bzw. psychoanalytischen „Dampfkesselmodells“.

Wenn ich heute meine frühen Texte zur Sexualitätsgeschichte (aus den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren) lese, muss ich gestehen, dass ich ganz schön nach Foucaults Pfeife tanzte. Wobei die Gefolgschaft nicht nur seinen großformatierten Thesen und seiner schillernden Formulierkunst geschuldet war, sondern auch seinem Wissenschaftsverständnis, das er in vielen Interviews ausbreitete: „Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und Universalien, der in den Trägheitsmomenten und Zwängen der Gegenwart die Schwachstellen, Öffnungen und Kraftlinien kenntlich macht, der fortwährend seinen Ort wechselt, nicht sicher weiß, wo er morgen sein noch was er denken wird, weil seine Aufmerksamkeit allein der Gegenwart gilt“ (Foucault 1978: 178). Besser hätte man die inzwischen vielkritisierte, damals aber höchst attraktive „Positionslosigkeit“ der Postmoderne kaum beschreiben können. Was mich aber genauso faszinierte, waren seine – meist am Textrand platzierten – Hoffnungen auf eine Existenz sexueller Begierden jenseits von Macht und Wissen: Wer „Nein zum König Sex“ sagte, sollte sich aufmachen, um „andere Formen von Lüsten, Beziehungen, Zusammenleben, Bindungen, Lieben, Intensitäten – ich sage nicht: ‚wiederzufinden‘, sondern schlicht und einfach zu fabrizieren“ (ebd.: 185). Für mich zeigte sich der Meisterdenker im hintersten Winkel seines Herzen als Romantiker, der dem Drängen des Sexus jenseits von Kultur und Geschichte nachspürte.

Wer wie ich gehofft hatte, dass das Thesenbuch in den angekündigten Studien zur „Hysterisierung des weiblichen Körpers“, „Pädagogisierung des kindlichen Sexes“, „Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens“ und „Psychiatrisierung der perversen Lust“ (Foucault 1977: 126 f.) empirisch fundiert und dicht gemacht würde, wartete bekanntlich vergeblich. Foucault hatte schon den Ort gewechselt, war von der Neuzeit zurück bzw. vorwärts in die Antike unterwegs, vom Sexualitätsdispositiv zur Sorge um sich und den Gebrauch der Lüste sowie zu einer Geschichte des Selbst (vgl. Foucault 1986a, 1986b).

An seinen groben Thesen kommt seitdem jedenfalls kein/e SexualitätshistorikerIn vorbei. Manches davon fiel der Kritik zum Opfer, einiges blieb bestehen – und sei es nur als heuristische Anregung. Zurecht wurde Foucault vorgeworfen, dass er die Geschlechts/er/kategorie/n nicht oder bloß als Nebenwiderspruch problematisierte. Auch seine Quellenkorpora waren einseitig und höchst selektiv, teils sogar plakativ zusammengestellt und stammten nur aus dem europäischen und US-amerikanischen Raum. Dies hatte zur Folge, dass er zu Gegenüberstellungen und Abfolgen von früheren und späteren Typen – etwa des mittelalterlichen „Sodomiten“ (ein Handelnder, der bloß Akte setzte) und modernen „Homosexuellen“ (als Identität, Spezies und Anatomie) – kam, die nicht zu halten waren. Wie sich etwa an der Figur des römischen cinaedus zeigte, offerierten schon „frühere“ Sexualitätstopografien heterogene Anrufungen und Identitätsangebote. Vieles, was im Sexualitätsdispositiv einer autoritären scientia sexualis unterworfen war, stellte sich bei intensiverer Betrachtung als interaktiver Herstellungsprozess zwischen Akteuren und Wissenschaftlern heraus – beide „arbeiteten“ an der Subjektwerdung etwa des Onanisten und Homosexuellen. Schließlich diversifizierte sich auch die (sexuelle) Subjektivierung: Foucaults „Ästhetik des Subjekts“ und die „Strategien der Schwachen“ wurden in der neueren Sexualitätsgeschichte mit „eigener“ Agency konzipiert: Sexuelle Akteure können – schon alleine aufgrund der Wiederaufführung von Aussageordnungen und widersprüchlicher Frames – auch gegen Macht-Wissenskomplexe auftreten.

Was bleibt von Foucault für die Sexualitätsgeschichte? Sein größter Verdienst bestand wohl darin, dass er die „Sexualität“ zu einem neuen oder zumindest neu konzipierten (Forschungs-)Gegenstand, zu einem Wissensobjekt bzw. epistemischen Ding machte. Auch der Spin, den er ihm mitgab, wirkt bis heute nach: Die foucaultsche „Sexualität“ generiert sich in Dispositiven und Diskursen und ist in nicht-hierarchische und dezentrale Machtbeziehungen eingebunden. Mit dem Sexualitätsdispositiv zerstörte er die bis dahin lineare und kausale Entwicklungsgeschichte der Sexualität – egal ob sie in Richtung zunehmender Repression oder Liberalisierung gedacht war. Seitdem hat sich auch die Sexualitätsgeschichte mit Diskontinuität, Kontingenz und Latenz zu beschäftigen.

Nicht zu übersehen ist, dass sich das Feld der „Sexualität“ nach Foucault deutlich erweitert hat. Neben Diskursen haben heute Akteure (und Aktanten), Praktiken, Scripts und Performanz – und mit ihnen Widerstand, Gegenrede und Diversität – einen gesicherten Platz in ihm gefunden. Bezeichnend ist, dass nach wie vor Versuche, das Sexuelle jenseits des Macht-Wissenskomplexes zu entwerfen, mit zähen Habitualisierungen und Identitätsfolien ringen. Auch wenn sich Queer-TheoretikerInnen einen kategorie- und grenzenlosen Sex wünschen, scheint sich ein solcher in der Praxis nicht einfach herstellen oder wechseln zu lassen. So gesehen können wir Foucaults gouvernementale Studien zur Selbstführung und -regulierung nicht bloß als eine Kritik des (Neo-)Liberalismus, sondern auch als geneigte Theorie desselben lesen (Sarasin 2008: 27/43).

Zur Öffnung des sexualitätsgeschichtlichen Feldes hat zweifelsohne beigetragen, dass sich die foucaultsche Diskursanalyse zu einer multidisziplinären Text-, Bild- und Diskursforschung entwickelt hat. Deren vielfältige Angebote lassen sich heute gemäß Fragestellung und Quellenlage recht pragmatisch in Anspruch nehmen. Auch wenn die Diskursanalyse noch immer keine Methode, sondern eine Forschungsperspektive darstellt, ist ihr methodisch-technischer Werkzeugkasten samt den zugehörigen theoretischen Grundlegungen inzwischen recht gut gefüllt.

Noch immer gilt Foucaults Aufruf, neben der Repression und Disziplinierung auch – wenn nicht sogar primär – die Herstellung der normalen Sexualität zu erforschen. Dabei stehen heute Diskurse, Praktiken und Performanzen gleichberechtigt auf der Agenda. Eines hat uns Foucault dafür in das historiografische Stammbuch geschrieben: Unser Geschäft sollte es nicht (nur) sein, die historische Realität hinter den (Quellen-)Texten und Bildern zu suchen bzw. zu konstruieren, sondern die überlieferten Artfakte als (mit-)konstituierend für diese zu verstehen und sie solcherart ernst zu nehmen. Dann erscheint uns sein präsentistisches und nominalistisches Geschichtsbild auch weniger bedrohlich.

Tanzen wir noch immer nach des Meisters Pfeife? Vielleicht sollten wir uns eingestehen, dass er die Sexualitätsgeschichte mit dem glorreichen Versprechen verknüpft hat, dass wir nicht nur die Geschichte sexueller Diskurse (samt Verhaltensweisen, Emotionen etc.) erforschen, sondern dabei auch eine totale Geschichte der westlichen Zivilisation erzählen (Cocks und Houlbrook 2006: 16). Angesichts dieses universalen Glanzes sehen wir unseren kleinen Gegenstand wohl manchmal in einem allzu glamourösen Licht. Paradox ist auch, dass wir von Foucault nach wie vor dazu aufgerufen werden, den „König Sex“ vom Thron zu stoßen und er uns gleichzeitig dazu animiert, den Herrscher neu zu inthronisieren – und sei es nur in der Geschichte.