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DOI: 10.1055/s-0040-1710240
Legitimierungspraxen von Ernährungsverhalten – Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung
Wissen allein ist nicht der Schlüssel für eine gesunde Ernährungsweise. Dies konnte im Rahmen von qualitativen Interviews der ersten Förderperiode des Kompetenzclusters „enable“ herausgefunden werden. Trotz umfassenden Wissens über die Bedeutung und Umsetzung ausgewogener Ernährung für die Gesundheit und selbst- und sozialerwünschten Aussagen, gaben viele der Befragten an, dies im Alltag nicht umzusetzen. Daran anknüpfend werden die Rechtfertigungsordnungen und Legitimierungspraxen, mit denen Menschen unterschiedlicher Altersgruppen dem „Ernährungsimperativ“ begegnen, untersucht.
Die Untersuchung fand im Rahmen der zweiten Förderperiode des BMBF-geförderten Custers „enable“, FA 6/2 statt. Anhand der Ergebnisse aus Fokusgruppen und Interviews der ersten Förderperiode, wurde ein Leitfaden für biografische Interviews erstellt. Diese wurden mit 49 Personen von 18 bis 85 Jahren im Großraum München im Sommer 2019 geführt. Neben dem Ernährungsalltag und der Entwicklung des Ernährungsverhaltens über den Lebensverlauf und wurden auch Normen und Einstellungen gegenüber Ernährung thematisiert. Die transkribierten Interviews wurden mit MAXQDA codiert und anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet.
Es zeigen sich eine Vielzahl an Rechtfertigungen, mit denen das eigene Ernährungsverhalten begründet und verteidigt wird. Dabei wird den unterschiedlichen Rechtfertigungen sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den verschiedenen Lebensphasen eine differierende Bedeutung beigemessen. Während zeitliche Aspekte vor allem bei jungen Erwachsenen greifen („man kommt von der Arbeit und man hat halt noch ganz viele andere Hobbies (…) Und dann kommt man auch nicht so viel zum Kochen“), erklären Mid Agers den bewussten Griff zu „Ungesundem“ als Belohnung („dann habe ich das schon häufiger mal, dass ich mich so für den Tag belohnen will“). Seniorinnen und Senioren begründen den Konsum besonders zucker-, salz- und fetthaltiger Nahrung mit dem Alter, den sozialen Aspekten, sowie dem Arbeitsaufwand („Gemüse kaufe ich ja auch nicht mehr, weil ich nicht koche [für mich allein]“).
Der bewusste Verzehr von als „ungesund“ geltenden Speisen kann somit als Resilienz gegen inkorporiertes Wissen über Ernährung und gegen einen hegemonialen Gesundheitsdiskurs interpretiert werden. Ernährungsprogramme und Instanzen der Ernährungsberatung sollten an diesen individuellen Legitimierungspraxen ansetzen, um nachhaltig ein gesünderes Ernährungsverhalten zu etablieren.
Publication History
Article published online:
16 June 2020
© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York