Z Sex Forsch 2014; 27(1): 77-94
DOI: 10.1055/s-0034-1366087
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Publikationsdatum:
25. März 2014 (online)

Renate-Berenike Schmidt und Michael Schetsche, Hrsg. Körperkontakt. Interdisziplinäre Erkundungen. Gießen: Psychosozial 2012. 335 Seiten, EUR 34,90

Die Alltagsrelevanz von Körperkontakten kommt inmitten der Renaissance, die der Körper in den Sozialwissenschaften erfährt, zu kurz – so lautet die Prämisse, die hinter dem vorliegenden Sammelband von Renate-Berenike Schmidt und Michael Schetsche steht. Die damit angeprangerte Forschungslücke ist kein aktuelles Problem, sondern kann als klammheimliche Fortsetzung einer akademischen „Ignoranztradition“ verstanden werden. Sie steht charakteristisch für jenen „Trivialitätsmakel“, der dem Körper über lange Zeit hinweg anhaftete und ihn in theoretischer wie empirischer Hinsicht aus dem Kreis der adäquaten Untersuchungsgegenstände ausgeschlossen hat. Diese Zeiten scheinen mittlerweile überwunden zu sein, nachdem sich Körper bzw. Leib als Schnittstellenphänomene heraus kristallisiert haben, die nicht nur über physiologische Vorgänge Auskunft geben, sondern dies im Lichte ihrer Verschränkung mit kulturellen, sozialen, psychologischen, ökonomischen und anderen Aspekten tun. Doch davon, dass das Körperfundament folglich als Ausgangspunkt, Medium und Transformationsinstanz von Wissensbeständen und Beobachtungsperspektiven vollständig anerkannt wäre, kann noch keine Rede sein. Die diesbezügliche Neugier in den Sozialwissenschaften ist groß, aber an Umsetzungen, die auch und gerade die lebensweltlichen und interaktionistischen Elemente der Körperlichkeit unter die Lupe nehmen müssen, herrscht nach wie vor Mangel. Diese Forschungslücke will der vorliegende Band schließen helfen.

Zugegeben, aus sexualwissenschaftlicher Sicht ist das Feld mittlerweile recht gut bestellt, denn hier ist der Körper in physiologischer und auch in epistemologischer Hinsicht eine unumgängliche Größe. Allerdings sind diesbezüglich Forschungsunternehmungen, aller plakativen Enttabuisierung der Wissenschaften zum Trotz, ebenfalls noch nicht gleichberechtigt gegenüber „traditionellen“ Diskursen (vgl. S. 290). Und Körperbegegnungen, die nicht sexueller Natur sind, sind im sozialen Alltag ohnehin in der Überzahl. So kommt es beispielsweise täglich zu mehreren hundert unbewussten Selbstberührungen (S. 46 ff.). Die verschiedenen Varianten von „Körperkontakt“, um die es in den einzelnen Artikeln des Sammelbandes geht, fallen folglich überaus heterogen aus, viele von ihnen streifen jedoch die Bereiche Erotik und Intimität. Die pikante Cover-Darstellung, die aus der Schule von Fontainebleau stammende Allegorie über „Gabrielle d’Estrées und eine ihrer Schwestern“ vom Ende des 16. Jahrhunderts, legt solche Berührungspunkte nahe. Ein Beitrag, der speziell den sexuellen Körperkontakt thematisiert, findet sich in den „interdisziplinären Erkundungen“ aber erst gegen Ende. Bis dahin sind erotische Körperkontakte als wiederkehrende Motive in verschiedenen Kontexten aufgetaucht: im Zusammenhang mit den Sinnesorganen und der Bewegungskraft des Körpers, im Rahmen der psychologischen Dimensionen der Berührung, im Lichte der heilsamen Wirkung von Körperkontakten und schließlich vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Sinn und Sinnlichkeit.

Die Herausgeber differenzieren in ihrer Einleitung zwischen dem geradezu „physikalischen“ Vorgang des Körperkontaktes und der eher intentionalen Berührung (S. 8 f.), um zu verdeutlichen, dass es ihnen nicht lediglich um solche Begegnungen von Körpern geht, die auf sozialer Absicht beruhen. Wo, wie in der Sexualität, die kommunikative Facette von Körperlichkeit nun aber doch im Vordergrund steht, wäre es folglich angebrachter, anstelle von „face-to-face“-Gegenüberstellungen eher von einem Aufeinandertreffen „skin-to-skin“ zu sprechen (S. 22). Die Körperabstinenz der Sozialwissenschaften hat diesen Blick, und überhaupt die nähere Einordnung der tatsächlichen Relevanz von Berührungen in der sozialen Welt, lange Zeit zum randständigen Thema gemacht; dadurch wurde die in mikrosoziologischer Betrachtung zutreffende Devise „Man kann nicht nicht berühren“ (S. 30) weitgehend ignoriert. Mittlerweile haben sich die Sichtweisen erheblich erweitert; darüber geben die einzelnen Beiträge Auskunft. Eine mögliche Ursache für das Desinteresse der Sozialwissenschaften an Alltagsberührungen mag darin begründet liegen – und dies ist fraglos von sexualwissenschaftlicher Relevanz –, dass sich seit Aristoteles eine „erotisch-sexuelle[] Konnotation zwischenmenschlicher Berührungen“ geradezu aufzudrängen scheint, wenn Körper einander berühren (S. 78). Bekanntlich dringt dieser Generalverdacht auch in Körperkontaktsituationen mit Kindern ein, bei denen Unverfänglichkeit mitunter in einen „lustkritischen Kontext“ abrutscht, wenn bestimmte Körperpartien in den Berührungszusammenhang aufgenommen werden (vgl. S. 113). Selbst Mensch-Tier-Beziehungen sind von solchen Verdächtigungen nicht ganz frei, wie en passant betont wird (S. 246). In der Alltagssemantik ist die offene Auseinandersetzung mit asexuellen Berührungsformen ohnehin nur schwach ausgeprägt. Es scheint bisweilen also in der Tat „aus dem Blick [zu] geraten, dass nicht alle Körperkontakte sexuell konnotiert sind“ (S. 141). Dieses Übersehen mag mitunter dem Umstand geschuldet sein, dass Körperverhältnisse nicht erst seit Freud (auch) als Indikatoren psychischer Zustände gelten. Eine unvoreingenommene Differenzierung zwischen Körperkontakt und Körperkontaktabsicht hat es angesichts der Verbreitung solcher Überzeugungen schwer. Tatsächlich hat „die klassische Psychoanalyse […] Körperkontakt [zwischen Therapeuten und Patienten; T.B.] schlichtweg untersagt: Berührung bedeute Sexualisierung und damit auch Missbrauch des Patienten für die eigenen Bedürfnisse des Analytikers“ (S. 219).

Körper, sowohl der eigene wie auch fremde, werden andererseits von Jugendlichen dafür eingesetzt, das physische Selbst, und schließlich auch allgemeingültiges Sexualwissen in der Praxis zu erlernen und zu erproben (vgl. S. 116 ff.). Erst aus Erfahrungen der Nähe entspringen überhaupt Erfahrungen der Scham, und erst auf der Grundlage solcher Erfahrungen lassen sich soziale Rituale etablieren, die sowohl hinreichend „zwischenmenschlich“ und intim, wie auch zugleich ausreichend distanziert ausfallen (etwa der Begrüßungskuss; S. 143). Sie sind elementar für Konsenskommunikationen über die Trennung beispielsweise der beruflichen von der privaten Lebenssphäre (vgl. S. 157 f.), weil sie zwischen legitimen und illegitimen erotischen Aufladungen von sozialen Situationen zu unterscheiden helfen. Wenn Körper einander berühren, ja berühren müssen, ist die Gefahr eines „Zuviel an Körperkontakt“ (S. 188) letztlich aber auch schlichtweg deshalb gegeben, weil leibliche Empfindungen sich offenkundig vorreflexiv ereignen können. Wie dieses oder jenes Anfassen gemeint war oder ist, lässt sich folglich nicht immer eindeutig bestimmen, „sichere[] Handlungsprogramme“ fehlen (S. 293). In den unterschiedlichen Wahrnehmungen darüber, was einen Körperkontakt erotisch macht oder nicht, und in den divergierenden Ansichten über die Zumutbarkeitsgrenzen und Wunschanforderungen bezüglich körperlicher Nähe steckt viel Konfliktpotenzial, welches sich partiell auch auf dem Rechtsweg entlädt (S. 302 ff.).

Im Ergebnis zeigen die vielschichtigen Beiträge des Sammelbandes, dass nicht nur die erotische Berührung zwischen Intentionalität, Absichtslosigkeit, Sinnzuweisungen und Deutungsmustern oszilliert. Der sexuelle Körperkontakt mag in der Tat die „am nächsten liegende“ Assoziation im Alltag sein, wenn es um Körperbewegungen geht, die sich zu Berührungen verdichten, der Gesamtkomplex ist jedoch tiefgründiger und viel verknoteter. Darauf macht das AutorInnenteam um Schmidt und Schetsche auf spannende und lesenswerte Weise aufmerksam.

Thorsten Benkel (Passau)