Z Sex Forsch 2013; 26(2): 145-159
DOI: 10.1055/s-0033-1335601
Debatte
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MRT statt TSG

Vom Essentialismus zum Konstruktivismus und wieder zurück
Sophinette Becker
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Publication Date:
24 June 2013 (online)

Das 1981 in Kraft getretene TSG[1] war für seine Zeit sehr fortschrittlich und bedeutete für die damaligen Transsexuellen eine Rechtswohltat, die ihnen das Leben im Wunschgeschlecht erleichterte und insbesondere soziale Diskriminierungen zu mindern half.

Aus späterer Sicht unhaltbare und unzumutbare Teile des Gesetzes wurden zunächst nicht kritisiert, weder von den damals noch wenig organisierten Betroffenen, noch von der Fachöffentlichkeit.[2] So wurde etwa der als Voraussetzung für die Personenstandänderung vorgeschriebene „somatische Fundamentalismus“ (Lindemann 1997: 327), d. h. der Zwang zu chirurgischen Eingriffen (deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts[3] und dauernde Fortpflanzungsunfähigkeit) nicht als solcher gesehen und auch so nicht kritisiert, weil damals noch die Vorstellung vom „echten“ Transsexuellen dominierte, der als solcher stets eine „operative Geschlechtsumwandlung“ anstrebe.[4] Deren „Alltagsbedeutung als Normalisierungstribut“ (Hirschauer 1993: 311) wurde durch das TSG unterstrichen. „Dies hätte nur vermieden werden können, wenn die ‚gefährlichen‘ Fragen der Sexualität und der Willkür der Geschlechtswechsler nicht verschwiegen, sondern politisch offensiv als Fragen der Selbstbestimmung thematisiert worden wären“ (ebd.). Dafür waren jedoch die Zeit und der vorherrschende Diskurs damals noch nicht reif – weder in der Sexualwissenschaft noch in der Politik.[5]

Vom Gesetzgeber weder intendiert noch vorausgesehen war die unselige Vermengung der juristischen mit der medizinischen Ebene durch die Krankenkassen und ihre Medizinischen Dienste (MdK/MdS), die regelhaft – den ursprünglichen Sinn der „kleinen Lösung“ pervertierend – die Gutachten für die Vornamensänderung als Grundlage für die Bewilligung der Finanzierung somatischer Maßnahmen verlangten. Das wurde zwar früh als Problem benannt (Pfäfflin 1987), wird aber bis heute vielfach praktiziert.

Augstein kritisierte (1981) im Wesentlichen das Mindestalter (25 Jahre)[6] und die Unwirksamkeitstatbestände Eheschließung und Geburt eines Kindes. Sie wies in diesem Zusammenhang auf die relevante Anzahl lesbischer Mann-zu-Frau-Transsexueller hin. Das war damals noch ein Tabu, weil der „echte“ MF-Transsexuelle als asexuell bzw. als sexuell eindeutig auf Männer orientiert galt: „Erotische Tendenzen gehen bei männlichen Transsexuellen auf heterosexuelle Männer, bei weiblichen Transsexuellen auf heterosexuelle Frauen, ohne dass diese Tendenzen etwas mit homosexuellem Erleben zu tun haben [...]. Mit Homosexualität und Transvestitismus, die sexuelle Deviationen darstellen, hat der Transsexualismus nichts zu tun und ist streng von ihnen zu unterscheiden“ (DGfS 1974: 2 f.). Es ist nachvollziehbar, warum lange Zeit manche MF-Transsexuelle bei Begutachtungen nach dem TSG ihre lesbische Orientierung ebenso verschwiegen[7] wie Transvestitismus oder andere „sexuelle Devianzen“ in der Vorgeschichte, um als ‚echte‘ Transsexuelle durchzugehen (vgl. Greiner 1999; Becker 2008). Trotz der Absicht des Gesetzgebers, mit dem TSG „den Betroffenen eine echte Hilfe anzubieten“ (Augstein 1981: 16) sind ganz offensichtlich auch homophobe Ängste (u. a. vor der „Gefahr“ einer homosexuellen Ehe) in das Gesetz eingeflossen, das nicht zuletzt den Erhalt der heteronormativen Ordnung bzw. der traditionellen, essentialistisch konzipierten Geschlechterdichotomie garantieren sollte. Das korrespondierende normative Konstrukt des „echten“ Transsexuellen hat viel zur Uniformität bzw. zum „essentialistischen Erzählschema“ (Butler 2001: 681) transsexueller Selbstdarstellungen beigetragen: „Die ‚klassische‘ Transsexuellenbiographie ist der rekonstruktive und selbstaffirmative Lebensentwurf eines Menschen, der beim Leser (Gutachter) die Anerkennung als Transsexueller bewirken soll“ (Pfäfflin 1996: 81). Wie offen sich die Begutachteten über ihre jeweilige individuelle Abweichung von der normierten Transsexualität äußerten, hing allerdings zum einen auch immer von der Einstellung bzw. dem Verhalten der einzelnen GutachterInnen ab; zum anderen spielten sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse und Diskurse eine Rolle.

Ab den 1990er-Jahren kam auf – sich wechselseitig beeinflussenden – Ebenen viel in Bewegung, was man unter den Begriffen „Pluralisierung“ („Transpluralisierung“, Pfäfflin 2010: 127), „Enttotalisierung“ und „Flexibilisierung“ zusammenfassen kann:

  • Innerhalb der mit der Transsexualität befassten klinischen Wissenschaften kam es zu einem nosologischen Richtungswechsel, der im wesentlichen die Verabschiedung von der Krankheitseinheit Transsexualität und – damit zusammenhängend – auch von der automatischen Kopplung zwischen der Diagnose Transsexualität und der Indikation chirurgischer Maßnahmen beinhaltete – zugunsten einer Vielfalt von Transsexualitäten („Geschlechtsidentitätsstörungen“) mit entsprechend individuellen Lösungswegen, die von einem Leben im Wunschgeschlecht ohne somatische Maßnahmen über ausschließlich hormonelle Behandlung bis zur weitgehenden operativen Geschlechtstransformierung reichen können (ausführlicher zu dieser Entwicklung Becker 2004). Damit verloren sowohl (für das Verständnis des Einzelfalls nach wie vor sinnvolle) Unterscheidungen in Subtypen (z. b. primär vs. sekundär bzw. early vs. late onset) oder nach sexueller Orientierung ihre Bedeutung als Unterscheidungsmerkmal zwischen „echten“ und „unechten“ Transsexuellen wie frühere Differentialdiagnosen – insbesondere Transvestitismus – ihren Ausschlusscharakter.

  • Der poststrukturalistische Gender-Diskurs (Geschlecht als soziale Konstruktion bzw. als performativer Akt, Kritik der Heteronormativität und des Geschlechter-Binarismus) gewann in der scientific community an Einfluss und wurde auch innerhalb der Sexualwissenschaft rezipiert und diskutiert. Der de-konstruktivistische Ansatz öffnete und schärfte den Blick auf das Verständnis der Transsexualität als „medizinisches Projekt“ bzw. als soziale Konstruktion und damit auf iatrogene Mechanismen und Einflussfaktoren in der Diagnostik und Behandlung (Hirschauer 1993).

  • Auf gesellschaftlicher Ebene fand eine anhaltende Flexibilisierung zuvor rigider Merkmale der Geschlechtsrollen statt, die Bestimmung der Geschlechtszugehörigkeit ausschließlich nach körperlichen Merkmalen wurde zunehmend fragwürdig und die Toleranz gegenüber uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen größer (vgl. Becker et al. 2001). Gleichzeitig verloren homophobe Einstellungen an gesellschaftlicher Akzeptanz und damit an Einfluss.

  • Innerhalb der Selbsthilfegruppen nahm die „rigide Normüberwachung“ ab, es kam zu einer „Diversifizierung der Transbewegung“, es entstanden „neue Transorganisationen, deren Politik die besonderen Bedürfnisse ehemals marginalisierter Populationen einbezieht“ (de Silva 2005: 263).

Auf dem Hintergrund dieser hier nur angedeuteten Entwicklungen, die keineswegs linear, sondern – bis heute – im Sinne der „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem“ widersprüchlich verlaufen,[8] nahm auch die Kritik am TSG sowohl durch Betroffene als auch durch ExpertInnen zu, die – trotz Differenzen – darin übereinstimmten, dass eine Reform des TSG dringend notwendig sei.

Seit dem nicht eingelösten Versprechen einer TSG-Reform durch die rot-grüne Regierung (1998 – 2005) hat eine Bundesregierung nach der anderen diese überfällige Reform verweigert.[9] De facto hat allerdings eine grundlegende Reform des TSG stattgefunden – durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BverfG), das nach und nach relevante, vielfach kritisierte Paragraphen des TSG für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt und damit aufgehoben hat. Vergleichbares erleben wir derzeit in Bezug auf die schrittweise Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mit der Ehe durch das BverfG – offenbar hat die Politik ihre Gestaltungsaufgabe in Bezug auf den Umgang mit Geschlecht und sexueller Orientierung seit langem an das BverfG abgetreten.[10]

Das BverfG ist in seinen Entscheidungen von 2005, 2008 und 2011 in wesentlichen Punkten den Argumenten bzw. Stellungnahmen der DGfS[11] gefolgt. 2006 hielt ich es „nur mehr für eine Frage der Zeit, bis die Personenstandsänderung ohne operative Veränderung der äußeren Geschlechtsmerkmale möglich sein wird“ (Becker 2006: 311) – am 11. 1. 2011 entschied das BverfG entsprechend; seitdem unterscheiden sich die Voraussetzungen für die Personenstandsänderung nicht mehr von denen für die Vornamensänderung. Mit dieser Entscheidung ist es heute möglich, dass ein personenstandsrechtlicher Mann ein Kind gebiert bzw. dass eine personenstandsrechtliche Frau ein Kind zeugt – das habe ich 1998 noch für unvorstellbar und entsprechend undurchsetzbar gehalten. Damit hat sich das konstruktivistische Konzept von Geschlecht i. S. von „Gender ohne Sex“ (Reiche 1997) auf der rechtlichen Ebene durchgesetzt (Pfäfflin 2008). Trotz meiner eigenen Kritik an der Körperlosigkeit des poststrukturalistischen Diskurses (Becker 2007) habe ich mich aktiv für den Wegfall des Operationszwangs eingesetzt, damit sich niemand wegen der Personenstandsänderung operieren lässt bzw. damit sich die Indikation chirurgischer Maßnahmen ausschließlich an der jeweiligen individuellen Situation der Betroffenen orientiert. Wesentliche Reformziele sind also mittlerweile auch ohne eine Reform des TSG durch den Gesetzgeber erreicht worden. Eine angemessene Beurteilung der Auswirkungen der einzelnen Entscheidungen des BverfG ist derzeit noch nicht möglich. Im Folgenden soll es darum gehen, welche Steine des Anstoßes im TSG verblieben sind, die auch nicht durch weitere Entscheidungen des BverfG geheilt werden können.