Fortschr Neurol Psychiatr 2012; 80(12): 683
DOI: 10.1055/s-0032-1325542
Editorial
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Evidenzbasierte Suchttherapie – eine Herausforderung in vielen Bereichen

Evidence Based Addiction Therapy – A Challenge in Many Areas
T. Hillemacher
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Publication Date:
10 December 2012 (online)

Die Behandlung von Suchterkrankungen nimmt in der psychiatrischen Praxis einen großen Stellenwert ein. Allein im Bereich der Alkoholabhängigkeit geht man von ca. 1,4 Millionen Betroffen aus (Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V., www.dhs.de), von denen sich nach einem aktuellen Bericht nur ca. 9 % in einer fachspezifischen Behandlung befinden [1]. In der Behandlung der Abhängigkeitserkrankungen ergeben sich daher vor allem zwei Hauptfragen: Wie ist es möglich, mehr Betroffenen eine adäquate Behandlung zukommen zu lassen und zweitens, wie kann eine solche Therapie möglichst effektiv und evidenzbasiert durchgeführt werden? In einer umfangreichen Übersichtsarbeit haben sich Burucker und Kropp in dieser Ausgabe der Fortschritte dem Thema der Evidenzbasierung verschiedener therapeutischer Verfahren in der Therapie substanzbezogener Abhängigkeitserkrankungen angenommen [2]. Dies ist ein wichtiges Unterfangen, bedenkt man nur die große Anzahl in Deutschland angewendeter Therapieverfahren. Dabei spielen nicht nur psychotherapeutische und pharmakologische Therapien eine große Rolle – auch komplementäre Verfahren werden häufig in der Suchttherapie angewandt. Viele der verwendeten Behandlungsstrategien zeigen dabei nur eine geringe wissenschaftliche Basis, wie die Kollegen Burucker und Kropp detailliert herausarbeiten. Interessant ist beispielsweise, dass der Einsatz einer pharmakologischen Rückfallprophylaxe mit Acamprosat oder Naltrexon von den Autoren klar als evidenzbasiert eingeordnet wird (Evidenzgrad Ia), analog zu den aktuellen englischen Leitlinien (NICE). Dennoch werden diese Medikamente in Deutschland nur extrem selten eingesetzt, was sich klinisch und wissenschaftlich nicht begründen lässt. Dies gilt ebenso für die psychotherapeutischen Verfahren, bei denen beispielsweise im Bereich der Alkoholabhängigkeit vor allem kognitiv-verhaltenstherapeutische, motivationale sowie gemeinde- und paar- bzw. familienorientierte Ansätze einen hohen Evidenzgrad besitzen. Bei aller Kritik, die häufig berechtigt an einer zu strengen Ausrichtung an der evidenzbasierten Medizin geübt wird, wäre der Suchttherapie hier doch häufig eine objektivere und mehr an wissenschaftlichen Ergebnissen ausgerichtete Betrachtungsweise zu wünschen. Dies muss in keiner Weise die persönliche Erfahrung oder eine individualisierte Therapie infrage stellen – im Gegenteil: Die Arbeit von Burucker und Kropp zeigt ja auch hier das Problem, vor dem man häufig in der Suchttherapie steht. Der absolute Großteil der Studien wurde, beispielsweise im Bereich Alkoholabhängigkeit, an nicht weiter differenzierten Gruppen von alkoholabhängigen Patienten durchgeführt – und das bei einer bekanntermaßen doch sehr heterogenen Erkrankung, in vielen Fällen vergesellschaftet mit psychiatrischen Komorbiditäten. Dies scheint die große Aufgabe für die Zukunft zu sein – wissenschaftlich fundierte Therapiekonzepte zu entwickeln für bestimmte Gruppen von Abhängigen, unter Einbezug psychischer Begleiterkrankungen. Dies gilt insbesondere für Suchtpatienten, die häufig in denen von Burucker und Kropp beschriebenen randomisierten Studien ausgeschlossen werden: Adoleszenten und ältere Patienten [3] [4]. Hier ist es von hoher Bedeutung, auch diese Patientengruppen in zukünftigen Untersuchungen zu berücksichtigen.

Eine differenzierte Pharmakotherapie, wie sie beispielsweise in der Depressionsbehandlung schon wesentlich etablierter ist, wäre ebenso bedeutsam wie spezifischere psychotherapeutische Konzepte für bestimmte Patientengruppen. Hier stellen neben den etablierten Verfahren wie motivierende Gesprächsführung und kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze vor allem die Schematherapie, metakognitive Therapieverfahren und gemeindenahe Verstärkermodelle (z. B. Community-Reinforcement-Approach) vielversprechende Ansätze dar.

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Prof. Dr. med. T. Hillemacher
 
  • Literatur

  • 1 Rehm J, Shield KD, Rehm MX et al. Alcohol consumption, alcohol dependence, and attributable burden of disease in Europe: potential gains from effective interventions for alcohol dependence. Toronto: ON: Centre for Addiction and Mental Health; 2012
  • 2 Burucker J, Kropp S. Evidenzgrade in der Suchttherapie von alkoholbezogenen Störungen und illegalen Drogen. Fortschr Neurol Psychiatr 2012; 80
  • 3 Karagülle D, Donath C, Grässel E et al. Rauschtrinken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Fortschr Neurol Psychiatr 2010; 78: 196-202
  • 4 Lieb B, Rosien M, Bonnet U et al. Alkoholbezogene Störungen im Alter – Aktueller Stand zu Diagnostik und Therapie. Fortschr Neurol Psychiatr 2008; 76: 75-85