Zeitschrift für Palliativmedizin 2011; 12(04): 142
DOI: 10.1055/s-0031-1284762
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Buchbesprechung – Palliative Pflege von Menschen mit Demenz

Contributor(s):
Marina Kojer
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Publication Date:
21 July 2011 (online)

 
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Stephan Kostrzewa 2010, 2. Auflage, 245 Seiten, Hans Huber Verlag Bern, 29,95 €, ISBN 9783456847733

Mit steigender Lebenserwartung nimmt die Zahl hochbetagter, multimorbider und an Demenz erkrankter Menschen stetig zu. Ihre bedürfnisgerechte Versorgung bis zuletzt bildet eine der großen Herausforderungen unserer Zeit und führt uns die Dringlichkeit einer für diese spezielle Patientengruppe geeigneten palliativen Pflege, Behandlung und Betreuung deutlich vor Augen. Es ist daher erfreulich, dass sich in den letzten Jahren immer mehr Fachpublikationen diesem Thema widmen.

Stephan Kostrzewa, Altenpfleger und Diplom-Sozialwissenschaftler, baut sein Buch systematisch auf. Die 8 Kapitel spannen einen großen Bogen, der von der Auseinandersetzung mit der Krankheit Demenz über die Thematik des Sterbens und der Sterbebegleitung, bis hin zu Aus- und Fortbildung, Vernetzung und Ehrenamt reicht. Immer wieder lockern Fallbeispiele, Erfahrungsberichte, Übungen, Anleitungen zur Selbsterfahrung und Hinweise für die Praxis den Text auf. Sie verbessern das Verständnis, regen zur Reflexion des eigenen Verhaltens an und liefern Anhaltspunkte für die sinnvolle und menschen-würdige Betreuung von Demenzkranken.

Das 1. Kapitel ist eine ausführliche Einführung in das Thema Demenz, es beleuchtet u. a. Erscheinungsbild und Symptome, beschäftigt sich – wenn auch z. T. wenig differenziert – mit Möglichkeiten und Gefahren der medikamentösen Therapie und weist auf nicht medikamentöse Ansätze hin. Der Autor unterstreicht nachdrücklich die Bedeutung der Kommunikation. Sehr klar formulierte Merksätze für den besseren Umgang mit den Kranken helfen etliche Fallstricke zu vermeiden, an denen die Kommunikation häufig scheitert. Grundlage der ganzheitlichen Betreuung sollen nicht die Defizite sondern noch vorhandene Stärken und Fähigkeiten sein (Empowerment-Konzept). Die Voraussetzung dafür liefert der personzentrierte Ansatz Kitwoods.

Unmittelbar auf die Einführung folgt – für mich etwas überraschend – bereits das Kapitel über Sterben und Sterbebegleitung; diese Themen bestimmen im Weiteren den Inhalt des Buches. Zwar wird da und dort kurz darauf hingewiesen, dass Palliative Care nicht mit End of Life Care gleichzusetzen ist, diese Erkenntnis wird jedoch nicht einmal ansatzweise zum Ausgangspunkt für eine differenziertere Betrachtung des Palliativbedarfs von Menschen mit Demenz. Das ist sehr schade, denn die fortgeschrittene Multimorbidität als auch die von Beginn der Demenz an bestehenden großen seelischen Nöte bilden wesentliche Herausforderungen für Palliative Care. Dabei markiert bereits die Definition der WHO von 2002 das Ende der Engführung und den Beginn eines Umdenkens in der gesamten Palliative Care. Die Definition spricht ausdrücklich von "...prevention and relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psychosocial and spiritual." Palliativbedürftigkeit beginnt demnach nicht erst dann, wenn Sterben bereits abzusehen ist. Dies gilt umso mehr für hochbetagte und multimorbide Demenzkranke, die meist über lange Zeit an palliativbedürftigen körperlichen und seelischen Beschwerden leiden. Auch die vor nicht allzu langer Zeit von der AG Nichttumorpatienten der DGP erarbeiteten "Thesen zur palliativen Versorgung von Patienten mit Demenz" stellen ausdrücklich fest, dass im gesamten Krankheitsverlauf Palliativbedarf bestehen kann, häufig über lange Zeit kurative und palliative Maßnahmen gleichzeitig erforderlich sind und man den Beginn der Palliativbedürftigkeit daher nicht an einem fixen Zeitpunkt festmachen kann [1].

Etliche kleinere, aber für die betroffenen Patienten unter Umständen folgenschwere Irrtümer sind zwar bei einem Nichtmediziner verständlich, wären indes bei ausreichender Recherche leicht vermeidbar gewesen. Dafür 2 Beispiele: Pagavit (nicht Paravit)-Stäbchen für die Mundpflege sind obsolet, weil sie mit Glycerin einen Alkohol enthalten, der dem ohnedies schon zu trockenen Mund noch zusätzlich Flüssigkeit entzieht. Pagavit-Stäbchen – auch im gefrorenen Zustand – sind daher ganz bestimmt keine sinnvolle Empfehlung (S. 136). Subkutane Infusionen lege artis appliziert sind – wie ich aus meiner jahrzehntelangen Arbeit als Geriaterin weiß – entgegen den Angaben des Autors keineswegs schmerzhaft und überdies längst "eine Routinemaßnahme in der Palliativbetreuung" [2].

Persönlich sehr bedauert habe ich die negative Beurteilung der Validation nach Naomi Feil, die von einer nur oberflächlichen Kenntnis zeugt. Validation ist eine vielfach bewährte, in Österreich in der Altenpflege generell akzeptierte Methode. Sie vermittelt Verständnis für die Verhaltensweisen Demenzkranker und stellt den Anwendern ein differenziertes Repertoire von Techniken zur Verfügung mit deren Hilfe Kommunikation in allen Phasen der Erkrankung um vieles leichter gelingt.

Dass auch die Angehörigen Demenzkranker Adressaten von Palliative Care sind, wird häufig übersehen. Die wiederholten Hinweise auf ihre große Not sind mir überaus positiv aufgefallen.

Zusammenfassend ist zu sagen: Ein Buch, das Wertvolles vermittelt, aber leider auch viel Wesentliches schuldig bleibt.

Dr. med. Dr. phil. Marina Kojer