Z Sex Forsch 2012; 25(1): 70-88
DOI: 10.1055/s-0031-1284003
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Publication History

Publication Date:
16 March 2012 (online)

 

Simon LeVay, Janice Baldwin. Human Sexuality (3. Auflage). Sunderland, MA: Sinauer Associates, Inc. 2009. 646 Seiten, mit 314 Abbildungen, USD 110,95 [1]

Simon LeVay, Janice Baldwin, John Baldwin. Discovering Human Sexuality. Sunderland, MA: Sinauer Associates, Inc. 2009. 560 Seiten, mit 265 Abbildungen, USD 91,95 [2]

Der 1943 in Oxford (England) geborene Natur- und Neurowissenschafter Simon LeVay legt mit Human Sexuality (HS) sein renommiertes Lehrbuch zur menschlichen Sexualität in der dritten Auflage vor. Bei dem zweiten, hier besprochenen Buch handelt es sich mit Discovering Human Sexuality (DHS) um eine Alternativversion zum Standardwerk, die um knapp 90 Seiten und zwei Kapitel kürzer ist. Nach Angaben des Verlages versucht dieses Buch, Leserinnen und Lesern gerecht zu werden, denen die Lektüre von HS aufgrund der (neuro)biologischen Anteile schwer falle. Für den Rezensenten ist diese Entscheidung kaum nachvollziehbar, da die biologischen Hintergründe in HS verständlich aufbereitet und auch ohne bzw. mit wenig Vorwissen lesbar sind. In jedem Fall kann nicht von zwei grundsätzlich verschiedenen Lehrbüchern gesprochen werden, sodass in der vorliegenden Rezension die Alternativversion DHS vernachlässigt wird.

Beide Lehrbücher präsentieren einen aktuellen Überblick darüber, wie Sexualität und sexuelles sowie geschlechtliches Erleben und Verhalten gegenwärtig gelehrt und vermittelt werden kann. Im Allgemeinen schaffen sie es, auf eindimensionale und normative Erklärungsansätze zu verzichten: Sexualität wird als ein im besten Sinne multifaktorielles Geschehen dargestellt. Insbesondere in dem Hauptlehrbuch zur HS zeigt sich die neurobiologische Ausbildung von LeVay in mehreren Kapiteln: Nachdem LeVay 1966 in Cambridge (England) mit einem Bachelor of Arts (B. A.) in den Naturwissenschaften graduierte und 1971 in Göttingen über Neuroanatomie promovierte, forschte und lehrte er im Anschluss an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten, u. a. der Harvard Medical School. Seine berühmteste und gleichzeitig umstrittenste Veröffentlichung datiert aus dem Jahr 1991. Im Vergleich zwischen hetero- und homosexuell orientierten Männern beschrieb LeVay in der Fachzeitschrift Science einen Bereich des anterioren Hypothalamus (INAH3) als unterschiedlich groß. Er schlussfolgerte, dass der sexuellen Orientierung (zumindest bei biologischen Männern) ein biologisches Substrat zu Grunde liege.

Bei beiden Büchern handelt es sich um moderne amerikanische Lehrbücher: Im Din-A4-Format bunt gestaltet, mit mindestens einer Abbildung auf jeder Doppelseite, ergänzt durch vielfältige, insbesondere die Lehre unterstützende online-Angebote auf der Verlagsseite (www.sinauer.com; u. a. dynamische Illustrationen und Animationen, PowerPoint-Präsentationen, multiple-choice Fragen etc.). Einführend werden im 1. Kapitel in HS verschiedene Perspektiven auf die Phänomene menschlicher Sexualität beschrieben. Die vielfältigen Bedeutungen, die „Sex“ haben kann (z. B. im Zusammenhang mit zwischenmenschlichen und partnerschaftlichen Beziehungen als auch mit der individuellen Identität) werden ebenso betrachtet wie unterschiedliche Forschungsansätze zur menschlichen Sexualität (z.B. biologische, psychiatrische, psychologische und soziologische Ansätze). Das 2. Kapitel widmet sich der Evolution und behandelt dabei neben den vielfältigen Möglichkeiten der Sexualdeterminierung und -differenzierung (u. a. chromosomal) auch die Frage, ob es ausschließlich zwei biologische Geschlechter gibt. Des Weiteren werden schwerpunktmäßig anatomische Aspekte des weiblichen (3) und des männlichen Körpers (4) beschrieben und die Bedeutung der Sexualhormone diskutiert (5), wobei neben den einzelnen Sexualhormongruppen (Androgene, Östrogene) auch deren Interaktionen und Sequenzen (z. B. über die enzymatische Aromatase) betrachtet werden. Weitere Aspekte des endokrinen Systems und dessen Einfluss auf die Geschlechtsentwicklung beschreibt das 6. Kapitel mit Exkursen zu ausgewählten Varianten der Geschlechtsentwicklung (z. B. die Androgeninsensitivität) und zu dem Phänomen der Pubertät.

Innerhalb des 7. Kapitels führt LeVay den Begriff Gender als zentralen Aspekt der Identität eines Menschen ein, differenziert ihn in der Folge von Sex und erweitert ihn um Gender Role und Gender Constancy. Anschließend weist LeVay auf Probleme von Personen hin, deren Körper nicht mit der Geschlechtsidentität übereinstimmt (z. B. transsexuelle Menschen). Erfreulicherweise gelingt es den Autoren, weitgehend auf binäre Darstellungen von entweder Mann (zu Frau) oder Frau (zu Mann) zu verzichten und die Komplexität von Gender, Geschlechtsidentität und Körper in ihren Grundzügen als auch mit historischen und interkulturellen Perspektiven anzudeuten.

Die folgenden drei Kapitel beschreiben die Sexualität auf der Verhaltensebene. Zunächst steht der Kreislauf der Sexualität (Attraction, Arousal, and Response) im Vordergrund (8), wobei neben den einzelnen Phasen der Erregung auch Aspekte der Attraktivität und der Phantasie berücksichtigt werden. Im Anschluss wird der Versuch unternommen, die Vielfalt sexueller Verhaltensweisen zu skizzieren (u. a. Masturbation, Oral- und Analverkehr) und dabei ebenfalls die Bedürfnisse körperlich und geistig behinderter Menschen zu berücksichtigen (9). Zuletzt werden sexuelle Beziehungen, ihr sozialer Wandel und kulturelle Unterschiede dargestellt (10).

Der nächste Block beinhaltet Bereiche der Reproduktion. Kapitel 11 beschäftigt sich mit Fragen rund um die Zeugungsfähigkeit bzw. Fruchtbarkeit. Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Schwangerschaften werden ebenso dargestellt wie mit der Geburt und post-natalen Entwicklungen. Anschließend werden Geschichte und Methoden der Kontrazeption als auch des Schwangerschaftsabbruchs sowie dessen kulturelle Rahmung diskutiert (12).

Das nächste Kapitel versucht, die Sexualität über die Lebensspanne abzuhandeln (13) und beschäftigt sich mit so unterschiedlichen Themen wie kindlicher Sexualität, pädosexuellen Übergriffen, Teenager-Schwangerschaften, Partnerschaften, Ehe und Scheidung und der sexuellen Lebensqualität im erwachsenen und höheren Lebensalter. Die sexuelle Orientierung bildet den Schwerpunkt des 14. Kapitels. Als einer der Forschungsschwerpunkte von LeVay glänzt dieses Kapitel mit einer fundierten und differenzierten Darstellung verschiedener sexueller Erlebens- und Verhaltensweisen (so spricht er z. B. von einem „Spectrum of Sexual Orientations“, S. 453), die in einem Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung von Menschen stehen können, beschreibt den Wandel der gesellschaftlichen Akzeptanz homosexueller Lebensarten einhergehend mit der zunehmenden rechtlichen Anerkennung verschiedener homosexueller Lebensformen. Während der Einfluss der Homophobie in seiner Darstellung nicht ausgespart wird, vernachlässigt LeVay jedoch sträflicherweise die Darstellung weiblicher homosexueller Entwicklungen.

Mit den kommenden Kapiteln beginnt der Bereich der Normvarianten und Störungen. So spricht LeVay zunächst akzeptierend und offen von atypischer Sexualität (15), wenn er Fetischismus, ausgewählte Paraphilien (u. a. das Adult Baby Syndrome) und Transvestitismus thematisiert, weist auf die Problematik pädosexueller Interessen hin und geht vor dem Hintergrund verschiedener ätiologischer Modelle von Paraphilien auf deren mögliche Behandlungsstrategien ein. Von sexuellen Störungen (16) im eigentlichen Sinne spricht LeVay, wenn es um die Funktionsstörungen geht. Auch hier weist er auf die vielfältigen Ursachen von Störungen im Bereich der sexuellen Funktionen beider Geschlechter hin, die weiblichen Funktionsstörungen werden dabei jedoch weniger ausführlich dargestellt als die männlichen. Nach den Funktionsstörungen stehen die sexuell-übertragbaren Krankheiten (17; u. a. Syphilis, Trichomoniasis, Gonorrhoe), deren Prävention und Behandlung im Vordergrund. Diesem Bereich kann ergänzend das 18. Kapitel zugeordnet werden, in dem die Themen sexuelle Belästigung, Nötigung, Stalking, Vergewaltigung und Gewalt in der Partnerschaft behandelt werden. Dabei thematisiert LeVay verschiedene Möglichkeiten sexueller Grenzverletzungen und Übergriffe, verschweigt in seiner Darstellung jedoch die Tatsache, dass auch Frauen, wenngleich seltener und in aller Regel subtiler als Männer, sich sexuell übergriffig bzw. grenzverletzend verhalten. Abgerundet wird das Lehrbuch mit einem Kapitel zum Thema „Sex als Ware“ (19), in dem neben Prostitution und Pornographie auch der bis heute immer freizügiger gewordene Umgang mit Sexualität und ihren Darstellungen in den Massenmedien und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen thematisiert wird.

Mittlerweile gibt es in englischer und deutscher Sprache mehrere Standardwerke zum Themenbereich der Sexualität und ihren Problemen. Für den englischen Sprach- und Kulturraum scheint John Bancroft‘s Lehrbuch Human Sexuality and its Problems, deren dritte Auflage Gunter Schmidt in dieser Zeitschrift 2009Z Sexualforsch 2009; 2: 177–179 besprochen hat, das konkurrierende Werk zu sein. Obgleich auch Bancroft einen sehr akzeptierenden und gegenüber der Medikalisierung der Sexualität kritischen Standpunkt vertritt, fokussiert es nicht nur im Titel stärker den klinischen Bereich. LeVay‘s Lehrbuch richtet sich dagegen explizit an Studierende und Interessierte, die in das weite Feld der Sexualität und ihrer Wissenschaft eintauchen wollen, und an Lehrende, die Themen der menschlichen Sexualität modern vermitteln wollen. Einen klinischen Schwerpunkt setzt LeVay dabei nicht. Vielmehr verwendet er eine vergleichsweise pragmatische, weitestgehend theoriefreie Präsentation, die er insbesondere nicht von spezifischen Schulen und Denkrichtungen einseitig beeinflussen lässt. Dabei sind, wie in einem Lehrbuch üblich, am Ende jedes Kapitel Referenzen angegeben, die ein vertiefendes, und ggfs. polarisierendes Weiterlesen ermöglichen. Bemerkenswert ist in jedem Fall die wertfreie und offene Haltung, die sich in der Schreibweise LeVay‘s und seiner Co-Autorin ausdrückt. Normvarianten und gemeinhin auffällige sexuelle Verhaltensweisen werden als Lebensstile im Rahmen einer bunten und freiheitlichen Gesellschaft dargestellt. An diesem (möglicherweise als amerikanisch-unkritisch zu beschreibenden) Stil könnten sich deutsche Veröffentlichungen zu diesem Themenbereich gut ein wenig orientieren. Gleichermaßen fehlt der akzeptierenden, wohlwollenden Haltung zuweilen ein kritisches Gegenüber. Einige Punkte könnten nach Ansicht des Rezensenten nachhaltiger durch das kritische Auseinandersetzen und Argumentieren der konkurrierenden Positionen herausgearbeitet und vermittelt werden. Nicht nachzuvollziehen ist zudem die Festlegung der Reihenfolge der Kapitel. Warum beispielsweise die sexuelle Orientierung vor der atypischen Sexualität und nicht etwa im Bereich der sexuellen Entwicklung und Gender platziert wird, bleibt unklar. Abschließend hervorzuheben ist, dass es sich um eine bemerkenswerte, bunt dargestellte und konsumfreundlich aufbereitete Übersicht über das weite Feld der menschlichen Sexualität handelt, die insbesondere wertvoll für Studierende und Lehrende in diesem Bereich sein kann.

Timo O. Nieder (Hamburg)

Wolfgang Berner. Perversion. Gießen: Psychosozial 2011. 139 Seiten, EUR 16,90 [3]

Wer heute von Perversion, noch dazu im globalen Singular, spricht, macht in der modernen ICD-10-Welt sogleich sich verdächtig: als freudianischer Ideologe, als essentialistischer Ontologe oder mindestens als alter Knochen. Der nordamerikanische Diagnoseschlüssel (DSM-IV) hat den Begriff der Perversion durch Paraphilie ersetzt, der in der übrigen Welt geltende Diagnoseschlüssel (ICD-10) kennt nur noch Präferenzstörungen. Diese Umbenennungen deklarieren sich selbst als fortschrittlich: die pathologisierende und moralisierende Last des alten Begriffs soll getilgt werden. Zugleich wird damit ein psychodynamisch-strukturelles Denken in Einheitsbegriffen für überholt erklärt. In der Mitte der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts wurde es in den akademischen Diskursen zum Signum der political correctness, von Sexualität nur noch im Plural zu sprechen, von sexualities, homosexualities und so weiter. Auch im Deutschen gibt es seitdem Sexualitäten und Homosexualitäten – und auf keinen Fall mehr Perversion.

In seinen früheren Veröffentlichungen musste der Eindruck entstehen, Wolfgang Berner wolle den psychoanalytischen Einheitsbegriff der Perversion aufgeben und sich dem Trend anschließen, der die vorgeblich wertfreie, rein phänomenologische Beschreibung der beiden Diagnoseschlüssel zum Monopol erklärt. In seiner Monografie zur Perversion macht er nun von Anfang an klar, dass es Äpfel und  Birnen gibt: die Außenperspektive  von ICD-10 und DSM, die rein aus der dritten Person heraus „objektive Tatbestände“ beschreibt – oder dies wenigstens zu tun behauptet, und die Erste-Person-Perspektive der Psychoanalyse (S. 27), deren funktionell-dynamischer Begriff von Krankheit und Gesundheit immer abhängig davon ist, ob und wie sich eine „Störung“, die dann eventuell zur Diagnose Perversion führt, im gemeinsamen therapeutischen Prozess von Analytiker und Analysand erschließt. Hatte Berner in früheren Veröffentlichungen noch versucht, „Paraphilien“ als eigenen sexuellen Störungsbereich von den „übrigen“ Perversionen definitorisch abzugrenzen, so hat er dieses sinnlose Geschäft jetzt aufgegeben und als das erkannt, was es ist: die historisch andauernde Weg- und Umbenennung des Bösen. Die modernen Diagnoseschlüssel, die ihr Instrumentarium „von allen moralisierenden und anderen einseitigen Wertesystemen so weit wie möglich freihalten“ (S.12) wollen, entkommen der Moral von gut und böse ja keineswegs. In der Semantik von „Para-“ / Daneben wird schon titelgebend zum Ausdruck gebracht, dass es neben der falschen (para) die richtige Liebe gibt. Und von welcher ungestörten Präferenz soll denn ein ultimativ auftretender Fetischismus die Störung der Präferenz sein? Er ist pure Präferenz; von Störung – gerade in der Außenperspektive – keine Spur. Zwar wollen die modernen Diagnoseschlüssel die alte psychiatrische Folie der Perversion – verfehlte Erregung: eine sexuelle Erregung, die das vermeintlich biologische Ziel der Erregung, Fortpflanzung, verfehlt – durch die demokratische Folie der Beziehungsfähigkeit ersetzen und „stellen ein anderes zentrales Definitionsmerkmal in den Vordergrund, und das ist die Beziehungsfeindlichkeit“ (S. 14). Aber diese Folie bleibt blind, wenn nicht der innere Sinn der Beziehungsbedeutung entschlüsselt werden darf. Und diese Entschlüsselung, siehe oben, bedürfte eben der nunmehr offiziell entwerteten Ersten-Person-Perspektive.

In den letzten Jahren sind im psychoanalytischen Diskurs nach generationenlanger Funkstille eine ganze Reihe von Anstrengungen unternommen worden, Perversion neu zu denken. Den meisten dieser Versuche eignet ein gewisser hoch-getunter Rigorismus, der das „alte“ Konzept der Perversion – triumphalische Leugnung der Kastration – mit den Paradigmen eines besonderen, zeitgenössischen Konzeptes so kompliziert verschraubt, dass ihm nur derjenige noch folgen kann, der das betreffende Konzept internalisiert hat. In der vorliegenden, ebenso übersichtlich gehaltenen wie verständlich geschriebenen Monografie, geht Wolfgang Berner den umgekehrten Weg: Reduktion von Komplexität ohne Preisgabe desjenigen Bestands an Wissen, der sich in den letzten 80 Jahren wirklich angesammelt hat.

Bevor Berner die Summe seines eigenen Forscherlebens in einer „integrierten psychoanalytischen Perversionsdefinition“ (S. 29 f.) zusammenfasst, greift er kurz und knapp auf die Konzepte zurück, die vor ihm versucht haben, das strukturell Besondere der Perversion in der Vielfalt ihrer Erscheinungen zu fassen und in einen anschaulichen Begriff zu bringen: Robert Stollers Konzept der massiv traumatisierenden Mutter, die in ihrem Kind Rache-Impulse weckt, die dann ihrerseits sexualisiert werden; Janine Chasseguet Smirgels hierzu gegenläufiges Konzept einer Mutter, die ihr Kind gleichsam zuwenig „traumatisiert“, indem sie in ihm das illusionäre Gefühl nährt, ihr „eigentlicher“ Geliebter und also dem Vater überlegen zu sein. Sodann Mervin Glasser, der in seinem Konzept eines perversen Kernkomplexes diese beiden Konzepte dadurch integriert, dass er den Fokus auf die Beziehungserwartungen des späteren perversen Patienten einstellt. Schließlich auch das Konzept des Rezensenten: die fünf Kriterien, die gegeben sein müssen, um von einer Perversion zu sprechen. Berner kann in seinem abgekürzten Durchgang durch die Theoriegeschichte plausibel machen, wie sich der Fokus der Konzeptualisierung mit der Zeit ganz eindeutig verschoben hat: weg von Fixierung auf die Fixierung, will heißen, weg von einer klinischen Fixierung auf die „Herrschaft eines Partialtriebs, der alle Macht an sich gerissen hat“ (Freud) und hin zu einem besonderen infantilen Triebschicksal, das dann beim später perversen Patienten zu der Konstellation einer sexualisierten Beziehungsfeindlichkeit führt. Dass diese Fokusverschiebung auch eine große Gefahr mit sich gebracht hat, bleibt bei Berner außer Betracht: unter der Hand geht oftmals der „alte“ Perversionsbegriff seines sexuellen Gehaltes verlustig, und stattdessen übernimmt nun die „perverse Objektbeziehung“ in der klinischen Theorie die Führung – ihrerseits oft ganz gereinigt von irgendeiner manifest sexuellen Komponente.

In einer anschaulichen Tabelle (S. 31) führt Berner sodann seine eigene „integrierte Perversionsdefinition“ vor. Ich finde sie so überzeugend, dass ich ihr gern einen etwas voller klingenden Titel geben würde: ein Drei-Achsen-Modell zum Verständnis und zur Diagnostik der Perversion. Jede dieser drei Achsen enthält ihrerseits drei Einsatzstellen. Die erste Achse nennt Berner Definitionselemente. Hier stellt er die drei – in der Literatur wie im wirklichen Leben – immer wiederkehrenden Muster heraus: a) Fetischbildung; b) Feindseligkeit gegenüber dem Objekt; wird durch Ritualisierung gebunden (dem entspricht bei Reiche die „perverse Szene“); c) dominanter Einsatz eines Partialtriebs (die „alte“ Ebene der infantilen Fixierung). Die zweite Achse nennt er Verlaufsmerkmale. Hier unterscheidet er, und das ist gerade auch für die forensische Diagnostik von höchstem Belang: a) Perversion als Plombe (nach Morgenthaler); b) Perversion als Sucht oder Zwang (hierher würden ganz unterschiedliche Beiträge von Otto Fenichel, Hans Giese, Eberhard Schorsch und natürlich auch Reiches „Kriterium der süchtigen Unaufschiebbarkeit“ gehören); c) Perversion als Impulsdurchbruch. Die dritte Achse schließlich bezieht sich auf die Strukturmerkmale. Hier lehnt sich Berner eng an die Ausarbeitungen von Otto Kernberg an und unterscheidet mit ihm: a) Perversion bei hoch entwickelter, neurotischer Grundstruktur der Persönlichkeit; b) Perversion bei Borderline-Struktur und c) bei psychotischer Struktur. Für Leser mit einer Vorliebe für Schaubilder ergäbe sich hieraus wie von selbst ein Neun-Felder-Schema, das zu Verdichtungen und Verzweigungen einlädt. Berner widersteht diesem grafischen Kombinationstrieb – und greift auf sein von ihm so zurückhaltend als „integrierte Definition“ bezeichnetes Modell stattdessen in den nun folgenden Kapiteln über die Erscheinungsformen der Perversion, über Unterschiede in Intensität und Verlauf und in Konsequenzen für die psychotherapeutische Arbeit immer wieder zurück. Dabei erläutert er en passant den Gehalt der einzelnen Felder der drei Achsen. Berners Modell eignet sich zum tieferen Verständnis und zur Differentialdiagnostik von schweren Sexualstraftaten ebenso wie für nur subliminal wahrnehmbare fetischistische oder sadomasochistische „Vorlieben“, die in eine ritualisierte Szene obligat eingefügt sind und durch das ICD-10-Raster jederzeit unbemerkt durchfallen (und auch durchfallen sollen).

Es ist nicht Wolfgang Berners Art, uns mit einer schulmäßigen psychoanalytischen Überzeugung zu verfolgen. Berner denkt und handelt konsequent praktisch – ausgehend von den klinischen Anforderungen an eine forensisch spezialisierte sexualmedizinische Institution. Der eine oder andere Psychoanalytiker mag ihm darum einen gewissen Pragmatismus vorwerfen, dem die tiefsten Schichten im Aufbau einer Perversion therapeutisch entgehen müssen. Dieser Vorwurf ist wohlfeil. Sein Schlusskapitel über die Konsequenzen für die psychotherapeutische Arbeit endet mit „vier grundlegenden Hinweisen“ (S. 127) für die psychoanalytische Behandlung: Deutung der Sexualisierung; Erkennung der Übertragung und Gegenübertragung; Erkennung der Spaltung; Auflösung des Suchtmusters. Was er damit meint, hat er in den vorhergehenden Falldarstellungen und Fallbeispielen immer wieder erläutert – und er schließt mit dem realistischen Fazit, dass im Feld der Perversionen „viele Formen der psychoanalytischen Behandlung nicht zugänglich sind und dass man in solchen Fällen auch alternative Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung haben sollte“ (S. 132).

Reimut Reiche (Frankfurt / Main)

Renate Böhm, Eva Breidenbach-Fronius, Dorothea Gössl, Ulrike Hutter, Christian Schacht, Michael Schreckeis. Nur geschaut und nichts getan. Psychoanalytische Psychotherapie mit Kinderpornographie-Konsumenten an einer Sexualberatungsstelle. Hamburg: Argument Verlag 2010. 144 Seiten, EUR 17,90 [4]

Die Salzburger Sexualberatungsstelle, aus der das vorliegende kleine Buch stammt, ist offenbar ein Ort, an dem „schwer“ gearbeitet wird – nicht nur mit den Kinderpornographie-Klienten, sondern auch miteinander, im Team, in der Supervision und an sich selbst. Und weil so schwer gearbeitet wird, wollen die PsychotherapeutInnen / PsychoanalytikerInnen die Welt daran auch teilhaben lassen. Das Mitteilungsbedürfnis scheint groß und sehr dringlich zu sein, so groß und dringlich wie das Thema Kinderpornographie:

„Wer im Internet nach Kinderpornographie surft, kann leicht vor Gericht landen. Neben der Strafe wird immer häufiger die Auflage erteilt, eine Psychotherapie zu machen. PsychotherapeutInnen fällt diese Arbeit nicht nur aufgrund des Zwangskontexts schwer. Fünf PsychoanalytikerInnen und eine Juristin reflektieren in ihren Beiträgen die Erfahrungen, die in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kinderpornographie-Klienten gesammelt wurden“ (Umschlagrückseite).

Der Leser erfährt, dass die Salzburger Sexualberatungsstelle von 2008 bis 2010 das Forschungsprojekt „Kinderpornografie und Internet – Straftat und Psychotherapie“ durchgeführt hat. Auf den Projektbericht wird in einer Fußnote hingewiesen, gelegentlich wird auch daraus zitiert. Aus unerfindlichen Gründen werden das Forschungsprojekt und damit „die Basics“ (S. 7) aber nicht in einer Weise präsentiert, die es ermöglicht, sie mit den „weit über die ursprünglichen Projektziele“ (ebd.) hinausgehenden Reflexionen der AutorInnen zu verbinden. Die acht Aufsätze – Ulrike Hutter und Christian Schacht melden sich zweimal zu Wort – werden also als der „Schlagobers“ auf den Basics serviert, so als könnten diese den geweiteten Blick nur wieder verengen.

Das Gegenteil aber ist der Fall. Das Weglassen der Basics lässt eine Grauzone entstehen, in der sich der Leser immer wieder fragen muss, worum es den AutorInnen wirklich geht. Der fast durchweg angeschlagene hohe, leicht erregte Ton könnte noch als eine Folge des brisanten Themas Kinderpornographie verstanden werden. Wenn der Ton aber unüberhörbar das Projekt überdauert, dann ist er eher den AutorInnen eigen, die offenbar sagen wollen, dass sie nichts Schlimmes getan haben. Der Druck, sich zu rechtfertigen, erscheint zunächst recht eigentümlich, denn wer sollte Anstoß nehmen, wenn die Sexualberatungsstelle Salzburg forscht?

Anlass für das Projekt gibt eine auch in Salzburg steigende Zahl von Männern, die als Kinderpornographie-Konsumenten beim Surfen im Internet erwischt werden, vor Gericht „landen“ und von diesem dazu „verdonnert“ (S. 5) werden (die Weisung / Auflage erhalten), sich in Psychotherapie zu begeben und die deshalb die Sexualberatungsstelle aufsuchen. Dort nun ist es „der langjährigen Erfahrung der PsychotherapeutInnen dieser Einrichtung zuzuschreiben, dass sie bereits nach einigen Klientenkontakten feststellten, dass die Arbeit mit diesen Patienten auf vielfache Weise von der ‚normalen‘ Arbeit abwich“ (S. 5).

Doch schon während der Lektüre der Einleitung entsteht der Eindruck, hier wird etwas Altbekanntes unter dem Segel der Kinderpornographie neu aufgebläht. Weisungen des Gerichts sind ebenso wenig neu wie die pädosexuellen Männer, die offenbar einen Großteil der Klienten / Patienten / User auszumachen scheinen, die in die Beratungsstelle kommen. Das muss man sich aber schon in den einzelnen Beiträgen zusammenlesen, in denen dann die Unterscheidung zwischen den Kinderpornographie-Konsumenten und den pädosexuellen Männern zunehmend verblasst: „Als gesichert kann gelten, dass nicht jeder Mann, der Kinderpornografie im Netz konsumiert, eine kernpädophile Identität hat. Andererseits konsumiert jeder kernpädophile Mann Kinderpornografie, sofern zugänglich und vorhanden“ (S. 59).

Die interessante, weil neue und noch kaum bekannte Gruppe bilden demnach die nicht-kernpädophilen Männer, die Kinderpornographie im Internet konsumieren. Diese Gruppe wird indes nicht beschrieben und sie ist als solche vielleicht auch gar nicht zu erkennen. So leidet der Blick auf die Kinderpornographie konsumierenden Männer erheblich unter einer Unschärfe. Zwar sind alle, die untersucht werden, geschickte Patienten und alle haben das gleiche Delikt begangen. Die Bedeutung indes, welche der Kinderpornographiekonsum für kernpädophile und nicht-kernpädophile Männer hat, dürfte recht unterschiedlich sein. Wenn nicht, dann wäre dies ein bemerkenswertes Ergebnis des Salzburger Projekts, doch davon ist keine Rede.

Die Unschärfe hat auch einen gewissen Vorteil. Solange die kernpädophilen von den nicht-kernpädophilen Männern nicht unterschieden werden, hat man es mit einem „männlichen Delikt“ zu tun. Sobald aber differenziert wird, hat man die altbekannte Gruppe der pädosexuellen Männer, die im Internet in die Fallen ihres Begehrens geraten und den Großteil der Klienten ausmachen, und einen kleinen Teil von Klienten, die auch Männer sind, aber irgendwie hetero-normal oder Normopathen oder was auch immer. An diesem kleinen Teil ließe sich kaum die aufgeregte Debatte in der Salzburger Sexualberatungsstelle festmachen. Als männliches Delikt erst macht der Kinderpornographiekonsum etwas her und kann aufgeladen werden mit dem gesamten Furor einer gespreizten sexual-, geschlechter-, gesellschafts- und rechtspolitischen Debatte, die alles verwurschtelt, von der Intimrasur und der plastischen Chirurgie an den äußeren, weiblichen Genitalien, über die alten Männer, die viel zu junge Frauen heiraten bis hin zu den Müttern, die ihre Söhne traktieren und den Vätern, die wieder einmal „fern“ sind und zuletzt auch noch bis hin zur „Lieblosigkeit“ (S. 26) des Rechts.

„Der Kinderpornografie-Konsument wirkt wie ein Sündenbock, der stellvertretend für unsere lüsterne Gesellschaft mit Sünden beladen in die Wüste – einer unfreiwilligen Therapie – geschickt wird“ (S. 105). Dort in der Wüste aber findet er, wenn er Glück hat und sich gut anstellt, eine psychoanalytische Oase: „Insofern kann man die Maßnahme einiger Österreichischer RichterInnen, das Urteil im Deliktsfall ‚Kinderpornografiekonsum im Internet‘ mit einer Weisung zur Psychotherapie zu verknüpfen, als einen Versuch werten, diese Hintergründe nicht auszublenden, sondern eine ‚Spurensuche‘ anzuordnen“ (S. 113). Die AutorInnen sind in ihren veröffentlichten Texten der „Weisung“ der RichterInnen nicht nachgegangen. Man erfährt erstaunlich wenig über die psychotherapeutische Arbeit mit den Kinderpornographie-Konsumenten und die Besonderheiten, die sie mit sich bringt. Es sei denn, man macht sich als Leser unverdrossen auf den Weg, in der ‚Wüste‘ von Texten, von denen einige besser nicht veröffentlicht worden wären, nach etwas Wasser zu suchen.

„Ein Merkmal der Arbeit war, dass der Bedarf, so viel wie möglich über das Phänomen Kinderpornografie und ihre Nutzer aus kriminologischer, statistischer und soziologischer Sicht zu wissen, groß war […] Dieses Wissen schuf eine sichere Grundlage für den Verstehensprozess. Nachdem dieser abgeschlossen war, beschränkte sich die Funktion dieses Wissens nun darauf, als latentes Wissen abrufbar zu sein, aber nicht mehr in die Arbeit hineinzufunken: Es drehte sich die Situation also diametral um: Zuerst funkte die Unsicherheit hinein und als diese beseitigt war, galt es in einer Art Kunstgriff auf die Sicherheit des Wissens wieder zu verzichten, um die Verunsicherung durch den Klienten als Voraussetzung für eine möglichst präzise Gegenübertragung zuzulassen“ (S. 55 / 56). Ob das Wasser ist?

Es ist den AutorInnen die Kritik nicht zu ersparen, dass sie mit einer gewissen ‚Lieblosigkeit‘ ihre eigenen und die Texte ihrer KollegInnen gelesen haben. Dem Drang, sich mitzuteilen, wäre besser noch eine Weile widerstanden worden. Vielleicht hätte sich dann manches von dem gesetzt, was das Projekt aufgewirbelt hat und die Positionen der Salzburger Sexualberatungsstelle wären dann durchgearbeitet und konturiert vorgetragen worden. So hinterlässt der Band einen schalen Geschmack. Das ist durchaus zu bedauern, denn ein zentrales Thema des Bandes, die möglichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern in ihrer psychoanalytischen Arbeit mit pädosexuellen Männern und mit Kinderpornographie-Konsumenten, wird damit von den Frauen wie von den Männern verspielt.

Ein Trost zum Schluss. Während des Versuchs, eine Rezension zu schreiben, fiel mir immer wieder der Name einer österreichischen Eisprinzessin ein, Trixi Schuba. Sie war 1972 Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Eiskunstlaufen. Ihr Markenzeichen war ihre Stärke in der Pflicht. Sie zeichnete, präzise wie keine andere, ihre Pflichtfiguren ins Eis. Der Stärke in der Pflicht stand indes eine eklatante Schwäche in der Kür gegenüber, die sie meist etwas hölzern, mit flachen Sprüngen und nur der Andeutung von „künstlerischem Ausdruck“ lief. Gleichwohl, der Vorsprung, den sie sich in der Pflicht erarbeitet hatte, konnte keine ihrer Konkurrentinnen einholen.

Herbert Gschwind (Frankfurt / Main)

Barbara Schütze. Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte. Transsexualismus als Schattendiskurs pädagogischer Geschlechterforschung. Bielefeld: Transcript 2010 (Reihe: Gender Studies). 272 Seiten, EUR 27,80 [5]

Barbara Schützes Dissertation „Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte“ wirft einen Blick auf die aktuelle Verwendung des Gender-Begriffs in der kritischen Geschlechterforschung. Dass Gender im Laufe der vergangenen 30 Jahre zu einem akzeptierten Terminus wurde, ist für die Autorin nicht ausschließlich Grund zur Freude, sondern auch Anlass zur kritischen Reflexion. Das Buch beklagt die einseitige Verwendung von Gender für das Konzept des sozialen Geschlechts, um dieses von einem biologischen Geschlecht zu unterscheiden. Die Bedeutung von Gender als Kritik an der zweigeschlechtlichen und heteronormativ verfassten Gesellschaft hingegen scheint in den Hintergrund getreten zu sein.

Barbara Schütze verteidigt, dass die Geschlechterforschung einem humanistischen Ideal folgen und dass ein Begriff wie Gender zu Emanzipierung und Gesellschaftskritik dienen sollte. Doch hat dazu die Etablierung von Gender nicht beigetragen? Geschlechter sind soziale Praxis und keine Natur, diese Erkenntnis hat sich immerhin durchgesetzt. Könnte es dennoch sein, dass mit dem Begriff eine zweigeschlechtliche Ordnung nicht nur hinterfragt, sondern auch fortgeschrieben wird? Schütze zeigt zunächst, dass der Begriff Gender in seiner ursprünglichen Verwendung gar nicht darauf angelegt war, Zweigeschlechtlichkeit zu unterminieren. Anhand der Genese des Konzeptes Gender zeigt sie, dass die Idee einer quasi natürlichen Ordnung zweier Geschlechter hier stets implizit weitergeführt wurde, auch wenn Gender Abstand nimmt von dem Modell des biologischen Geschlechtskörpers.

Zwei Faktoren misst Schütze für die heutige Bedeutung von Gender besonderes Gewicht bei – einerseits Transsexualismus als Ausgangspunkt der Entwicklung des Begriffs, andererseits der Rezeption von Judith Butlers „Unbehagen der Geschlechter“ in Deutschland. Hierzulande, so Schütze, wurde Butler hauptsächlich als Kritikerin eines biologistischen Geschlechterbildes wahrgenommen. Ihre Theorie vom Geschlecht als Praxis stand dabei immer im Vordergrund. Vernachlässigt wurde dabei Butlers Kritik an der heteronormativen, zweigeschlechtlichen Gesellschaft.

Die Rezeption des Begriffs Gender in Deutschland begann, als hier bereits ein recht weit fortgeschrittener feministischer Diskurs existierte, in dessen Umfeld die historische Konstruktion von Gender kaum oder verkürzt berücksichtigt wurde. Barbara Schütze holt diese Geschichtsschreibung im ausführlichen Mittelteil des Buches gewissermaßen nach. Hierbei kommt die im vollständigen Titel angekündigte Rolle des Transsexualismus zum Tragen, da dessen wissenschaftliche Konzeptualisierung die Idee eines biologischen Geschlechts herausgefordert habe. Im Rückblick auf die Genese des Wortes und seiner Bedeutung identifiziert die Autorin drei Etappen. Dies sind in den 1950er-Jahren die erste mit großem öffentlichen Interesse wahrgenommene Transfrau Christine Jorgensen, in den 1960er-Jahren die „Geschlechterumerziehung“ im Fall Joan / John und schließlich das bald darauf folgende Konzept der „Core Gender Identity“ von Robert Stoller.

Am Beispiel von Christine Jorgensen, die 1952 in den USA zu einer Mediensensation wurde, zeigt sich, dass Geschlecht zu dieser Zeit hauptsächlich als eine Frage des Körpers vorkam. Transsexuelle wurden als Intersexuelle wahrgenommen, deren latenter körperlicher Veranlagung lediglich durch klinische, insbesondere hormonelle Eingriffe zur vollen Ausprägung verholfen werden sollte.

Je weiter aber die Forschung voranschritt und sich Psychotherapie als Massenphänomen durchsetzte, wurde die These eines körperlich veranlagten Transsexualismus verworfen. John Money, der den Begriff der „Gender Role“ prägte, sah in den 1960er-Jahren das Geschlecht als erlerntes Verhalten und leitete daraus die Möglichkeit ab, das Geschlecht komplett zu verändern. Money setzte seine Theorie in die Praxis um, als er einem jungen Elternpaar 1966 dazu riet, ihren Sohn als Mädchen aufzuziehen, nachdem dessen Penis bei einer missglückten Beschneidung verbrannt wurde. Die Angreifbarkeit von Moneys konstruktivistischem Geschlechterbild wurde dadurch erhöht, dass die Geschlechtsänderung des Betroffenen ohne dessen Einverständnis geschah und für die Familie in einer Tragödie endete. Die „Gender Role“ nach Moneys Verständnis lässt sich zudem als Werkzeug einer – notfalls gewaltsamen – Wiederherstellung heterosexueller Normalität interpretieren.

Dass sich bei der Behandlung von Transsexuellen dennoch das Konzept eines sozialen Geschlechts gegenüber dem eines biologischen durchsetzte, bringt Schütze mit der Idee einer „Core Gender Identity“ in Verbindung, wie sie von Robert Stoller ab 1968 vertreten wurde. Das „wahre“ Geschlecht ist hier im Anschluss an Freud eine Folge frühkindlicher psychologischer Prozesse, die sich nicht mehr nachträglich verändern lassen. Damit verlagert sich die Annahme eines „wahren Geschlechts“ hin zum Identitätsmodell. Gleichzeitig ist die „Core Gender Identity“ jedoch immer eindeutig und Teil einer zweigeschlechtlichen Gesellschaft, da es nur ein entweder/oder gibt. Durch die breite Verwendung des Gender-Begriffs infolge dieses Ansatzes hielt so ein neuer Essentialismus Einzug in die Geschlechterforschung, der auch den aktuellen Diskurs prägt.

Das Konzept Gender ist damit nach Ansicht der Autorin zweischneidig angelegt: Es emanzipiert, da es die Geschlechtsidentität vom biologischen Körper „befreit“, während es im selben Maße auch ordnet und einen Geschlechterdualismus fortschreibt. Insbesondere in der Pädagogik fällt dies ins Gewicht, worauf die Autorin mit dem Buch hinweisen möchte. Allerdings findet der größte Teil ihrer Argumentation unabhängig von diesem Wissenschaftsfeld statt. Pädagogische Diskurse, die die Autorin als Hauptmotivation anführt, werden kaum beschrieben oder anhand von Beispielen erläutert, sie bleiben als Rahmen merkwürdig abstrakt. Lediglich das letzte Kapitel widmet sich dezidiert pädagogischen Konzepten und ist der Versuch, einen bildungstheoretischen Diskurs voranzutreiben, der einen reflektierten Umgang mit Geschlecht bietet. Das Buch eignet sich damit weniger für pädagogische Fachkräfte, sondern bietet allgemein wertvolles Basiswissen zum Gender-Begriff.

Gunnar Klack, Hanno Stecher (Berlin)

Peter-Paul Bänzinger. Sex als Problem. Körper und Intimbeziehungen in Briefen an die »Liebe Marta«. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 2010. 393 Seiten, EUR 43,00 [6]

„Liebe Marta, ich bin 26 Jahre alt, und sehe wirklich nicht schlecht aus. Ich rauche nicht, trinke keinen Alkohol, und arbeite immer, im Allgemeinen geht es mir gut. Aber das gegenwärtige Problem ist in der Liebe.“ Mit diesen Worten beginnt ein junger Mann seinen Brief an die Liebe Marta, Kolumnistin des Blick. Die Liebe Marta ist eine regelmäßig in der Schweizer Tageszeitung Blick (vergleichbar mit der deutschen Bild-Zeitung) erscheinende Kolumne, in der Marta Emmenegger von 1980 bis 1995 Ratschläge zu den Themen Liebe, Sex und Partnerschaft erteilte. Vergleichbar der „Dr. Sommer“-Sparte in der Bravo oder der ehemaligen Radiosendung des NDR mit Dr. Marcus sowie anderer öffentlich-medialer (Sex-)Beratungsangebote antwortete Marta Emmenegger auf konkrete Anfragen, Briefe, die Leser/innen ihr schickten und in denen diese um Hilfe und Rat baten. Diese Briefe stehen im Zentrum der Dissertation des Historikers Peter-Paul Bänzinger, die unter dem Titel „Sex als Problem. Körper und Intimbeziehung in Briefen an die ‚Liebe Marta‘“ jüngst als Buch erschienen ist.

Das Archiv der Briefe bildet den historiographischen Ausgangspunkt, von dem aus sich Bänzinger einen Weg durch sein reichhaltiges Material bahnt. Dabei gilt sein Interesse nicht nur den in den Briefen verhandelten Themen, sondern ebenso der spezifischen Kommunikationssituation, deren Medium die Briefe und deren Form die Beratung ist. Aus einer diskurstheoretischen Perspektive untersucht er, wie unter den Bedingungen dieser spezifischen Beratungssituation welche Themen verhandelt werden, wie Sexualität und Körper darin thematisiert werden und nicht zuletzt, welche Subjektivitäten in und durch die Beratungssituation artikuliert werden.

Die Kapitel des Buches sind nach Art eines Registers angeordnet, d. h. thematisch und alphabetisch: zunächst vier Themenbereiche unter der Überschrift „Beratung“ („‚Liebe Marta‘“, „Drittangebote“, „Rat suchen“, „Erklärungen“), dann folgen unter der Rubrik „Körper und Beziehung“ zwölf weitere alphabetisch geordnete Themenbereiche (von „Alter“ bis „Zweisamkeit“), die aber dank der Querverweise in beliebiger Reihe lesbar wären.

Die meisten Menschen wenden sich in ihren Briefen an die Beraterin, weil sie ein Problem mit dem Sex und / oder der Liebe haben und sich von der Beraterin einen Lösungsvorschlag erhoffen. Diese besondere Situation wird von dem Format der Kolumne bereits vorausgesetzt. In der Ankündigung, mit der der Blick 1980 seine neue Kolumne bewirbt, heißt es entsprechend, dass sich Menschen bei Problemen mit Liebe, Sex und Partnerschaft vertrauensvoll an Marta Emmenegger wenden sollten. Diese beantworte offen und kompetent alle Fragen, „denn sie weiss, wie aus dem Unglück bei der Liebe wieder ein Glück zu zweit entstehen kann.“ (S. 15) Und das Glück lässt sich herstellen, wenn das Problem erst einmal als sexuelles und damit als technisch zu lösendes erkannt ist. Die Annahme, dass sich Sex immer noch verbessern lässt, ist die implizite Geschäftsgrundlage der Beraterin. Wie Bänzinger insbesondere im Kapitel Beratung herausstellt, bedingt die Beratungssituation, dass die Briefeschreiber / innen in der Beschreibung ihres jeweiligen Problems auch ein gutes Stück ihrer eigenen Lebensgeschichte in die Gegenstandsbeschreibung mit einweben. Sie versuchen, eine möglichst konsistente Problemherleitung zu liefern und damit letztlich auch sich selbst im Zeichen eines Problems überzeugend zu thematisieren. Bänzinger verfolgt diesen Aspekt der Selbst-Thematisierung in mehreren Kapiteln und stellt ihn plausibel in den in den Sozialwissenschaften in jüngster Zeit verschiedentlich diskutierten Kontext einer Arbeit am Selbst. So gilt als zentrales Kennzeichen neoliberaler Subjektivierung, dass Gesellschaft als Bezugspunkt in den Deutungen Einzelner zunehmend zurücktritt und der / die Einzelne vermeintlich alleinig verantwortlich ist für Erfolg oder Scheitern. Die Verinnerlichung dieser Individualisierungs-Ideologie drückt sich auch in den thematisierten Problembeschreibungen der Briefeschreiber / innen, aber vor allem auch in den Ratschlägen der Beraterin aus: Der Sex und nicht zuletzt das Selbst unterliegen einer ständigen Optimierungsanforderung. Problemlösung und Optimierung (der eigenen Genuss- und Leistungsfähigkeiten) sind somit die beiden Koordinaten, die das Sprechen über Sex und Partnerschaft ermöglichen und begrenzen. Dies zeigt sich auch in dem Bestreben nach Normalisierung, das sich durch die verschiedenen Thematisierungen zieht: In Bezug auf Sexpraktiken wie auch auf körperliche Selbstbilder, sexuelle Vorlieben und Liebesobjekte herrschen keine explizit präskriptiven Normen mehr (wie beispielsweise ein Onanie-Verbot), dafür gilt es jedoch die eigene Lust- und Liebesfähigkeit im Rahmen normalisierter Verteilungen zu steuern und zu modulieren. Für diese Einstellung ist die Beraterin eine Norm-setzende Autorität. In den Thematisierungen von Sex-Praktiken zeigt sich eine Ausdifferenzierung an Praktiken und Vorlieben, dominant in den Selbst- und Problembeschreibungen ist jedoch nach wie vor das „Penetrations-Skript“. Ebenso zeugen die Beschreibungen auch davon, dass die Wahl eines Skripts Gegenstand partnerschaftlicher Verhandlungen ist. Die Beraterin unterstützt prinzipiell eine Offenheit für Praktiken, Stellungen und Vorlieben – solange diese nicht zum Zwang würden. Der Bereich des „sexuell Normalen“ ist in den 1980er-Jahren größer geworden, jedoch nicht beliebig dehnbar. Neben der Normalisierung zieht sich die Perspektive auf Geschlecht durch die Betrachtung der Themen, die in den Briefen eröffnet werden. Interessanterweise wandten sich in etwa gleich viele Männer wie Frauen an die Liebe Marta. In den Darstellungen und Problematisierungen lassen sich jedoch geschlechtstypische Muster ausmachen. Auch ist der explizite Bezug auf Geschlecht ungleich verteilt: Männer thematisierten stärker Männlichkeit als Frauen Weiblichkeit. Bänzinger deutet diese Asymmetrie als Symptom der zunehmenden Krisenanfälligkeit hegemonialer Männlichkeiten. Manche Männer formulieren den Wunsch nach einer traditionellen Geschlechterordnung, letztlich aber die Unfähigkeit eine Partnerin zu finden, die dieser Vorstellung entspricht. Ein weiteres Thema ist das Alleinsein, das ebenfalls mehr von Männern als von Frauen angesprochen wird. Einige der Briefeschreiber versprachen sich gar von der Beraterin eine Kontaktvermittlung. Die Suche nach dem / der „idealen“ Partner / in wird in Briefen sowohl jüngerer wie ältere Briefeschreiber gleichermaßen angesprochen. Ein anderer Thematisierungsbereich, den auch Marta Emmenegger in ihrer Kolumne regelmäßig aufgreift, ist das Alter. Während die Sorgen älterer Männer vermehrt um die Frage der Potenz kreisen, lassen sich für Frauen keine altersspezifischen Themen herausarbeiten. Die Thematik Orgasmus als stärker „weibliches Problem“ wird von Jüngeren wie Älteren gleichermaßen aufgebracht. Wie sehr letztlich die verschiedenen Themenbereiche mit der Suche nach Glück verknüpft sind, zeigt ein Brief einer über 80-jährigen Frau: „Liebe Marta! Schon lange hatten wir im Sinn, Dir zu schreiben über für uns glückbringende Erfahrungen in den letzten Jahren. […] Durch einen einzigen Satz kamen wir darauf, dass es auch im Alter möglich ist, zur Entspannung zu kommen. Seither verstehen wir einander viel besser, können im hohen Alter noch lieb sein zu einander und sind nun wirklich glücklich zusammen.“

Die Analyse der Briefe an die Liebe Marta ist ein gelungenes und sehr gut lesbares Werk über die Wünsche und Probleme, die Menschen in Bezug auf Liebe und Sexualität in den 1980er und 1990er Jahren in Leser / innenbriefen formulierten. Peter-Paul Bänzinger versteht es dabei auf anregende Weise, die aus den Briefen destillierten Thematisierungen mit aktuellen kultur- und geisteswissenschaftlichen Konzepten und Theorien anzureichern und zu verdichten. Dabei ist die originelle Darstellungsform – das Archiv als Register – ein gutes Mittel, um den interdisziplinären Anspruch auch formal umzusetzen.

Nicht zuletzt stellt das Buch in seinem Versuch, die Beratungskommunikation als Merkmal neosozial verfasster Gesellschaften zu beschreiben, einen wichtigen Beitrag im aktuellen Feld der Arbeiten zu Selbstverhältnissen unter neoliberalen Vorzeichen dar. Allerdings ist an dieser Stelle auch kritisch anzumerken, dass die Einbettung der empirischen Befunde in einen gesellschaftstheoretischen Rahmen, der mit den Stichworten neoliberale Gouvernementalität bzw. neosozial verfasste Gesellschaft umrissen werden kann, systematischer hätte angelegt werden können. Zu flott wird häufig die Ebene der Aussagen einzelner Briefeschreiber mehr oder weniger direkt mit der gesellschaftstheoretischen kurz geschlossen. Aber vielleicht hätte eine ausführlichere sozialwissenschaftliche Argumentation auch den historiographischen Rahmen der Arbeit gesprengt. Wichtige Impulse in diese Richtung weiterzudenken, gibt das Buch allemal; beispielsweise indem es ein hegemoniales Selbstkonzept benennt: Sex als ein Problem, das sich pragmatisch lösen lässt, wenn der/die Einzelne zu der verstärkten Arbeit am eigenen Selbst bereit ist.

Imke Schmincke (München)

Stefan Horlacher, Hrsg. „Wann ist die Frau eine Frau?“ „Wann ist der Mann ein Mann?“ Konstruktionen von Geschlechtlichkeit von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik, ZAA Monograph Series Band 10. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 289 Seiten, EUR 39,80 [7]

Der interdisziplinär angelegte Sammelband: „Wann ist die Frau eine Frau?“ „Wann ist der Mann ein Mann?“ offenbart dem Leser anhand von zwölf Beiträgen aus Anglistik, Germanistik, Kulturwissenschaft, Klassischer Philologie, Musikwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Soziologie sowie Männer- und Geschlechterforschung eine eindrucksvolle Vielfalt von „Konstruktionen von Geschlechtlichkeit von der Antike bis ins 21. Jahrhundert.“ Ausgangspunkt und Erkenntnisanliegen des größtenteils kulturhistorischen Sammelbands stellt das zunehmend zu beobachtende Verschwimmen der Geschlechtergrenzen in den westlichen Industriestaaten der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts dar. Das vermeintlich starke Geschlecht verfällt im heutigen, mediendemokratischen Alltag zum besorgten Familienvater, der im gesellschaftlichen Selbstverständnis hin und hergerissen wird zwischen Männlichkeitsidealen wie dem epikureischen Marlboro Man, John Rambo oder stählernen Gestalten wie dem virilen Androiden aus James Camerons Terminator. Die Kehrseite zur martialisch-archaischen Männerutopie jedoch ziert ein völlig anderes Ideal; die Frauenwelt wünscht sich Softi-Typen aus Filmen wie „Der Bewegte Mann“ oder „Männer“. „In einer Gesellschaft des Spektakels (Guy Debord) und des Obszönen (Jean Baudrillard) geben sich ‚Machos‘ und ‚Softies‘ die Klinke in die Hand (…)“ (S. 8). Auch verdeutlicht die Prominenz metrosexueller Männer, wie etwa eines androgynen David Bowie, Boy George oder des inzwischen verstorbenen Michael Jackson, die gegenwärtige Konzeptionsvielfalt und gesellschaftliche Liberalisierung des Mannes.

Das war nicht immer so. Ein exemplarischer Antagonismus zu der gegenwärtigen Konzeptionsvielfalt männlicher Inszenierungs- und Existenzformen lässt sich am antiken Männlichkeitsideal verdeutlichen, mit dem sich der Beitrag von Fritz-Heiner Mutschler: „Gender im alten Rom: Zur Konstruktion der Geschlechterrollen in lateinischen Texten vom Beginn der römischen Literatur bis in die augusteische Zeit“ befasst. Anhand von römischen Texten, aus Bereichen wie Epigraphik, Epik, Historiographie und Rhetorik aber auch durch eine historisch-interpretative Deutung symbolischer Repräsentationen wie dem öffentlichen Denkmal oder dem öffentlichen Ritual, illustriert der Autor die antiken Vorstellungen gestandener Männlichkeit. Neben der Teleologie des Mannes zeichnet Mutschler auch das Bild einer außergewöhnlichen antiken Frauenspezies nach; von Hetären, oftmals hochgebildeten und politisch einflussreichen Geliebten bedeutender Männer, die bestens um ihre Wirkung wussten und es verstanden, „ohne bösartig zu sein, (…) sich um ihres Vorteils willen in Szene zu setzen“ (S. 62).

Zwar mit keiner opportunistischen Lebensabschnittsgefährtin doch sicher mit einer beispiellosen Herrscherin beschäftigt sich der Aufsatz von Thomas Kühn: „Regieren in einer Männerwelt: Weiblichkeit bei Königin Elisabeth I.“ Die im Jahre 1533 geborene Tochter Heinrichs VIII. und Anne Boleyn, welche England 45 Jahre zwischen 1558–1603 regierte, gilt einer aktuellen BBC-Umfrage nach noch immer als siebtgrößte aller Briten (S. 76). Königin Elisabeth I. regierte nicht nur in einer von Männern dominierten Welt, auch bewies sie ihr innen- und außenpolitisches Herrscherpotential durch den unverzichtbaren Sieg Englands über die spanische Armada im Jahre 1588, wodurch sie den Aufstieg Englands zur Großmacht vorbereitete. Elisabeth regierte als Monarchin in einer Männerwelt ohne Mann an ihrer Seite.

Gleich mehrere Beiträge widmen sich verschiedenen Phänomenen des 19. Jahrhunderts. So zeigt Susanne Schötz in ihrem Aufsatz: „Geschlechterverhältnisse im Bürgertum und Kleinbürgertum des 19. Jahrhunderts: Zur Erfolgsgeschichte von Putz- und Modewarenhändlerinnen“, dass bereits im 19. Jahrhundert eine wesentlich größere Variabilität des bürgerlichen Frau-Seins möglich war, als heute oft angenommen wird. Putz- und Modewaren, die sich im Zuge von Urbanisierung und Bevölkerungswachstum zunehmend erfolgreicher veräußern ließen, wurden in der Blütezeit der Industrialisierung zu einem Erfolgsgaranten der Frau, der den Geschäftserfolg von Putzmacherinnen, Damenschneiderinnen und Händlerinnen durch ein Angebot an diversen Mode- und Geschenkartikeln für ein weibliches Klientel langfristig sicherstellte (S. 127).

Auch Kerstin Stüssels Beitrag: „Erzählte Familien und familiäres Erzählen im ‚bürgerlichen‘ Realismus“ hält sich im 19. Jahrhundert auf, fokussiert allerdings auf literarische Texte von Gottfried Keller, Theodor Storm und Wilhelm Rabe. Kritisch diskutiert sie hierbei den wohl bis heute schwierigsten und umstrittensten Aspekt der feministischen Politik und der Geschlechterforschung: die Familien- und Verwandtschaftsstruktur. Mit dezidierten Verweisen demonstriert Stüssel, wie moderne Familiarität in den narrativen Verschachtelungen der prominenten Schriftsteller konstituiert wird (S. 137).

Eine gelungene Übersicht zum aktuellen Forschungsstand der Geschlechter- und Körperforschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften referiert Elisabeth Tiller in ihrem Aufsatz: „Zeitsprünge: Judith Butler und gender performance bei Michel de Montaigne und Ambroise Paré“. Anhand von theoretischen Verweisen poststrukturalistischer Ideen schafft es Tiller, einen fundierten Eindruck darüber zu vermitteln, wie sich Geschichte und Kultur in Diskursen artikulieren und über verschiedene Instanzen und Institutionen in den menschlichen Körper einschreiben. Hierzu führt sie insbesondere die kulturrelativistischen Überlegungen von Philipp Sarasin an. „Die Historizität des Körpers korreliert mit dem Wandel seines jeweiligen kulturellen Kontexts (…) die als evolutive Faktoren allesamt auf die epistemische, symbolische und soziale Zurichtung der empirischen Körper einwirken“ (S. 90).

Auch Gaby Pailer beschäftigt sich in ihrem Aufsatz: „‚Citing the Heterosexual Norm Differently‘ – Louise von François‘ Die letzten Reckenburgerin aus dem Blickwinkel von Judith Butlers ‚Geschlechtertheorie‘“ mit Butler und macht ihre Theorie für die Untersuchung eines prominenten historischen Romans des deutschen Realismus geltend, „die letzte Reckenburgerin“.

In ihrem Aufsatz „‚Endure or Escape‘ – Männlichkeit als momentum in John Cowper Powys‘ Wolf Solent‘ stellt Claudia Lainka die Frage, wie Männlichkeit anhand von Überlegungen Jacque Lacans und in einer psychoanalytischen Betrachtung hinterfragt werden kann, bevor sie in einem dritten Teil die Konzeption von Männlichkeit in John Cowper Powys‘ Roman Wolf Solent von 1929 in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung rückt.

Mit „Überlegungen zur theoretischen Konzeption männlicher Identität aus kulturwissenschaftlicher Perspektive“ befasst sich der umfassende Beitrag von Stefan Horlacher. Einer hervorragenden Übersicht zum aktuellen Forschungsstand in den Masculinity Studies schließt sich eine eher theoretische Vertiefung gegenwärtiger Konzeptionen männlicher Identität an. Hierzu beschreibt der Autor die lebensweltliche Problematik von Männern, in der er kritisch die jeweiligen Perspektiven der Identitätsforschung, Kulturanthropologie und Psychoanalyse diskutiert.

Lother Böhnisch hinterfragt in seinem Aufsatz: „Die Ambivalenz der Geschlechternivellierung und die Bewältigungsfallen im Verlauf der männlichen Sozialisation“ die „traditionelle Dominanz des Männlichen“ im gesellschaftlichen Alltag der Gegenwart. Böhnisch stellt die These auf, dass neue Technologien geschlechtsnivellierende wie differenzauffordernde Effekte freisetzen und heutigen „Mädchen und Jungen, Männer und Frauen (…) sich in der Benutzung der neuen Informations- und Kommunikationsmedien in nichts mehr nach [stehen]“ (S. 239).

Um die androzentrische Gewalt an Aufsätzen, die diesen Band prägt, mit Darstellungen von Weiblichkeit zu parieren, referiert Lars Heiler in seinem Beitrag: „Regressionsmythen und Konstruktionen von Weiblichkeit im britischen Gegenwartsroman“ den Einfluss künstlerischer und literarischer Darstellungen von Weiblichkeit und beschreibt diese als transformatorische Kräfte für die Formation von Geschlechterverhältnissen. Dazu verweist er u. a. auf den jahrtausendealten Ursprung von Weiblichkeitsmodellen, die in „mythischen Tiefenstrukturen“ wurzeln und „bis in die Gegenwart hinein wirkungsmächtig geblieben sind (…)“ (S. 247).

Der den Band beschließende Beitrag der zwei Autorinnen Annette Kreutziger-Herr und Gesa Finkel: „Studies in Music History: No / More Gender?“ ergänzt die vorherige soziologische, historische und kulturwissenschaftlich-literarische Perspektive auf Geschlechtlichkeit durch eine musikwissenschaftliche. Anhand von drei prägnanten Beispielen: die Lyrik und Musik der Trobairitz im Mittelalter, die Nachlassverwaltung von Konstanze Mozart zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie die historische Aufführungspraxis der Yvette Guilbert um 1900 hinterfragen die Autorinnen, wie die Genderperspektive die Musikgeschichte und Musikgeschichtsschreibung verändern kann.

Dennis Krämer (Münster)

Claudia Opitz-Belakhal. Geschlechtergeschichte. Reihe: Historische Einführungen, Bd. 8. Frankfurt am Main / New York: Campus Verlag 2010. 201 Seiten, EUR 16,90 [8]

Dass als achter Band der vom Campus-Verlag herausgegebenen Historischen Einführungen die „Geschlechtergeschichte“ von Claudia Opitz-Belakhal erschienen ist, kann als Hinweis auf die Etabliertheit der Geschlechterforschung und auf ein erreichtes theoretisches und methodologisches Niveau innerhalb der historischen Forschung gelesen werden. Das ist auch daran erkennbar, dass Opitz-Belakhal nicht, wie der Titel nahe legen könnte, einen Abriss der ‚Geschichte der Frauen‘ bzw. der Geschlechterverhältnisse vorgelegt hat. Vielmehr zeigt sie auf, wie sich, angefangen von der historischen Frauenforschung der 1970er Jahre bis in die Gegenwart, die begrifflichen und methodischen Zugänge zu bestimmten Themen bzw. Gegenständen verändert und entwickelt haben. Sie legt ihren Ausführungen zugrunde und belegt dies materialreich, dass Geschlechtergeschichte ein „internationales Projekt (ist), dessen nationale Standorte zwar deutlich markiert sind, das aber sehr häufig durch internationale Debatten (insbesondere im angloamerikanischen Raum) angeregt und vorangetrieben wird“ (S. 8). Und sie will zeigen, dass Geschlechtergeschichte „sich weniger als eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft (versteht), sondern (…) von ihrer Entstehungsgeschichte her dem Anspruch verpflichtet (ist), die Geschichte umzuschreiben – und damit auch die geschichtliche Traditionsbildung und die geschichtswissenschaftliche Methodenlehre in ihrer ganzen Breite zu kritisieren und zu reformieren“ (S. 7).

Inwiefern Geschlechtergeschichte diesem Anspruch gerecht wird, zeichnet Opitz-Belakhal gegliedert nach acht thematischen Schwerpunkten nach. Zunächst zeigt sie auf, wie sich die international in der Frauen- und Geschlechterforschung geführten Debatten um die Kategorie Geschlecht in der historischen Forschung in einer Entwicklung von der „stark sozialgeschichtlich orientierten ‚Frauengeschichte‘“ (S. 11) hin zur Geschlechtergeschichte niedergeschlagen haben. Ging es jener vor allem darum, Frauen als unterdrückte soziale Gruppe sichtbar zu machen und Leerstellen in der Geschichtsschreibung mit Untersuchungen zu bislang vernachlässigten ‚frauenspezifischen‘ Bereichen zu schließen, ist „deren Gegenstand viel offener und weiter ausgreifend definiert“ (S. 11). Gut nachvollziehbar rekonstruiert sie, wie die Debatten um sex und gender zu einem erhöhten Maß an begrifflicher Reflexivität und Differenzierung führten und so die Kategorie Geschlecht in der Allgemeinen Geschichte und als „zentrales Moment aller denkbaren Herrschaftsbeziehungen“ (S. 14) verankert werden konnte. Zugleich macht Opitz-Belakhal deutlich, wie – indem ‚Frau / en‘ als „bisheriger Gegenstand der ‚Frauengeschichte‘“ zur „fraglichen Kategorie“ (S. 18) wurde – eine heftige Kontroverse um den Stellenwert ‚weiblicher‘, ‚geschlechtsspezifischer‘ Erfahrungen für die Geschlechterforschung entbrannte, die wiederum zu neuen Forschungsfragen führte. Zu nennen ist hierzu bspw., wie „diskursive Formationen auf Körper bzw. verkörperte Subjekte einwirken“ (S. 19), bzw. wie Dimensionen kollektiver und individueller Erfahrung ‚zum Sprechen‘ gebracht werden können, die „als ‚Unbewusstes‘, Nicht-Sprachliches, Verdrängtes der diskursanalytischen Erforschung von Körper-Geschichte entzogen sind“ (S. 21). Oder auch, was es für die historische Forschung heißt, Körper nicht als biologisch gegeben und damit unveränderbar zu verstehen, sondern eher von Verkörperung als Prozess zu sprechen und ‚Geschlecht‘ als einen sozialen Marker zu begreifen, der soziale und kulturelle Grenzziehungen, Ein- und Ausschlüsse sowie Hierarchisierungen sichtbar macht. Die Autorin zeigt den Erkenntnisgewinn für die Geschlechtergeschichte auf, doing gender bzw. narrating gender als kommunikative Praxis zu fassen, in der biografisch-individuelles Erzählen und die Konstruktion einer gemeinsamen sozialen Wirklichkeit, also Erfahrung und Strukturen, miteinander verknüpft werden und Geschlecht als „mehrfach dimensionale Kategorie“ (S. 36) analytisch einzusetzen.

Auf der Grundlage dieser Einführung in den state of the art der Geschlechtergeschichte geht Opitz-Belakhal dann einigen, in der historiografischen Debatte besonders prominenten Themen der Entwicklung von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte nach. Sie zeigt auf, was WissenschaftshistorikerInnen und KultursoziologInnen zum Verständnis von kulturellen Geschlechterordnungen, ihrer Symbolkraft und identitätsbildenden Wirkung geleistet haben, indem sie den Anteil von Religion bzw. – in modernen Gesellschaften – von Medizin und Naturwissenschaften an der Produktion von Geschlechterbildern und -stereotypen rekonstruierten. Sie arbeitet wesentliche Akzentsetzungen in den Debatten um das Verhältnis von Klasse, Stand und Geschlecht heraus und weist als deren Ergebnis auf, dass sich die Frage erledigt hat, „welche Dimension des analytischen ‚Doppelpacks‘ ‚Klasse und Geschlecht‘ ‚geschichtsmächtiger‘, das heißt historiographisch relevanter sei“ (S. 70). Die Autorin betont, dass sich für historische Untersuchungen der Zeit vor 1800 die Kategorie ‚Klasse‘ nicht eignet und der Fokus generell weniger auf die – umfassend untersuchte – Frauen(erwerbs-)arbeit zu legen ist, als auf das „Wirtschaften mit der Geschlechterordnung“ (S. 75). Sie arbeitet heraus, welche widersprüchlichen Wirkungen das Mittäterinnen-Konzept für die Erforschung nationalsozialistischer Geschlechter- und Rassenpolitik hatte und – allgemeiner – wie die miteinander verknüpften Konstrukte von Nation und Geschlecht die Konstituierung moderner Nationalstaaten befördert haben. Einen breiten Raum nimmt die Debatte um ‚öffentlich vs. privat‘ ein, ein „Begriffspaar, das seit über hundert Jahren unsere Sprache, unser Denken und unsere wissenschaftlichen Konzepte, mit denen wir uns an historischer und aktueller Gesellschaftsanalyse versuchen, durchdringt“ (S. 97). Sie verdeutlicht, dass mit dieser begrifflichen Trennung sowie dem ‚gendering‘ der beiden sozialen Räume der historisch-analytische Blick auf Ehe, Familie, Haushalt und Sexualität verstärkt bzw. geschärft wurde, verweist aber auch darauf, dass eine Verwendung des Begriffspaares als quasi „überzeitliche Historie“ (S. 98) unangemessen ist. Allerdings verwendet sie dann selbst Begriffe wie „Staatlichkeit, Öffentlichkeit und Privatheit“, um auf die bislang ungenügend erforschte institutionelle Organisation von Tätigkeiten zur Erzeugung von Gütern bzw. zur individuellen und generativen Reproduktion im Mittelalter hinzuweisen (S. 108). Und sie begründet nicht, weshalb es „heute höchst fraglich ist, ob es überhaupt je eine gesellschaftliche Wirklichkeit gegeben hat, die zumindest in ihren grundlegenden Beziehungsformen und -praktiken durch das public-private-Konzept angemessen beschrieben werden kann“ (S. 98 f.). In der feministischen Sozialwissenschaft, die sich der Analyse aktueller moderner Gesellschaften widmet, würde sie mit dieser These auf Widerspruch stoßen – allerdings wird hier ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ auch nicht mit dem us-amerikanischen Begriffspaar ‚public-private‘ identisch verwendet, das „Familie und Gesellschaft“ (S. 98) gegenüberstellt.

Schließlich zeichnet Opitz-Belakhal nach, wie sich aus der Geschichte der Frauen(bewegungen) eine Geschichte der Frauen, ihrer Macht und ihrer Listen entwickelte und in der Forschungsaufgabe präzisiert wurde, „das Verhältnis von Frauen zum Politischen jeweils epochen- und kulturspezifisch zu untersuchen“ (S. 137). Sie verweist darauf, dass die „Geschlechtergeschichte die Sphäre des Politischen im engeren Sinne bzw. den Bereich der modernen Staatlichkeit erst relativ spät als wichtiges Forschungsfeld entdeckt hat“ (S. 138). Mit dem Schließen dieser Lücke wurde nicht nur eine „Neubetrachtung von Staatlichkeit und Politik, etwa im Umfeld der Revolutionen in England und Frankreich“ (S. 139) befördert, sondern auch der historiographische Blick auf Herrschaftsmechanismen moderner Gesellschaften gelenkt, die sich in vergeschlechtlichten Legitimationsstrategien, in Ein- und Ausschlüssen qua Geschlecht äußern, sowie auf die Rolle des Sozialstaates bzw. des Militärwesens für die Reproduktion von Geschlechterhierarchien.

Abschließend diskutiert die Autorin die Frage, inwieweit es den historischen Fakten angemessen ist, von einer ‚männlichen Geschichtsschreibung‘ zu sprechen. Sie konstatiert zum einen, dass die Allgemeine Geschichte bislang immer noch weitgehend ‚geschlechtsblind‘ ist, also in ihren Erzählungen wichtige soziale Felder bzw. die Erfahrungen eines Teils der Menschen ausklammert. Sie skizziert zum anderen, welche unterschiedlichen Positionen es unter HistorikerInnen aktuell gibt, Allgemeine Geschichte und Geschlechtergeschichte miteinander zu verknüpfen und konstatiert als Fazit: „Insgesamt zeigt sich zu Beginn des dritten Jahrtausends, dass die geschlechtergeschichtliche Forschung genügend Ergebnisse und methodologische Erkenntnisse vorzuweisen hat, um die Grundlagen historiographischen Denkens und Schreibens von einer institutionell verbesserten und methodologisch differenzierteren Position her zu befragen und, wo nötig, auch zu verändern oder ganz zu verwerfen“ (S. 177).

Insgesamt hat Claudia Opitz-Belakhal eine Einführung in die Geschlechtergeschichte vorgelegt, die nicht nur EinsteigerInnen Orientierung gibt, sondern auch für diejenigen, die Geschlechterforschung betreiben, neue Einblicke in bzw. Sichtweisen auf die feministischen Debatten der letzten drei Jahrzehnte vermittelt. Sie versteht es, bei aller Knappheit die Kernpunkte der jeweiligen konzeptionellen Auseinandersetzungen präzise und nachvollziehbar herauszuarbeiten – und zwar genau bis zu dem Punkt, wo, insbesondere für ‚Neulinge‘, die Beschäftigung mit den Originaltexten angeregt bzw. erforderlich wird.

Irene Dölling (Potsdam)

Régis Schlagdenhauffen: Triangle rose – La persécution nazie des homosexuels et sa mémoire. Paris: Editions Autrement – Collections Mutations / Sexe en tous genres – n° 264 2011. 311 Seiten, EUR 23,00 [9]

Bis in die 1970er-Jahre umfasste der Begriff „Opfer des Faschismus“ Personen, die aus „rassischen“, religiösen und politischen Gründen verfolgt wurden. Nicht nur in (West)Deutschland, auch in Frankreich wurden homosexuelle Männer nach dem 2. Weltkrieg als Kriminelle, Perverse oder Anormale betrachtet, deren Verfolgung durch die Nazis keineswegs als Unrecht angesehen wurde. Ebenso wurde in beiden Ländern das Schicksal der verfolgten Homosexuellen in der Nazizeit bis in die 1960er-Jahre kollektiv beschwiegen. Mit Detailkenntnis, Sensibilität und erzählerischem Geschick rekonstruiert Schlagdenhauffen die Geschichte des Kampfes von (zumeist) schwulen Aktivisten in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden um das Gedenken der homosexuellen Opfer von Nazi-Deutschland. Seine Analysen verbinden sozialwissenschaftliche Methoden (Interviews, Inhaltsanalysen) mit historischem Quellenstudium.

Zwei informationsreiche Kapitel zur Geschichte der Verfolgung der Homosexuellen zwischen 1933 und 1945 leiten die drei großen Abschnitte der Darstellung des Kampfes um das Gedenken an die verfolgten Homosexuellen in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden ein: 1. Die Zerstörung der homosexuellen Subkultur im Deutschen Reich, 2. Die Lage der homosexuellen Männer in den Konzentrationslagern.

Eine systematische Strafverfolgung von homosexuellen Männern sieht Schlagdenhauffen nur in Deutschland und in den vom Dritten Reich annektierten Gebieten wie Österreich, dem Sudetengebiet und den annektierten drei französischen Départements Moselle, Bas-Rhin und Haut-Rhin (von 1871 bis 1918 als Reichsland Elsass-Lothringen dem Deutschen Reich angegliedert).

Im Unterschied zu Frankreich und den Niederlanden wurde in der BRD der Kampf der homosexuellen KZ-Überlebenden um Entschädigung bis 1969 durch die Gültigkeit des § 175 in seiner NS-Fassung von 1935 blockiert. Um die Anerkennung von homosexuellen Männern als Opfer des NS-Regimes zu erlangen, mussten die (zunächst ausschließlich schwulen) Aktivisten erreichen, dass „Kriminelle“ verwandelt wurden in Opfer einen ungerechten Verfolgung (S. 89). Mit seinem Urteilsspruch von 1957 hatte das Bundesverfassungsgericht mit der Anerkennung der Rechtmäßigkeit der NS-Fassung des § 175 dieses Unrecht zunächst zementiert. Erst die Änderung des § 175 im Jahre 1969 durch den Gesetzgeber, die einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen über 21-jährigen Männern entkriminalisierte, schuf die Voraussetzung für politische Initiativen zur Anerkennung und Entschädigung der Opfer.

Diesen Kampf um Anerkennung zeichnet Schlagdenhauffen detailliert und kenntnisreich nach. Die Veröffentlichung des Berichts von Heinz Heger (Pseudonym) zu seiner KZ-Haft im Jahre 1972 mit dem Titel „Die Männer mit dem rosa Winkel“ Heger H. Die Männer mit dem rosa Winkel. Der Bericht eines Homosexuellen über seine KZ-Haft habe hohen symbolischen Wert für die Aktivisten der 1971 gegründeten Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) gehabt. 1975 forderte ein Artikel im HAW-Info, dass der Rosa Winkel zu einem Symbol des Kampfes der Schwulenemanzipation werden sollte und gleichzeitig ein Zeichen des Gedenkens an die missachteten und weiterhin benachteiligten homosexuellen Opfer des Dritten Reichs. Mit der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Befreiung im gleichen Jahr wurde die Verfolgung der Homosexuellen erstmals von einem hohen Repräsentanten der Bundesrepublik explizit erwähnt. Dennoch bedurfte es noch vieler Bemühungen der 1993 gegründeten Initiative „Der homosexuellen NS-Opfer gedenken“, bis der Bundestag im Juni 1999 den Bau eines Denkmals für die homosexuellen Opfer im Dritten Reich beschloss. Schlagdenhauffen arbeitet detailliert heraus, dass dem Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, das am 27. Mai 2008 eingeweiht wurde, nicht nur ein langer Kampf um Anerkennung der homosexuellen Opfer voranging, sondern dass diese Auseinandersetzungen begleitet waren von regionalen Erfolgen im Kampf um diese Anerkennung (so z. B. die Gedenktafel am Berliner U-Bahnhof Nollendorfplatz und das Frankfurter Denkmal).

Während in Deutschland die Kriminalisierung männlicher Homosexualität den Kampf um die Anerkennung der homosexuellen Opfer des Dritten Reiches bis 1969 fast unmöglich machte, wurde ein Engagement für die Erinnerung in Frankreich paradoxerweise durch das Fehlen eines männliche Homosexualität verbietenden Gesetzes behindert. Die Mehrheit der französischen Homosexuellen vermied eine soziale Sichtbarkeit. Die Homosexuellen, die sichtbar wurden, gehörten zumeist der privilegierten Oberschicht an und bekräftigten damit die Vorstellung, dass Homosexualität das besondere Laster einer intellektuellen Elite oder der Bourgeoisie sei. Schlagdenhauffen betont, dass in Frankreich bis 1942 kein Gesetz homosexuelle Handlungen verbot, jedoch Homosexualität wie in allen europäischen Ländern als psychische Krankheit angesehen wurde. Gemeinhin wurden Homosexuelle als „Päderasten“ bezeichnet und die große Mehrheit der Bevölkerung war sich einig mit der französischen Polizei, dass die Homosexualität ein Übel sei, das bekämpft werden müsste. Folgerichtig verfügte die Polizei über Homosexuellen-Karteien, und auch wenn homosexuelle Kontakte keinen Gesetzesverstoß darstellten, konnten sie leicht wegen Verstoß gegen die guten Sitten oder Erregung öffentlichen Ärgernisses („attentat“ oder „outrage à la pudeur“) verfolgt werden (S. 144). Ein Gesetz des Vichy-Regimes von 1942 machte sexuelle Kontakte zwischen volljährigen und minderjährigen (damals unter 21-jährigen) Männern bzw. Jugendlichen strafbar. Nach der Befreiung entsprach die soziale Situation der französischen Homosexuellen in vielem der der deutschen Homosexuellen in der Weimarer Republik.

Die Forderung nach einem Gedenken der Rosa-Winkel-Häftlinge in Frankreich hatte einen anderen Ausgangspunkt als in Deutschland. Das ganze Land war Opfer der Aggression des faschistischen Deutschland gewesen. Die Befreiung betraf nicht nur die Befreiung von KZ- und vielen Gefängnishäftlingen, sondern die des ganzen Landes von der deutschen Besatzungsmacht. Das Gedenken der Opfer des nationalsozialistischen Terrors stellte zunächst die im Kampf mit der deutschen Armee und der SS gefallenen Militär- und Zivilpersonen und im weiteren Sinne Mitglieder der Résistance und den ihr nahe stehenden Menschen in den Mittelpunkt. Die Überlebenden der Shoah wurden nicht als Kämpfer, sondern vor allem als Opfer angesehen und galten zunächst als wenig brauchbar im Kampf um die Erinnerung (S. 150 f.). Erst der Eichmann-Prozess im Jahr 1961 bewirkte eine Wende und stellte dem Gedenken an die ermordeten Opfer der Résistance und ihren überlebenden Helden ein Gedenken der Shoah gegenüber.

Bestanden die Schwierigkeiten der schwulen Aktivisten in Deutschland beim Kampf um Anerkennung der homosexuellen Opfer des Dritten Reichs zunächst vor allem im Kampf um Anerkennung als gleichberechtigte deutsche Bürger, so hatte der Kampf der schwulen Aktivisten in Frankreich einen anderen Schwerpunkt. Sie kritisierten das universalistische Modell des französischen Gedenkens der Opfer von Nazi-Deutschland, das zu viele Unterschiede zwischen den einzelnen Opfergruppen überdeckte.

Zunächst wurden die schwulen Aktivisten, die an den nationalen und regionalen Gedenkfeiern teilnehmen wollten, als Nazis beschimpft. Diese befremdende Verkehrung von Opfer- und Täterstatus durch alte Résistance-Kämpfer, ihre Familien oder Vertreter der jüdischen Verbände erklärt Schlagdenhauffen dadurch, dass Mentalitäten der Zwischenkriegszeit fortwirkten, die Homosexualität als „deutsches Laster“ definierten. Diesem Laster konnten unmöglich Widerstandskämpfer oder andere Deportierte gefrönt haben, der Feind (die deutschen Besatzer) auf jeden Fall. Die Erinnerung an homosexuelle Opfer wurde in dieser Logik als vollkommen unsinnig, ja als Provokation wahrgenommen. Erst als ein höherrangiger französischer Offizier im Auftrag des Verteidigungsministeriums 2001 einen Bericht erstellte, aus dem hervorging, dass in den drei vom Deutschen Reich annektierten Départements 206 Bewohner aufgrund eines Verstoßes gegen den § 175 deportiert worden waren, von denen nur wenige überlebten, änderte sich die Haltung staatlicher Stellen.

Den endgültigen Durchbruch brachte eine Rede des damaligen französischen Staatspräsidenten Chirac anlässlich der nationalen „Journée de la Déportation“ im Jahre 2005, dem Jahr, in dem auch des 60. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager in Deutschland, Österreich und Polen gedacht wurde. Mit dieser Rede wurden in Frankreich zum ersten Mal von einem hohen Staatsrepräsentanten homosexuelle Männer als Opfer des Nationalsozialismus erwähnt. Profitiert haben die französischen Aktivisten in ihrem Kampf um die Anerkennung der homosexuellen Opfer Nazideutschlands allerdings auch davon, dass zu diesem Zeitpunkt die Gruppe der „tsiganes“ (Zigeuner) als Opfergruppe anerkannt wurde.

In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden die Niederlande zu Recht als ein gegenüber homosexuellen Männern und Frauen wesentlich liberaleres Land als Deutschland betrachtet. Diese zweifellos größere Liberalität hatte jedoch enge Grenzen. Auch in den Niederlanden gab die Studentenbewegung von 1968 den Anstoß für einen anti-integrationistischen Schwulenaktivismus. Wie in Frankreich gab erst das Gedenken an die deportierten und ermordeten „Zigeuner“ einen öffentlichen Raum für Forderungen der schwulen Aktivisten, auch an die verfolgten Homosexuellen zu erinnern. Nach der 1978 in Amsterdam erfolgten Einweihung des Denkmals für die niederländischen „Zigeuner“ wurde 1980 die Stiftung „Homomonument“ gegründet. Das Denkmal im Zentrum Amsterdams, direkt neben der Westerkerk, eine der bekanntesten Amsterdamer Kirchen, konnte mit staatlichen Zuschüssen errichtet werden. Es wurde 1987 eingeweiht und spielte als positiver Bezugspunkt eine herausragende Rolle in den Auseinandersetzungen um ein nationales Denkmal in Deutschland.

Für alle drei von Schlagdenhauffen untersuchten Länder gilt, dass der ursprünglich auch als Symbol für den schwulen Emanzipationskampf reklamierte Rosa Winkel sich nicht halten konnte. Er wurde seit den 1990er-Jahren immer mehr verdrängt durch die Regenbogenfahne, die zudem den Vorzug hatte, als Symbol auch für lesbische Frauen oder sich als „queer“ definierende Personen zu stehen. Unterstützung bekamen die schwulen Aktivisten im Kampf um die Erinnerung – nach anfänglichem Zögern – vor allem von aufgeschlossenen Sozialdemokraten, Linksliberalen, Grünen und Freidenkern. Schlagdenhauffen versäumt nicht zu erwähnen, dass in den Niederlanden einige Männer, in Frankreich wenige Männer und in Deutschland kein einziger überlebender Homosexueller eine angemessene Entschädigung für das ihnen angetane Leid erhielten.

Michael Bochow (Berlin)

Günter Grau. Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933–1945. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Berlin: Lit Verlag 2011. 393 Seiten, mit Abbildungen, EUR 119,90 [10]

Nur zwei Jahre nach dem Erscheinen des „Personenlexikon der Sexualforschung“, das er zusammen mit Volkmar Sigusch edierte, legt Günter Grau sein Lexikon zur Homosexuellenverfolgung im „Dritten Reich“ vor. Ungewöhnlich für ein Lexikon, handelt es sich um ein Ein-Personen-Buch, das heißt, der Autor hat die über 300 Einträge selbst verfasst. Vermutlich bedingt dies eine Besonderheit des Lexikons: Man kann es wie ein Buch lesen, Seite für Seite. Und das ist eine packende und beklemmende Lektüre. Wie beim Zusammensetzen eines Mosaiks entsteht dabei das Bild des Unterdrückungs- und Kontrollapparats der Nazis – am Beispiel der Verfolgung homosexueller Männer. Ein einleitender Essay Rüdiger Lautmanns – prägnant und pointiert, wie man es von ihm kennt – hilft beim Einordnen der einzelnen Informationen.

In präzisen Beiträgen werden von Grau behandelt: die verantwortlichen Personen (Politiker, Beamte, Militärs, Richter und andere Juristen, Wissenschaftler und Ärzte vieler Fachsparten), die die Repression exekutierenden Institutionen und Einrichtungen, die relevanten Gesetze und Verordnungen – aber auch Verfolgte und ihre Schicksale oder Gedenkstätten für homosexuelle KZ-Opfer.

Das Nazi-Regime war homosozial, männerbündlerisch, organisiert (SS, SA, Wehrmacht, HJ) und bis ins Mark heteronormativ strukturiert. Diese Kombination – männerbündlerisch, heteronormativ – geht immer einher mit massiven homopanischen kollektiven Affekten, die den gesamten Repressionsapparat mobilisieren – und mit einem Desinteresse an der weiblichen Homosexualität. Besonders gefürchtet wird eine Zersetzung der Männerbünde durch sexualisierte mann-männliche Intimität. In einer Geheimrede im Februar 1937 vor SS-Gruppenführern beschwört deren Chef Heinrich Himmler diese Gefahr und befiehlt ein unerbittliches Vorgehen gegen Homosexualität und homosexuelle Vorfälle, damit „ich diese Art von Menschen aus der SS auch bis zum letzten herausbekomme“ (S. 271). SS-Männer, die gleichgeschlechtlich verkehren, sollen öffentlich degradiert und den Gerichten übergeben, nach Verbüßung der Haftstrafe in ein KZ überstellt und dort „auf der Flucht erschossen“ (ebd.) werden. In einem Führer-Erlass „Reinhaltung von SS und Polizei“ (S. 100 f.) vom November 1941 verfügt Hitler, dass mann-männlicher Sex von Angehörigen dieser Organisationen nicht mehr gemäß § 175 vor zivilen Gerichten, sondern vor SS-Gerichten verhandelt werden soll, und im Regelfall mit dem Tode zu bestrafen ist. Auch die von Hitler befohlene, machtpolitisch motivierte Ermordung des SA-Führers Ernst Röhm, der seine Homosexualität nicht verhehlte, am 1. Juli 1934, stellte Hitler in einer Reichtagsrede als Abwehr eines Putsches einer homosexuellen Clique und als Reinigung des Männerbundes SA von Verschwörern „gegen die normalen Auffassungen eines gesunden Volkes“ dar (S. 214). Gerüchte und Gerede, dass viele führende Nationalsozialisten homosexuell seien, sollten damit widerlegt werden. Solche Gerüchte, die offensichtlich auf einer Vermischung der Kategorien „homosozial“ und „homosexuell“ beruhen, wurden schon in der Weimarer Republik in die Welt gesetzt (zumeist von linken Politikern, Medien und Wissenschaftlern) und geistern bis heute durch die Welt. Grau setzt sich an mehreren Stellen seines Lexikons kritisch damit auseinander (S. 412 ff., 146 ff., 254 f.).

In männerbündlerischen Gesellschaften liegt eine psychosoziale Auffassung männlicher Homosexualität nahe: Man weiß (und befürchtet), dass mann-männliche Nähe (und Hierarchien) sich durchaus sexuell artikulieren können, natürlich auch bei Männern, die gar nicht homosexuell orientiert sind. Trotz der großen Nähe der Nationalsozialisten zur Genetik und „Erbhygiene“ sahen sie und die Wissenschaftler, auf die sie sich beriefen und die ihnen nahe standen (z. B. die Psychiater Hans Bürger-Prinz, S. 54 f., und Oswald Bumke, S. 56 f.; die „arischen“ Psychoanalytiker und Psychotherapeuten des „Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie“, S. 75 f.) männliche Homosexualität nicht als Veranlagung, sondern als Folge einer fehlgeleiteten, aber korrigierbaren, sexuellen Entwicklung, als eine unvollendet gebliebene männliche Entwicklung. Nur eine kleine Gruppe der gleichgeschlechtlich aktiven Männer, die sogenannten „Hangtäter“ (S. 123), galt als kernhomosexuell und als nicht umpolbar. „Das schwarze Korps“, Sprachrohr der SS, brachte diese Position auf den Punkt: „Nach Auffassung des Blattes“, so Grau, „wären 98 % derer, die der Homosexualität beschuldigt würden, ohne weiteres zu heterosexuellen Kontakten in der Lage; es handele sich lediglich um Verführte, denen der Staat … helfen könne, ‚gesund‘ zu werden. Die verbleibenden 2 % … wären allerdings ‚Kristallpunkte des Ekels‘. Sie verdienten keine Gnade“ (S. 68).

Dieser Auffassung folgte die Repressionspolitik des Nazi-Regimes gegenüber den Homosexuellen: So viele wie möglich sollten „gerettet“, die „Unheilbaren“ unschädlich gemacht werden. Vorbeugen, heilen, internieren, vernichten war auch gegenüber der männlichen Homosexualität die Agenda nationalsozialistischer „Gesundheitspolitik“. Vorbeugen wollte man durch Abschreckung (Verschärfung des § 175 im Jahr 1935, S. 152; konsequente Strafverfolgung, S. 302 f.) und Zerstörung der schwulen Subkultur (S. 280 f.). Heilen sollten strenge Erziehungsmaßnahmen (S. 278 f.), psychoanalytisch fundierte Psychotherapie (S. 46, 76, 268 f.), experimentelle Hormontherapien (Implantate mit Testosteron, S. 157 f., 304 f.), „freiwillige“ Kastration (mit der Aussicht, der Internierung im KZ zu entgehen, S. 172 f.). „Hang“- und Wiederholungstäter wurden im Sinne vorbeugender Verbrechensbekämpfung in Konzentrationslagern interniert (S. 316 f.). Auf Grund vorliegender Studien schätzt Grau, dass etwa 6000 homosexuelle Männer in Konzentrationslager gebracht und dass mehr als die Hälfte von ihnen in den Lagern umkamen oder umgebracht wurden (S. 317).

Die weibliche Homosexualität galt den Nationalsozialisten als weniger gefährlich und staatszersetzend als die männliche. Das NS-Regime behielt die Straffreiheit lesbischer Sexualität bei (S. 197 f.). Kollektive lesbische Lebensformen wurden aber ebenso zerstört wie die Subkulturen der Schwulen (S. 199). Bislang sind nach Grau „nur wenige Fälle bekannt, wonach Frauen … unter ausdrücklichem Verweis der Behörden, dass sie lesbisch seien, ins KZ eingeliefert wurden“ (S. 198).

Günter Grau forscht sei vielen Jahren zur Geschichte der Medizin, zur Geschichte der Sexualforschung und zur Lebenssituation homosexueller Männer. Das Lexikon markiert die Schnittstelle seiner Forschungsinteressen und präsentiert den zentralen Teil seines beeindruckenden und umfassenden wissenschaftlichen Lebenswerks.

Gunter Schmidt (Hamburg)

  • 1 LeVay Simon, Baldwin Janice. Human Sexuality. Sunderland, MA: Sinauer Associates, Inc.; 2009. 646 Seiten, mit 314 Abbildungen, USD 110,95
  • 2 LeVay Simon, Baldwin Janice. Discovering Human Sexuality. Sunderland, MA: Sinauer Associates, Inc.; 2009. 560 Seiten, mit 265 Abbildungen, USD 91,95
  • 3 Berner Wolfgang. Perversion. Gießen: Psychosozial; 2011. 139 Seiten, EUR 16,90
  • 4 Böhm Renate, Breidenbach-Fronius Eva, Gössl Dorothea, Hutter Ulrike, Schacht Christian, Schreckeis Michael. Nur geschaut und nichts getan. Psychoanalytische Psychotherapie mit Kinderpornographie-Konsumenten an einer Sexualberatungsstelle. Hamburg: Argument Verlag; 2010. 144 Seiten, EUR 17,90
  • 5 Schütze Barbara. Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte. Transsexualismus als Schattendiskurs pädagogischer Geschlechterforschung. Bielefeld: Transcript; 2010. (Reihe: Gender Studies). 272 Seiten, EUR 27,80
  • 6 Bänziger Peter-Paul. Sex als Problem. Körper und Intimbeziehungen in Briefen an die »Liebe Marta«. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag; 2010. 393 Seiten, EUR 43,00
  • 7 Horlacher Stefan Hrsg. „Wann ist die Frau eine Frau?“ „Wann ist der Mann ein Mann?“ Konstruktionen von Geschlechtlichkeit von der Antike bis ins 21. Jahrhundert.. In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik, ZAA Monograph Series Band  10 Würzburg/New York: Königshausen & Neumann; 2010. 289 Seiten, EUR 39,80
  • 8 Opitz-Belakhal Claudia. Geschlechtergeschichte. Reihe: Historische Einführungen, Bd.  8 Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag; 2010. 201 Seiten, EUR 16,90
  • 9 Schlagdenhauffen Régis. Triangle rose - La persécution nazie des homosexuels et sa mémoire. Paris; Editions Autrement – Collections Mutations / Sexe en tous genres – n° 264 2011. 311 Seiten, EUR 23,00
  • 10 Grau Günter. Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933–1945. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Berlin: Lit Verlag; 2011. 393 Seiten, mit Abbildungen, EUR 119,90