Aktuelle Ernährungsmedizin 2011; 36(2): 89
DOI: 10.1055/s-0030-1266092
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schwerpunkt „DÜNN”: Mangelernährung – unsere vernachlässigte Verantwortlichkeit

Chr.  Löser1
  • 1Rotes-Kreuz-Krankenhaus Kassel, Medizinische Klinik
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Publication Date:
01 April 2011 (online)

Liebe Leserinnen, liebe Leser unserer Zeitschrift,

nach „Adipositas” im letzten Heft hat die aktuelle Ausgabe der AEM den Themenschwerpunkt „Unter- / Mangelernährung”, ein Thema, das zu Unrecht in der Öffentlichkeit sowie in Fachkreisen hinter dem medial viel präsenteren Thema „Übergewicht / Adipositas” zurück steht. Warum das Phänomen „Unter- / Mangelernährung” trotz der sehr hohen Prävalenz sowie der wissenschaftlich belegten klinischen und ökonomischen Relevanz bisher so gering beachtet und unterschätzt wurde, hat sicher vielschichtige Hintergründe, die über die vernachlässigte Verantwortlichkeit zuständiger Professionen hinausgeht. Für viele Mitmenschen wird das Phänomen „Unter- / Mangelernährung” in einem unangenehmen, bedrohlichen Kontext schwieriger Lebenssituationen gesehen, als Synonym für alt, einsam, krank betrachtet und primär mit Armut, älter werden, Krankheit, Trauer oder Isolation assoziiert. Bisher waren dies Randgruppen, die nicht primär im öffentlichen und medialen Interesse standen und weitgehend keine Lobby hatten.

Die Relevanz ergibt sich primär aus 2 wissenschaftlich gut belegten Tatsachen: zum einen ist Unter- / Mangelernährung auch in den westlichen Ländern ein sehr häufiges und zunehmendes Phänomen (gut 25 % aller Patienten, die stationär in ein Krankenhaus aufgenommen werden, sind mangelernährt; 10 % der 17-jährigen Mädchen in Deutschland sind aktuell untergewichtig; weit mehr als 50 % aller Pflegeheimbewohner haben ein nachgewiesenes Risiko für Mangelernährung); zum anderen ist Unter- / Mangelernährung wissenschaftlich belegt ein unabhängiger Risiko- und Kostenfaktor, der alle harten klinischen und ökonomischen Outcomeparameter relevant beeinflusst. Hierzu hatten wir in der letzten Ausgabe der AEM einen detaillierten CME-Beitrag publiziert. Verschiedene Gremien der EU bezeichnen in detaillierten Resolutionen (Europarat 2003) und Deklaration (z. B. Prag-Deklaration vom 12. Juni 2009) die hohe Prävalenz von Unter- / Mangelernährung in europäischen Krankenhäusern und Pflegeinstitutionen als völlig inakzeptabel und benennt auch von politischer Seite konkret die wissenschaftlich belegten enormen medizinischen, sozialen und gesundheitsökonomischen Folgen von Unter- / Mangelernährung in Europa.

Die klinischen Folgen von Unter- / Mangelernährung sind evident: die enge und in der Regel signifikante Korrelation zu Morbidität, Mortalität, Lebensqualität und Krankenhausverweildauer konnte in einer Vielzahl von klinischen Studien eindrucksvoll belegt werden. Darüber hinaus zeigen viele Interventionsstudien und aktuelle Metaananalysen überzeugend, dass durch gezielte ernährungsmedizinische Interventionen diese harten klinischen Outcomeparameter effektiv und nachhaltig positiv beeinflusst und verbessert werden können. Auch ist die frühzeitige Erfassung und konsequente ernährungsmedizinische Betreuung z. B. durch supportive Gabe von Trink- und Supplementnahrung budgetrelevant und nachweislich kostensparend. Aktuelle prospektive klinische Studien belegen, dass Patienten mit einem Risiko für Unter- / Mangelernährung ca. 20 % mehr Kosten verursachen als der Durchschnitt der entsprechenden DRG (95 %-Konfidenzintervall: 200–1500 Euro pro Fall). Auch wenn es für die Bundesrepublik Deutschland keine großen prospektiven Studien gibt, belegen die systematischen Analysen auch für das Gesundheitssystem in Deutschland unmittelbare jährliche Zusatzkosten durch Unter- / Mangelernährung in der Größenordnung von ca. 9 Milliarden Euro.

Da hier von ärztlicher Seite im Sinne der bestmöglichen Patientenversorgung zu fordernde medizinische Maßnahmen im höchsten Maße parallel zu einer auf rein ökonomischen Überlegung basierenden betriebs- / volkswirtschaftlichen Forderung laufen, ist es besonders unverständlich, dass in Deutschland eine so evidenzbasierte Maßnahme wie die Behandlung der Unter- / Mangelernährung mit gleichzeitig relevanten Kosteneinsparungspotenzial nicht schneller und konsequenter im Sinne der aktuell bestehenden politischen Forderungen der verschiedenen EU-Gremien umgesetzt wird.

In diesem Schwerpunktheft werden verschiedene klinisch relevante Facetten der „Unter- / Mangelernährung” von kompetenter Seite in einzelnen Beiträgen thematisiert: neben neuen Aspekten der Beziehung zwischen demenziellen Erkrankungen und Mangelernährung wird dabei ein weiter Bogen über spezielle Krankheitsbilder (akute Pankreatitis), spezifische Patientenkollektive (Chirurgie) bis hin zur evidenzbasierten Behandlung der Magersucht gespannt.

Die frühzeitige Erkennung und individuell gezielte Behandlung von Unter- / Mangelernährung ist effektiver und integraler Bestandteil ärztlicher Therapie und Prävention und muss im medizinischen Alltag endlich den Stellenwert bekommen, der ihr aufgrund der vielen vorliegenden wissenschaftlichen Daten seit Langem zukommt.

Christian Löser
Co-Editor

Prof. Dr. Christian Löser

Rotes-Kreuz-Krankenhaus Kassel, Medizinische Klinik

Hansteinstraße 29

34121 Kassel

Email: chr.loeser@rkh-kassel.de