Zwischen Sexualität und Scham besteht aus meiner Sicht ein verqueres Verhältnis (vgl.
Mollon 2008) und es ist sicher kein Zufall, dass ich erst jetzt das erste Mal zu diesem
Thema schreibe – nach 35 Jahren Tätigkeit in Sexualforschung und Sexualtherapie.
Als ich gebeten wurde, auf der Jahrestagung der IACC (2009) einen Vortrag über Scham
zu halten, reagierte ich zunächst irritiert. Mir wurde aber schnell klar, dass die
Tatsache, dass ich mich in meinen Publikationen bisher überhaupt nicht mit diesem
Thema beschäftigt hatte, eigentlich schon ein interessantes Datum war. Dementsprechend
wollte ich mich vor allem mit der Frage befassen, warum Scham in Zusammenhang mit
Sexualität in der sexualtherapeutischen Arbeit augenscheinlich eine so geringe Rolle
spielt. Meine Arbeitshypothese war, dass die Verknüpfung zwischen dem Sexuellen und der Scham nicht so eng ist,
wie allgemein angenommen wird.
1 Überarbeitete Fassung eines Vortrages im Rahmen der IACC Jahrestagung am 27.11.2009
in Hannover, Vorabdruck aus dem im Frühjahr 2011 erscheinenden Tagungsband „Wenn die
Scham sich in Schamlosigkeit verkehrt“, herausgegeben von Bernhild Schrandt und Ingeborg
Wegehaupt-Schneider (Gießen: Psychosozial).
Literatur
1 Arentewicz G, Schmidt G. Sexuell gestörte Beziehungen. Konzept und Technik der Paartherapie. 2. neu bearbeitete Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer 1985
2 Bastian T. Der Blick, die Scham, das Gefühl. Eine Anthropologie des Verkannten. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 1998
3 Berkel I. Missbrauch als Phantasma. Zur Krise der Genealogie. München: Wilhelm Fink 2006
4 Clement U. „Schamgrenzen in der Sexualität“. Vortrag im Rahmen der 57. Lindauer Psychotherapiewoche 2007
5 Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Frankfurt / M.: Fischer 1981
6 Haarmann C. „Unten rum…“ Die Scham ist nicht vorbei. Köln: Innenweltverlag 2005
7 Hauch M. Paartherapie bei sexuellen Störungen. Das Hamburger Modell: Konzept und Technik. Stuttgart: Thieme 2005
8 Hauch M. Paartherapie bei sexuellen Funktionsstörungen und sexueller Lustlosigkeit. Das Hamburger
Modell: Konzept, Modifikationen, neuere Ergebnisse. In: Strauß B, Hrsg. Psychotherapie der Sexualstörungen. Stuttgart: Thieme 1998
9 Hauch M, Lange C, Cassel-Bähr S. Paartherapie bei sexuellen Störungen am Beispiel des Hamburger Modells. In: Sigusch V, Hrsg. Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Stuttgart: Thieme 2006;
155–176
10 Hauch M, Matthiesen S. Heterosexualität revisited. In: Berkel I, Hrsg. Postsexualität. Gießen: Psychoszialverlag 2009
11 Heinsen A. Reflexionen über Schamerfahrungen von Therapeuten. Eine Interviewstudie. Universität Hamburg: Diplomarbeit 2010
12 Hilgers M. Scham. Gesichter eines Affektes. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht 2006
13 Homm D. Evaluation der Behandlung von Vaginismus nach dem Hamburger Modell der Paartherapie. Universität Hamburg: Diplomarbeit 2005
14 Leyrer K. Rabenmutter, na und? Essays und Interviews. Reinbek: Rowohlt 1990
15 Leyrer K. Mama Papa Superkind? Dichtung und Wahrheit über das Leben mit Kindern. Hamburg: Konkret Literatur Verlag 1995
16 Marcuse H. Der eindimensionale Mensch. 14. Auflage. Neuwied: Luchterhand 1979
17 Masters W H, Johnson V E. Impotenz und Anorgasmie. Zur Therapie funktioneller Sexualstörungen. Frankfurt / M.: Goverts Krüger Stahlberg 1973 [Engl. Orig.: 1970]
18
Matthiesen S, Hauch M.
Wenn sexuelle Erfahrungen zum Problem werden.
Familiendynamik.
2004;
29
139-160
19 Matthiesen S, Block K, Mix S, Schmidt G. Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen. Schriftenreihe Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung. Köln:
BZgA 2009
20 Mollon P. The Inherent Shame of Sexuality. In: Pjaczkowska C, Ward I, Hrsg. Shame and Sexuality. Psychoanalysis and Visual Culture.
New York: Routledge 2008
21 Pjaczkowska C, Ward I. Shame and Sexuality. Psychoanalysis and Visual Culture. New York: Routledge 2008
22 Pusch L. Das Deutsche als Männersprache. Frankfurt / M.: Edition Suhrkamp 1984
23 Schorsch E. Die Stellung der Sexualität in der psychischen Organisation des Menschen. In: Schorsch E. Perversion, Liebe, Gewalt. Stuttgart: Enke 1993
24 Wurmser L. Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin, Heidelberg: Springer 1998
1 Überarbeitete Fassung eines Vortrages im Rahmen der IACC Jahrestagung am 27.11.2009
in Hannover, Vorabdruck aus dem im Frühjahr 2011 erscheinenden Tagungsband „Wenn die
Scham sich in Schamlosigkeit verkehrt“, herausgegeben von Bernhild Schrandt und Ingeborg
Wegehaupt-Schneider (Gießen: Psychosozial).
2 Ein Vergleich mit anderen Sprachen und Kulturen wäre hier sehr spannend, würde aber
den Rahmen dieses Artikels sprengen.
3 Exemplarisch erscheint mir der gleichzeitige Gebrauch beider Formen in dem viel genutzten
Onlinelexikon Wikipedia. Da steht unter äußere Geschlechtsorgane: „Die Vulva oder
Scham bildet die Gesamtheit der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane. Sie verläuft
vom Venushügel bis zum Perineum (Damm ist die deutsche Übersetzung, die hier fehlt,
Anm. der Autorin). Die äußeren Schamlippen schließen mit der Schamspalte die kleinen
Schamlippen, den Scheidenvorhof sowie die Klitoris samt Klitorisvorhaut ein.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Geschlechtsorgan)
6 Beim Vaginismus (Scheidenkrampf) ist aufgrund einer reflexartigen Verkrampfung der
Scheidenringmuskulatur ein Einführen des Penis in der Regel nicht möglich. Bei ausgeprägten
Erektionsstörungen oder sehr ausgeprägten Ejakulationsstörungen (Ejakulation schon
vor dem Eindringen oder gänzlich ausbleibende Ejakulation) ist Geschlechtsverkehr
entweder gar nicht oder nur mit niedriger Frequenz möglich und damit die Wahrscheinlichkeit
einer Befruchtung deutlich reduziert.
7 Der bekannte Slogan „oversexed and underfucked“, der sich nicht gut übersetzen lässt,
greift das einerseits auf, verweist aber auch auf eine Kehrseite der so genannten
„sexuellen Liberalisierung“. Diese wurde ja seit Mitte des letzten Jahrhunderts immer
wieder auch kritisch hinterfragt – ich verweise hier nur exemplarisch auf den von
Marcuse geprägten Begriff der „repressiven Entsublimierung“ (1967), der den theoretischen
Hintergrund für die eben beschriebene „Performancescham“ erhellt.
8 Die TeilnehmenrInnen berichten dann später auch, dass sich diese Erfahrungen auf den
eigenen Arbeitsplatz übertragen lassen. Sie werden häufig auch seitens der PatientInnen
vermehrt auf sexuelle Themen angesprochen – auch ohne dass sie explizit nachfragen
– was sie mit ihrer größeren Offenheit für sexuelle Themen in Verbindung bringen.