Z Sex Forsch 2009; 22(4): 340-352
DOI: 10.1055/s-0029-1224719
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens heute

Wolfgang Berner, Judith Koch
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Publication Date:
05 January 2010 (online)

Übersicht:

Vorgestellt werden zwei Fallbeispiele. Zunächst untersuchen die Autoren die Geschichte eines sexuell süchtigen Mannes, der ausufernd und relativ wahllos Pornografie im Internet konsumiert und damit sowohl seine Beziehung als auch seinen Arbeitsplatz gefährdet. Diese Fallvignette wird dann mit jener eines Mannes mit einer fetischistischen Perversion verglichen. Die Autoren interpretieren die Fälle vor dem Hintergrund von Freuds Arbeit über „die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens“. Diese zeige sich, so die zentrale These, heute am häufigsten im vermehrten Konsum porno­grafischen Materials. Solcher Konsum könne zwar Ähnlichkeiten mit klas­sischen Präferenzstörungen aufweisen, sei aber keineswegs mit diesen gleichzusetzen. Es handele sich vielmehr um regressive Phänomene, um ­eine Tendenz, in der Fantasie etwas auszuleben, das sich in der Realität nicht verwirklichen lässt. Insbesondere die von Freud beschriebene Zweizeitigkeit der libidinösen Entwicklung, d. h. die Verbindung von aus der Kindheit und aus der Pubertät stammenden Libidosträngen, lasse sich beim sexuell Süchtigen sehr deutlich, beim Fetischisten jedoch viel weniger beobachten.

Literatur

1 Freuds Beschreibung dieser „Zweizeitigkeit“ der sexuellen Entwicklung wird ­heute kaum mehr zitiert. Das ist schade, handelt es sich doch um ein Konzept, das offe­ner bleibt für die Beobachtung gewisser Gesetzmäßigkeit in der sexuellen Entwicklung als spätere straffere Formulierungen, die eher von einer kontinuierlichen Entwicklung ausgingen und die Pubertät und den damit einsetzenden hormonellen Entwicklungsschub viel weniger ins Auge fassten. Durch das Bedürfnis, eine in sich geschlossene psychologische Theorie zu entwickeln, gerieten manche früheren, noch viel beobachtungsnäheren Konzepte wie das der „Zweizeitigkeit“, aber auch das der „Nachträglichkeit“, in den Hintergrund. Diese beobachtungsnäheren Vorstellungen, deren theoretischer Hintergrund relativ einfach strukturiert ist, kann auch den Anforderungen besser standhalten, die neuere empirische Untersuchungen an die Psychoanalyse stellen. So ist es heute auch neurophysiologisch vorstellbar, dass affektiv zunächst kaum verstandene und daher zunächst wenig bedeutend erscheinende körperliche Erinnerungen im prozeduralen (nicht sprachlichen!) Gedächtnis ihre Spuren hinterlassen und später, wenn die gleichen körperlichen Berührungen in einem neuen affektiven Kontext stehen, plötzlich das tiefe Unverständnis mobilisieren, das damals entstand. So wird der unempathische Umgang primärer Bezugspersonen mit dem Kind zum Risiko für den zärtlichen Charakter späterer Liebesbeziehungen.

2 Eine Ausnahme bildeten hier einige wenige Sexualforscher, die das bereits vorher wussten (vgl. Sigusch 2005).

3 In beiden Fällen lässt sich der „unsichere Bindungsstil“ auch quantifizeren. In ­einem Fragebogen, der aus 36 Fragen besteht – dem ECR (Experiences in close ­relationships), mit dem Beziehungsvermeidung und Beziehungsangst dimensional erfassbar werden – positionieren sich beide Patienten in den Quadranten mit größerer Bindungsangst und Vermeidung, wobei die Vermeidung noch höher geratet wird als die Angst. Das entspricht einem vermeidend-abweisenden (dismissive) Bindungsstil im Sinne von Bartolomews.

  • 1 Briken P, Habermann N, Berner W et al. Diagnosis and treatment of sexual addiction. A survey among german sex therapists.  Sex Addict Compuls. 2007;  14 131-143
  • 2 Briken P, Hill A, Berner W. Syndrome sexueller Lust. In: Batthyany D, Pritz A, Hrsg. Rausch ohne Drogen. Wien, New York: Springer; 2009: 219–239
  • 3 Freud S. Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. GW VIII; 78–91 (Orig.: 1912)
  • 4 Rupp A H, Wallen K. Sex differences in response to visual sexual stimuli.  Arch Sex Behav. 2008;  37 206-218
  • 5 Sigusch V. Freud und die Sexualwissenschaft seiner Zeit. In: Quindeau I, Sigusch V, Hrsg. Freud und das Sexuelle. Frankfurt / M.: Campus; 2005: 15–36

Prof. Dr. W. Berner

Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: berner@uke.uni-hamburg.de

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