Z Sex Forsch 2024; 37(04): 233-235
DOI: 10.1055/a-2448-4300
Buchbesprechungen

Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919–1933

Rainer Nicolaysen
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Rainer Herrn. Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919–1933. Berlin: Suhrkamp 2022. 681 Seiten, EUR 36,00

Es gibt Bücher, bei deren Erscheinen man sich fragt, warum es sie nicht früher schon gab; so offenkundig erscheint spätestens bei ihrer Veröffentlichung das bisherige Desiderat. Ein solches Buch ist Rainer Herrns Geschichte des Instituts für Sexualwissenschaft, die erste Gesamtdarstellung dieser einzigartigen Institution, die zu Beginn der Weimarer Republik 1919 von Magnus Hirschfeld als Forschungs-, Lehr-, Heil- und auch Zufluchtsstätte gegründet wurde und national wie international enorme Anziehungskraft ausübte. Unter demokratischen Rahmenbedingungen war es möglich geworden, ein solches Institut als weltweit erstes seiner Art zu etablieren, und das nicht etwa versteckt im Hinterhof, sondern in einem prominenten, von Hirschfeld erworbenen Palais, das sich am Tiergarten in bester Berliner Lage befand und 1921 durch Zukauf des ebenfalls repräsentativen Nachbargebäudes auf 115 Räumlichkeiten erweitert wurde. Schon im ersten Institutsjahr fanden hier rund 18 000 Beratungen bzw. Behandlungen, verteilt auf etwa 3 500 Personen, statt; mehr als 1 100 Ärzte und Medizinstudierende nutzten allein in dieser Anfangszeit die Angebote und Einrichtungen des Instituts. Hinzu kamen Tausende Besucher*innen der Vortragsabende, Ausstellungen und Führungen. Hochrangige Politiker zählten bald ebenso zu den Gästen wie bekannte Künstler und Intellektuelle. Walter Benjamin, Ernst Bloch und Christopher Isherwood logierten zeitweise in dem Komplex. Hirschfeld selbst wohnte im Institutsgebäude, das neben Veranstaltungs-, Praxis- und Laborräumen auch eine umfangreiche Bibliothek, ein damals einmaliges Archiv und bedeutende Sammlungen besaß.

Für seine Institutsgeschichte konnte der Medizinhistoriker Rainer Herrn an seine früheren Forschungen zum Thema anknüpfen, die bis in die 1990er-Jahre zurückreichen, als er an der Ausstellung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft anlässlich des 75. Gründungsjubiläums des Instituts mitwirkte. Teilergebnisse seiner fortgesetzten Studien hat er seither in etlichen Aufsätzen publiziert. Von 2008 bis zum Eintritt in den Ruhestand 2023 war Herrn wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité Berlin. Seine ursprünglich als wissenschaftliche Qualifikationsarbeit angelegte Studie hat er für die Veröffentlichung in einem der großen Publikumsverlage umgearbeitet und gekürzt. Die Aufnahme bei Suhrkamp ist bemerkenswert, weil darin eine – wenn auch verspätete – Würdigung des Instituts und seiner Geschichte weit über die Fachwissenschaft hinaus zum Ausdruck kommt und das Buch damit zum kleinen Kreis von Standardwerken der Sexualitätengeschichte zählt, denen eine solche Aufmerksamkeit zuteilwird. Schade ist allerdings, dass offenbar für eine vermeintlich bessere Lesbarkeit auf manches verzichtet wurde, was eine wissenschaftliche Veröffentlichung auch ausmacht. So gibt es keine Einleitung, die die eigene Forschung einordnet, die über Forschungsstand, Kontroversen und Quellenlage informiert, und keinen Schluss, der eine prägnante Bilanz bietet und zumindest einige Hinweise auf das Nachwirken des Instituts gibt. Die „Gesamterzählung“ (S. 487) beginnt direkt mit der Vor- und Gründungsgeschichte des Instituts und endet mit seiner Zerstörung 1933. Der 140 Seiten starke Anmerkungsteil macht zwar deutlich, wie breit und zugleich akribisch der Text unterlegt ist, aber es fällt nicht leicht, sich einen Überblick über vorhandene und verwendete Archivalien zu verschaffen, zumal ungedruckte und gedruckte Quellen im Literaturverzeichnis nicht gesondert oder auch gar nicht aufgeführt werden.

Die chronologische Darstellung selbst ist abgesehen von der ausführlichen Vorgeschichte in fünf Kapitel unterteilt, die mit „Aufbruch“ (1919–1922), „Ernüchterung“ (1923–1925), „Umbruch“ (1926–1928), „Entscheidung“ (1929–1933) und „Auslöschung“ betitelt sind. Hirschfeld verfolgte mit der Institutsgründung vor allem zwei Ziele: die Durchsetzung der Sexualreform und die Anerkennung der Sexualwissenschaft. Das Institut sollte sich wissenschaftlich etablieren, um dann bestenfalls eines Tages in eine Universität eingegliedert zu werden und auch dort eine Pionierfunktion zu übernehmen. Zugleich war das Institut die Koordinationsstelle im Kampf für die Entkriminalisierung männlicher Homosexualität in Deutschland. Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK), das seit 1897 unter dem Vorsitz Hirschfelds für die Streichung des Strafrechtsparagrafen 175 kämpfte, fand 1919 seinen Platz im Institut, verschmolz sogar 1925 mit der dortigen Abteilung für Sexualreform, um sich dann aber 1929 wieder abzukoppeln, nachdem Hirschfeld im Zuge interner Querelen zum Rücktritt vom WhK-Vorsitz gedrängt worden war.

Hirschfeld verfocht eine „genetisch-endokrinologisch-konstitutionsbiologische Argumentationslinie“ (S. 249) und sah in der Anerkennung des Angeborenseins von Homosexualität den Schlüssel für ihre Entkriminalisierung. Herrn beschreibt in diesem Zusammenhang auch manche Irrwege, die hier zeitweise verfolgt wurden. So gab es in der Anfangszeit des Instituts Messungen, die den Zusammenhang von Homosexualität und Körperbau und damit eine grundsätzlich angeborene Festlegung beweisen sollten. Auch ging man davon aus, dass sich die Hoden homo- und heterosexueller Männer unterschieden, was dazu führte, dass vereinzelt und auf ausdrücklichen Wunsch von Patienten bizarre „Umstimmungsoperationen“ vorgenommen wurden, bei denen die Hoden homosexueller Männer durch solche heterosexueller Männer ersetzt wurden – als letzte Möglichkeit, unter ihrer Homo- oder Bisexualität leidende Männer zu „erlösen“. Ganz abgesehen von der Problematik des Organhandels wurden solche Hodentransplantationen dann Mitte der 1920er-Jahre als gänzlich erfolglos eingestellt.

Ein wichtiges Feld der Institutsarbeit war die Gutachtertätigkeit im Rahmen von Sexualstrafverfahren, die vor allem von Hirschfeld, aber auch von anderen Mitarbeitern ausgeübt wurde. Deutlich wird, wie strategisch Hirschfeld hier angesichts der geltenden Gesetze handelte und damit etwa für viele angeklagte Homosexuelle eine Verringerung des Strafmaßes, mitunter auch einen Freispruch, erreichte. Als Hebel nutzte er zumeist die Unzurechnungsfähigkeit nach Paragraf 51 des Strafgesetzbuches, indem er erklärte, sexuelle Rauschzustände hätten zu krankhaften Störungen des Geisteszustands geführt; eine freie Willensbestimmung habe nicht mehr bestanden. Seine detaillierten pathologischen Zuschreibungen lesen sich befremdlich; Herrn zeigt aber plausibel, wie gezielt Hirschfeld nach seinen Gerechtigkeitsvorstellungen handelte, wenn er die engen juristischen Spielräume nutzte, um – wie auch immer – strafmildernd auf Verfahren einzuwirken. Prägnant nennt er Hirschfelds forensische Tätigkeit insofern eine „Sexualpolitik mit anderen Mitteln“ (S. 188).

Einen Schwerpunkt des Instituts bildete die dort angesiedelte erste Ehe- und Sexualberatungsstelle in Deutschland. Angeblich ging die Zahl der Beratungen allein in den ersten fünf Jahren in die Zehntausende, wobei 80 Prozent unentgeltlich angeboten oder über Krankenkassen finanziert wurden. Die Ratsuchenden gehörten allen Bevölkerungsschichten an. Sie erhielten ein Beratungsangebot, das keine staatliche Stelle bieten konnte und bieten sollte. Allerdings deckten sich die Ansichten der Mitarbeiter nicht unbedingt mit denen Hirschfelds. So vertrat gerade der erste Leiter der Eheberatung, Hans Graaz, hinsichtlich der Familienplanung eugenische Argumentationsmuster und rassistische Denkweisen wie kein anderer Angestellter des Instituts. Herrn zeigt, dass zwar auch Hirschfeld selbst mit seiner frühen Ausrichtung an der Biologie als Leitwissenschaft und seiner Fokussierung auf Erblichkeit zahlreiche Anknüpfungen an sozialdarwinistische Ausdeutungen bot, dass er sich von einem Graaz’schen Rassismus aber klar abgrenzte.

Typisch für das Institut war seine Zweiteilung in eine wissenschaftliche und eine praktisch-ärztliche Seite, wobei es ab Mitte der 1920er-Jahre eine zunehmende Verschiebung zugunsten letzterer gab. Sexualreform und Aufklärung standen jetzt weit mehr im Mittelpunkt. Besonders populär wurden die 1926 eingeführten, bald wöchentlich vor großem Publikum stattfindenden Frageabende, „eine Art Kollektivberatung“ (S. 326), bei der Fragen beantwortet wurden, die zuvor anonym auf Zetteln eingereicht worden waren. Nach gut einem Jahr sollen bei diesen Frageabenden sowie in den „volkstümlichen Kursen“ und den „Führungen durch das Institut“ insgesamt bereits 14 300 Fragen beantwortet worden sein. Laut Statistik standen Empfängnisverhütung und Schutz vor Geschlechtskrankheiten deutlich an der Spitze des Interesses; es folgten (nach damaliger Terminologie): sexuelle Zwischenstufen inklusive Homosexualität und Eheproblemen sowie mit weiterem Abstand Onanie, Sexualpsychologie, Strafrecht, Aufklärung Jugendlicher, Prostitution, Sexualethnologie, Hygiene des Geschlechtsapparates, Bau und Hygiene des menschlichen Körpers, Sexualabstinenz, Menstruation, Sexualabstinenz der Ledigen, Ursachen der Impotenz, Sexualmoral sowie Sadismus und Masochismus.

Das Institut wurde auch zur Anlaufstelle für Inter- und Transsexuelle (damals Hermaphroditen und Transvestiten). Im ersten Band seiner fünfbändigen „Geschlechtskunde“ schrieb Hirschfeld 1926: „Über die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen entscheidet nicht sein Leib, sondern seine Seele; nicht die Meinung eines Sachverständigen, sondern das eigene Empfinden ist maßgebend, falls zwischen beiden ein Widerspruch vorliegen sollte“ (S. 273 f.). Nach Herrn war Hirschfelds subjektorientierte Auffassung damals singulär. Schließlich fanden im Institut auch operative Geschlechtsangleichungen statt. Hirschfeld war ursprünglich gegen solche Operationen gewesen, weil er sie für gefährlich und unnötig hielt, änderte aber seine Meinung, nachdem er einige Patient*innen kennengelernt hatte, die an Suizid dachten, sollte ihnen eine solche Operation verweigert werden.

Ein weiteres Feld des Instituts war die Medikamentenentwicklung, in deren Rahmen pharmakologische Versuche an Hunderten von Institutspatient*innen vorgenommen wurden. Das erste im Institut entwickelte und getestete Präparat gegen Impotenz, „Testifortan“, wurde der Fachöffentlichkeit 1927 vorgestellt; später folgten unter anderem die aufwendig beworbenen „Titus-Perlen“. Herrn schildert, wie diese Medikamente schließlich psychotherapeutische Verfahren ganz aus dem Behandlungsspektrum der Institutsmitarbeiter verdrängten. Kritisch beschreibt er das Interessengeflecht aus Forschung, Behandlung und Marketing, das mit dieser Richtungsentscheidung einherging. Die Zusammenarbeit des Instituts mit der Pharma- und Hygieneindustrie wurde schließlich zu einer seiner wesentlichen Einnahmequellen.

Eine Zäsur in der Institutsgeschichte bedeutete Hirschfelds Abreise in die USA im November 1930, obwohl noch niemand wusste, dass er von seiner Vortragsweltreise zwar 1932 nach Europa, aber niemals mehr nach Deutschland zurückkehren würde. Einen Bruch stellte dann die Zerstörung seines Instituts 1933 dar, die er im Exil im Kino ansehen musste. Herrn belegt eindrücklich, dass die Plünderung des Instituts am 6. Mai 1933, opulent inszeniert, von einer Blaskapelle begleitet, nicht nur ein Nebenschauplatz der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 war, sondern ein zentrales Ereignis. Hirschfeld und sein Institut wurden „geradezu zum Symbol des auszulöschenden Weimarer Geistes stilisiert“ (S. 457). Die Berliner Beilage des „Völkischen Beobachters“ bezeichnete das Institut für Sexualwissenschaft als „eine einzige Brutstätte von Schmutz und Sudelei“ (S. 467), und Hirschfeld selbst war als Jude, Homosexueller und Sozialdemokrat ohnehin schon seit geraumer Zeit das personifizierte Feindbild antisemitischer und demokratiefeindlicher Kräfte gewesen. An den Lastwagen, die die zu verbrennenden Bücher am 10. Mai 1933 zum Berliner Opernplatz fuhren, waren Fotos von Hirschfeld angebracht; beim Fackelzug wurde seine Büste wie eine Trophäe auf einem Stock aufgespießt herumgetragen, bis auch sie ins Feuer geworfen wurde. Herrns Buch endet mit Skizzen zum weiteren Lebensweg der Institutsmitarbeiter: Geschichten von Suizid, Ermordung und Vertreibung. Hirschfeld selbst starb bekanntlich 1935 im Exil in Nizza.

„Der Liebe und dem Leid“ – der Titel nimmt den Leitspruch des Instituts „Amori et dolori sacrum“ auf – ist ein Grundlagen- und Nachschlagewerk zur Geschichte des Instituts für Sexualwissenschaft, das durch seinen Detailreichtum, sein Netz an Bezügen und seine abgewogenen Interpretationen zu überzeugen vermag. Die wissenschaftlichen, emanzipatorischen und sexualaufklärerischen Leistungen des avantgardistischen Instituts werden ebenso benannt wie seine Widersprüchlichkeiten, Ambivalenzen und Irrtümer. Wünschenswert wäre nun eine Untersuchung seiner Nachwirkung, seines Ortes in der Geschichte der Sexualwissenschaft. Denn auch wenn die Nationalsozialisten das Institut 1933 zerstörten und 1945 kaum einer seiner Mitarbeiter mehr lebte, waren die Forschung und Praxis aus der Weimarer Zeit doch nicht „ausgelöscht“. Als Hans Giese 1949 sein Institut für Sexualforschung gründete, das dann zehn Jahre später in Hamburg das erste sexualwissenschaftliche Institut einer deutschen Universität werden sollte, konnte er immerhin an den bedeutenden Vorläufer anknüpfen (von dem er sich dann allerdings gezielt abgrenzte), und auch international gab es durchaus nachhaltige Einflüsse des Berliner Instituts, denen weiter nachgegangen werden sollte. Auch dafür liefert Herrns Buch jetzt eine breite Basis.

Rainer Nicolaysen (Hamburg)



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Article published online:
04 December 2024

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