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DOI: 10.1055/a-2361-4816
Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin empfiehlt Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in der Frühphase
Seit 1871 ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland im Strafgesetzbuch verortet, direkt hinter Mord und Tötungsdelikten. Mit der deutschen Einheit wurde die liberalere Gesetzgebung der ehemaligen DDR „geschluckt“ und die bis heute geltende gesetzliche Regulierung etabliert. Seit 1992 regelt zudem das Schwangerschaftskonfliktgesetz die konkrete Ausgestaltung der im Strafgesetzbuch gemachten Vorgaben, so auch die vor einem Abbruch aufzusuchende Pflichtberatung und die dreitägige Wartefrist.
Die medialen und politischen Debatten über die geltenden rechtlichen Regulierungen zum Schwangerschaftsabbruch, ihre Auswirkungen auf die psychosoziale und medizinische Versorgungslage sowie ungewollt Schwangere selbst haben spätestens nach den Verurteilungen der Gießener Ärztin Kristina Hänel wegen „Werbung“ für einen Schwangerschaftsabbruch (2017/18) und der damit verbundenen Auseinandersetzungen um die Reformierung bzw. Abschaffung des § 219a StGB (2022) wieder deutlich zugenommen. Zugleich ist Deutschland wegen der bestehenden Kriminalisierung des Abbruchs unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (2022), dem Committee on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women und weiteren Vertragsausschüssen kritisiert worden. Das Center for Reproductive Rights (2023) hebt hervor, dass ein straffreier Abbruch in Deutschland lediglich eine Ausnahme von einem Straftatbestand darstellt, während in den meisten europäischen Staaten die Legalität des Schwangerschaftsabbruchs auf Verlangen gängige Rechtspraxis sei. Auch die rechtlichen Beschränkungen im Zugang zum Abbruch werden kritisiert – nur ein knappes Viertel der 46 Mitgliedsstaaten des Europarats schreibt eine obligatorische Wartezeit und/oder eine verpflichtende Beratungsregelung vor. Eines der Länder ist Deutschland, das zudem in § 219 StGB und § 5 SchKG eine zielorientierte Beratung festlegt, was als „höchst ungewöhnlich“ bezeichnet wird (ebd.).
Vor diesem Hintergrund hat die Regierungskoalition 2021 im Koalitionsvertrag festgelegt, die Möglichkeiten einer Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuchs durch eine einzusetzende „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ prüfen zu lassen. Im Frühjahr 2023 wurde neun Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Lehr- und Forschungsgebieten in die Arbeitsgruppe 1 der Kommission berufen[ 1 ], die diesem Prüfauftrag nachkam. In die Arbeit flossen auch Stellungnahmen und Anhörungen ein: So wurden beispielsweise sämtliche Fraktionen des Deutschen Bundestages zu einem parlamentarischen Gespräch eingeladen und etwa 60 Berufs- und Fachverbänden, Fachgesellschaften und NGOs die Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme[ 2 ] und ergänzend zur mündlichen Stellungnahme gegeben. Im April 2024 wurde der 518-seitige Abschlussbericht inklusive eines 40-seitigen Kurzberichts den zuständigen Ministerien übergeben.[ 3 ]
Ausgangspunkt des Kommissionsberichts war das Ausloten des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens unter Berücksichtigung aktueller völker- und europarechtlicher Vorgaben und gewandelter gesellschaftlicher Verhältnisse. Der Bericht geht in acht Kapiteln auf medizinische, gesellschaftliche und psychosoziale Aspekte von Schwangerschaftsabbrüchen, die aktuell geltende Gesetzeslage, verfassungs-, völker- und europarechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen, Regelungslagen in Rechtsordnungen anderer Länder und strafrechtsdogmatische Überlegungen ein. Ethische Aspekte werden in einer Querschnittsperspektive berücksichtigt. Im neunten Kapitel werden Empfehlungen zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs gegeben.
Grundsätzlich wird im Bericht wie auch den Empfehlungen zwischen drei Phasen der Schwangerschaft unterschieden. Hier werden aus verfassungsrechtlicher Sicht jeweils die Grundrechtspositionen des Embryos (medizinische Bezeichnung bis zum Abschluss von zehn Schwangerschaftswochen p. m.) bzw. Fetus (ab der elften Schwangerschaftswoche) und der Schwangeren miteinander abgewogen. Auch wenn der Gesetzgeber Schutzpflichten für das Lebensrecht des Embryos/Fetus hat, so wird innerhalb der frühen Phase [ 4 ] der Schwangerschaft wegen der existenziellen Abhängigkeit des Ungeborenen von der schwangeren Person dem pränatalen Lebensrecht ein geringerer Schutz zugesprochen als der Schwangeren. Hier kommt den Grundrechten der Schwangeren in Abwägung mit dem Lebensrecht des Embryos bzw. Fetus ein starkes Gewicht zu und auch ihr Verlangen nach einer Beendigung der Schwangerschaft steht unter starkem grundrechtlichem Schutz. Die Kommission empfiehlt deshalb, den Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase der Schwangerschaft – anders als bislang – rechtmäßig zu stellen und aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.
Für die mittlere Phase der Schwangerschaft ist entweder ein gleichbleibend geringes Schutzniveau des Fetus oder ein Konzept des kontinuierlich anwachsenden Lebensrechts anzunehmen. Davon ausgehend wird ein gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum hinsichtlich des Zeitpunkts, bis zu dem ein Schwangerschaftsabbruch mit Einwilligung der Frau rechtmäßig gestellt sein kann, beschrieben. Dabei gilt: Je fortgeschrittener die Schwangerschaft ist, desto gewichtiger sind die Belange des Ungeborenen. Sollte der Gesetzgeber den Abbruch in der mittleren Schwangerschaftsphase untersagen, so ist der Abbruch dennoch in Ausnahmen zu erlauben, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft für die schwangere Person unzumutbar ist.
In der Spätphase der Schwangerschaft, spätestens ab extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus, kommt seinem Lebensrecht starkes Gewicht und den Grundrechten der schwangeren Person ein geringeres Gewicht zu. Die Schwangerschaft ist in dieser Phase grundsätzlich weiter auszutragen und ein Schwangerschaftsabbruch entsprechend als rechtswidrig zu erachten, wobei auch hier Ausnahmeregelungen bei Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Schwangerschaft vorzusehen sind, die einen rechtmäßigen Abbruch ermöglichen. Die Kommission empfiehlt in diesem Zusammenhang auch eine partielle Neuregelung der jetzigen medizinischen Indikation.
Der Gesetzgeber soll laut Empfehlungen der Kommission dafür Sorge tragen, dass ein Abbruch zeitnah und barrierefrei in gut erreichbaren Einrichtungen mittels der gewünschten und medizinisch empfohlenen Methode durchführbar ist und die Kostenübernahme für einen Schwangerschaftsabbruch auf Verlangen in der Frühphase der Schwangerschaft in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wird.
Zugleich wird dem Gesetzgeber im Kommissionsbericht ein Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Beratungspflicht und Wartezeit vor einem Abbruch aufgezeigt: Soweit der Abbruch rechtmäßig gestellt wird, kann im Rahmen einer Neuregelung eine ergebnisoffene Pflichtberatung zur Unterstützung von Schwangeren vorgesehen oder auf die Ausgestaltung als Pflicht verzichtet werden. Der Gesetzgeber muss aber auch in diesem Fall ein breites, niedrigschwelliges, barrierearmes und vielsprachiges Beratungsangebot vorhalten. In jedem Fall muss es sich um eine tatsächlich ergebnisoffene Beratung handeln, die eine selbstbestimmte und informierte Entscheidung ermöglicht bzw. unterstützt. Bei einem freiwilligen Beratungsangebot wäre zu erwägen, eine Informationspflicht für Ärzt*innen einzuführen, um auf das psychosoziale Beratungsangebot hinzuweisen und gegebenenfalls auch zu vermitteln. Zur Vermeidung ungewollter Schwangerschaften sollen zukünftig, so betont die Kommission in ihren Empfehlungen, der Zugang zu Verhütungsmitteln auch für Personen über 22 Jahre kostenfrei ermöglicht werden und Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen ausgebaut und gestärkt werden.
Was folgt nun aus den Empfehlungen der Kommission? Themen reproduktiver Rechte und Gesundheit kommen bislang im sexualwissenschaftlichen Kontext oftmals eher am Rande vor. Immerhin hat sich in den vergangenen Jahren einiges an Forschungsaktivität entwickelt, z. B. durch die Forschungsförderungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und des Bundesgesundheitsministeriums, die unter anderem die Wiederholungsbefragung über reproduktive Biografien im Kontext der „frauen leben“-Studien[ 5 ] bzw. die Umsetzung des Verbundvorhabens „Erfahrungen und Lebenslangen ungewollt Schwangerer. Angebote der Beratung und Versorgung (ELSA)“[ 6 ] ermöglichten. Für Deutschland zeigen diese Studien unter anderem Hürden im Zugang zum Schwangerschaftsabbruch und einen Rückgang an Einrichtungen, die Abbrüche vornehmen. Der Bericht betont auch die Relevanz einer adäquaten medizinischen Versorgungslage und der Sicherstellung psychosozialer Beratungsangebote im Kontext (ungewollter) Schwangerschaft sowie der Ressourcen für Sexuelle Bildung und Prävention. Der Kommissionsbericht könnte und sollte hier ein Fingerzeig sein, Fragen nach reproduktiver Gesundheit und Rechten wissenschaftlich fundiert zu diskutieren und gesellschaftliche wie auch politische Aushandlungsprozesse über eine empirische Datenbasis zu unterstützen.
Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (https://www.dgfs.info/home.html), die Gesellschaft für Sexualwissenschaft (https://sexualwissenschaft.org/) und die Gesellschaft für Sexualpädagogik (https://gsp-ev.de/) fordern, dass sich die Politik ernsthaft mit den wissenschaftlichen Empfehlungen der Kommission auseinandersetzt, dabei die Erfahrungen und Stellungnahmen der Fachverbände berücksichtigt und ein neues Regelungsmodell für den Schwangerschaftsabbruch in Deutschland erarbeitet, das auch die Finanzierung des umfangreichen Beratungsstellenangebots sicherstellt. Ein weiterer wichtiger Schritt sollte mit Blick auf die Stärkung reproduktiver Gesundheit sein, einen kostenfreien Zugang zu Verhütungsmitteln ohne Altersgrenzen zu ermöglichen und Angebote Sexueller Bildung finanziell besser abzusichern.
Publication History
Article published online:
03 September 2024
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