Psychiatr Prax 2024; 51(03): 119-121
DOI: 10.1055/a-2252-4020
Editorial

„Was braucht es für den Einzelfall?“

“What Do We Need for the Individual Case?”
Gerhard Längle
1   Südwürttembergische Zentren für Psychiatrie, Zwiefalten
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Der Mensch steht im Mittelpunkt – das ist, seit den Tagen der Psychiatrie-Enquete, eine viel beschworene Formel in der Sozial- und Gemeindepsychiatrie.

Tatsächlich stand aber seitdem der Ausbau von Institutionen der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung im Vordergrund. Der Mensch wurde dann entsprechend seiner individuellen Bedarfe der mehr oder weniger passenden Institution zugeordnet und auf Zeit dort platziert. Die für den Aufbau der Hilfeangebote notwendigen Gesetze und Verordnungen hatten als Bezug ebenfalls eher einzelne Angebotsstrukturen und Institutionen, weniger den konkreten Bedarf des betroffenen Menschen.

Stationäre Angebote standen im klinischen wie im außerklinischen Kontext für psychisch Kranke und seelisch Behinderte lange Zeit im Vordergrund. Tagesklinische/tagesstrukturelle und ambulante Angebote wurden eher als ergänzende, in der Bedeutung untergeordnete Angebote betrachtet. Selbst der Betrieb der für die Versorgung so wertvollen psychiatrischen Institutsambulanzen (PIAs) wurde in manchen Ländern über lange Jahre verhindert. Lediglich der Sozialpsychiatrische Dienst mit seinem aufsuchend-türöffnenden Charakter - und in manchen Bundesländern versehen mit hoheitlichen Aufgaben - wurde überall in einem gewissen Umfang gefördert.

Wo besondere Angebote für zuführende (z. B. Soziotherapie), pflegerische (z. B. ambulanter psychiatrischer Pflegedienst APP) oder rehabilitative Maßnahmen (z. B. RPK-Einrichtungen) sowie in das KV-System integrierte Strukturen (z. B. sozialpsychiatrische Schwerpunktpraxen oder Netzwerke nach dem Muster der KSV-Psych-RL) rechtlich ermöglicht wurden, kämpfen die Erbringer der Leistung oft bis heute mit heftigen Widerständen der jeweiligen Kostenträger, überbordender Bürokratie und unzureichender Finanzierung.

Dennoch gibt es gute Gründe zu hoffen, dass der Mensch künftig mehr in den Mittelpunkt rückt. Die Entwicklungen innerhalb des SGB V und des SGB IX, wie sie bereits im Editorial zum Heft 6/2022 [1] skizziert wurden, gehören dazu. Inzwischen, nach zwei Jahren mühevollen Verhandelns der BTHG-Umsetzung, hat sich die Tür für eine personenzentrierte Versorgung im Bereich des SGB IX weiter geöffnet. Auch bezüglich der Krankenbehandlung nach SGB V ergibt sich eine unerwartete, wenngleich erhoffte Entwicklung: Nach den positiven Erfahrungen mit Modellprojekten nach 64b SGB V wird in der 8. Empfehlung der Regierungskommission vom September 2023 [2] nicht nur der Wert der ambulanten, tagesklinischen und aufsuchenden Behandlung betont, sondern die Notwendigkeit einer integrierten, bezüglich der Intensität stufenlos ineinander überführbaren, Behandlungsstruktur erkannt. Realisiert werden könnte dies im Rahmen eines einrichtungsspezifischen Globalbudgets mit Kontrahierungszwang. Eine entsprechende Gesetzesinitiative wurde beim DGPPN-Kongress im November 2023 von den Autor*innen der Empfehlung als kurzfristig umsetzbar benannt. Vom Grundsatz her öffnen sich auch die Krankenkassen [3] und Klinikträger [4] mit entsprechenden Veröffentlichungen aus 2023 einer solchen Idee - wenngleich mit recht unterschiedlichen Konkretisierungsvorstellungen.

Was bedeuten diese (neuen) Möglichkeiten nun für die betroffenen psychisch kranken und seelisch behinderten Menschen?

Ich will das am Fallbeispiel von Frau X. erläutern, einer schwer psychisch kranken Frau mit herausforderndem Verhalten, die viele als „Systemsprengerin“ oder – freundlicher - als „Systemprüferin“ bezeichnen würden. Viele von uns kennen Patient*innen mit vergleichbarem Verlauf.

Ihr Behandlungs- und Betreuungsverlauf zeigt für die letzten Jahre ein schon heute mögliches personenzentriertes Vorgehen auf, das mit den künftigen Möglichkeiten noch konsequenter - und vor allem bürokratieärmer - gestaltet werden könnte.

Frau X. ist eine Patientin im vierten Lebensjahrzehnt mit den Diagnosen einer schweren Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ mit rezidivierenden psychotischen Episoden, phasenweisem Suchtmittelmissbrauch und chronischer Suizidalität. Bereits bei der Erstbehandlung in der KJPP mit 15 Jahren wird über schwer herausforderndes Verhalten mit Selbstverletzung berichtet, eine Symptomatik, die über die Jahre in wechselnder Intensität immer wieder auftrat. Bei den häufig massiv eigenverletzenden Handlungen (Intoxikation, Schnittverletzungen, Schlucken von Rasierklingen, Batterien u.ä.), gelegentlich fremdaggressiven Vorgängen sowie hochriskantem Verhalten im Straßenverkehr, kam es zu häufigen und langwährenden psychiatrischen Klinikaufenthalten und zahllosen Notaufnahmen in somatischen Häusern. Stabile Verhältnisse konnten über die Jahre auch in den unterschiedlichsten Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht erreicht werden. Die eigene Kündigung aller Unterstützungsmaßnahmen führte in die Wohnungslosigkeit, daran anschließende erneute akute Suizidalität und zu erneuten Klinikaufnahmen. Gelegentliche positive Phasen, in denen Frau X. ihre (vielfältig vorhandenen!) Ressourcen zur Gestaltung ihres Lebensalltags nutzen konnte, wurden regelmäßig durch schwere Selbstverletzungen oder fremdgefährdendes Verhalten beendet, letztlich verbunden mit einer immer höheren Intensität der (stationären) Betreuungsleistung und Einschränkung der eigenen Verantwortlichkeit. Zuletzt führte es zu einer Unterbringung in einer geschlossen führbaren besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe, ohne daraus resultierende Besserung der Problemlage.



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Article published online:
15 April 2024

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