Z Sex Forsch 2023; 36(03): 176-177
DOI: 10.1055/a-2130-4754
Bericht

Tagungsbericht zur 4. Jahrestagung des Arbeitskreises Sexualitäten in der Geschichte in Kooperation mit den Kulturwissenschaften der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin

Kris Per Schindler
Kulturwissenschaften, Internationale Psychoanalytische Universität (IPU) Berlin
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Vom 21. bis 22. April 2023 fand an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) Berlin die 4. Jahrestagung des Arbeitskreises Sexualitäten in der Geschichte (AKSG) in Kooperation mit den Kulturwissenschaften an der IPU statt. Bereits der Veranstaltungsort weist darauf hin, dass die ohnehin interdisziplinäre Perspektive der Tagung um psychoanalytische Zugänge bereichert wurde. Präsentiert wurden Sexualitäten als Schnittstelle von Gesellschaft, Moral, Historie, Strafrecht und Psyche. In den Eröffnungsvorträgen der Organisator*innen markierte Sonja Witte (IPU Berlin) Sexualitäten als Raum von Widersprüchen und Vielfältigkeit und ging der Frage nach, wie Gesellschaft auf dem Gebiet der Sexualitäten gefasst werden kann. Dabei nahm sie Bezug auf die psychoanalytischen Konzepte der polymorph-perversen Sexualität und das Konzept der Bisexualität von Freud (1905) sowie auf Verschränkungen von Subjekt und Gesellschaft in der Kritischen Theorie. Sebastian Bischoff (Universität Bielefeld) rekurrierte auf den 50. Jahrestag der Großen Strafrechtsreform der Bundesrepublik und hob die Bedeutung der Trennung von Moral und Recht als Kernpunkt der Veränderung der Strafrechtsreform hervor. Die Eröffnungsrede schließend, stellte Dagmar Lieskes (Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin) Input den Übergang zu den inhaltlichen Vorträgen dar, welche – eingeteilt in fünf Panels und mit dem Keynote-Vortrag von Lilli Gast (IPU Berlin) – den Rahmen bildeten.

Im ersten Panel „Sexualmoral im Wandel“ lag der Fokus auf Ehe und Partner*innenschaft aus geschichtswissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher und soziologischer Perspektive. Die Historikerin Veronika Settele (Universität Bremen) eröffnete das Panel mit einem Einblick in ihr Habilitationsvorhaben und skizzierte die Funktion der Ehe zu einem Zeitpunkt einer bedrohten gesellschaftlichen Ordnung um 1900. Sie präsentierte ihre These, dass die Kritik der damaligen zeitgenössischen Frauenrechtler*innen an der ehelichen Institution auf der rechtlichen Ungleichheit von Frauen und Männern basierte und weniger aus einem Wunsch nach sexueller Selbstbestimmung heraus erfolgte. Dabei ging sie dem Spannungsfeld zwischen der Rolle der Liebe und der sexuellen Lust sowie der Dimension von Religion im Alltag als mögliche Interferenzen bei den Aktivist*innen nach. Die Kulturwissenschaftlerin Alexandra Regiert (Universität Regensburg) stellte ihr Promotionsvorhaben vor, im Rahmen dessen sie 25 heterosexuelle Paare biografisch-narrativ interviewt und plant, mit einem qualitativen Forschungsansatz die Vielfältigkeit des sexuellen Wandels im Hinblick auf die zeitspezifischen Normen und Werte der BRD von 1945 bis 1999 sowie die genderspezifischen Dynamiken als Transformationsprozesse aus den Narrativen der zwischen 1935 und 1957 geborenen Befragten herauszuarbeiten. Dabei fokussierte sie die subjektive Wahrnehmung der Befragten im Diskurs der Sexualitätsgeschichte und gab anhand von zwei Fallbeispielen einen ersten Einblick in Parallelen der Narrative, welche auf eine Tabuisierung von Körperlichkeit und Sexualität im Spannungsfeld zwischen sexueller Praxis und Moral hinweisen. Das Panel schloss die Soziologin Vanessa Rau (Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften) mit einem Einblick in die Feldforschungsphase ihres aktuellen Projekts, in welchem sie der Bedeutung von Migration und Intimität in interkulturellen Beziehungen mittels eines ethnografischen Zugangs und anhand biografisch-narrativer Interviews mit ca. 15 bis 20 heterosexuellen und queeren Paaren nachgeht. In einer Fallvignette griff sie das Spannungsfeld zwischen Kulturalisierung und Pathologisierung von Differenz im Kontext der eigenen Positionierung der Befragten und der Position „des Anderen“ auf und ging der Bedeutung von Exotisierung und Orientalisierung im Sexualitätsdiskurs interkultureller Liebesbeziehungen nach.

Im zweiten Panel „Penetrieren, Onanieren, Phantasieren“ wurden sexuelle Praktiken im Kontext von (patriarchalen) Machtverhältnissen, Normvorstellungen und kulturellen Praktiken betrachtet. Insa Härtel (Kunstuniversität Linz / Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Hamburg) griff das Penetriert-Werden im Verhältnis zum Feminisiert-Werden auf und bot rekurrierend auf Bersani (2010) die Machtlosigkeit und Ohnmacht als Reiz an, der die Zirklusion als aktiven Akt aufzeigen lässt. Mit ihrer These der „Homosexualität als Denkfigur“, in welcher ihr zufolge Sexualität als kulturell Abgewehrtes wiederkehrt, verwies sie auf das Potenzial der Erkennbarmachung der Auslassung kultureller Praktiken. Der ersten Reaktion des Schweigens der Zuhörenden folgte eine Diskussion über psychoanalytische Konzepte des Sich-zum-Objekt-Machens versus Ein-sexuelles-Subjekt-Sein sowie die Chance des Analen, des Anus, als Denkfigur zur Überwindung von Geschlecht und Orgasmus, wie bereits von Preciado (2015) beschrieben. Weiter ging es mit dem Stellenwert von Penetration und Sexspielzeug in lesbisch_queeren Sexualitätsdiskursen der 1970er- bis 1990er-Jahre im deutschsprachigen Raum, dem Thema des Promotionsprojekts des Historikers Lorenz Weinberg (Freie Universität Berlin). Er*they skizzierte zunächst Penetration historisch als Symbol für patriarchale Gewalt und markierte gleichzeitig die lustvolle Aneignung von Penetration, womit ein Wandel in der affirmativen Beschäftigung mit dieser historisch nachgezeichnet wurde. Es bildete sich die Verschränkung von Penetration mit der Verhandlung sexueller Praktiken sowie mit Geschlechterkonstruktionen in lesbisch_queeren Diskursen ab, was überdies auch die Aneignung queerer Körperlichkeiten einschließt. Aus dem Auditorium schloss sich der Verweis auf Fisting als gendertransgressives Element an, wobei die Frage aufkam, ob Fisting primär als BDSM-Praktik kontextualisiert werden kann. Lorenz Weinberg markierte in dem Zusammenhang noch einmal besonders die Bedeutung einer sexpositiven und politischen Bewegung im Kontext lesbisch_queerer Sexualitäten. Der Psychologe Aaron Lahl (IPU Berlin) gab abschließend einen Einblick in seine Forschungsarbeit, welche die Betrachtung des Bedeutungswandels der Masturbation in der BRD ab 1960 in den Blick nimmt. Im Rahmen seiner Thesen zu sexualkulturellen Transformationsprozessen markierte er den Einfluss des sexuolgischen, sexualpädagogischen und psychoanalytischen Diskurses sowie des Diskurses der Frauenbewegung und der Pornografie und warf die Frage des Einflusses eines neuen Gesundheitsdiskurses auf die Wahrnehmung von Masturbation auf. Den Beginn einer entscheidenden Liberalisierung der Masturbation datierte er dabei auf das Ende der 1960er-Jahre. Im Anschluss an den Vortrag wurde von den Zuhörenden vor allem der Wandel von der Tabuisierung der Masturbation hin zur technischen Anleitung unter dem Aspekt der Selbstoptimierung diskutiert.

Im dritten Panel „Sexualität und Jugend – Konfliktgeschichten“ standen das Spannungsfeld innerhalb sexueller, geschlechtlicher Aufklärung, die Frage der Grenzsetzung im Dienste eines Schutzbedürfnisses gegenüber Minderjährigen sowie die Verhandlung von Definitionsmacht im Fokus. Die Geschichtswissenschaftlerin Ruth Pope (Universität Hamburg) gab einen Einblick in ihr laufendes Promotionsprojekt, in dem sie den Wandel des Wissens über sexualisierte Gewalt an Kindern seit den 1970er-Jahren (BRD) untersucht und dabei einen Schwerpunkt auf die Verschiebung der Deutungshoheit von Expert*innenwissen hin zum Erfahrungswissen Betroffener setzt. Marco Kammholz (Bergische Universität Wuppertal), Sexualberater- und pädagoge, rezensierte das Buch „Sex in echt“, ein Aufklärungsbuch für Jugendliche, welches Inhalte jenseits der Cis- und Heteronormativität aufgreift und vermittelt. Seine Kritik an dem Buch richtete sich auf Entgrenzungstendenzen in der Sexuellen Bildung sowie auf die Zweckentfremdung von Methoden aus der Erwachsenenbildung als Zu- und Eingriff auf Jugendsexualität. Das Panel schloss mit einem Vortrag der Geschichtswissenschaftlerin Merlin Sophie Bootsmann (Freie Universität Berlin) über die Konfliktgeschichte der Sexuellen Bildung in der BRD seit 1969 unter dem Einbezug der Beiträge der LSBTIQ*-Bewegung. Sie*es warf die Frage nach der Beschaffenheit und Intersektionalität von Bildungsinhalten vor dem Hintergrund erfolgreicher Institutionalisierung auf.

Das vierte Panel „Diskursive Verwicklungen: Queere Sexualitäten, Gesundheitsprävention und Menschenrechte“ begann mit einem Vortrag von Andrea Rottmann (Freie Universität Berlin), in dem sie*they einen Einblick in die aktuelle Forschung gab und in einem Ausschnitt des Projekts „Liebe wird zum Menschenrecht. ILGAs (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) Auseinandersetzung mit Amnesty International, 1978–1991“ dem Paradox der Rolle extrem marginalisierter queerer Häftlinge in einer weißen, cis-bürgerlichen Gesellschaft und der Bedeutung von postkolonialen Praktiken nachging. Der Erziehungswissenschaftler Adrian Lehne (Freie Universität Berlin) sprach über Recht in beruflichen Kontexten der westdeutschen Schwulenbewegung im Rahmen von HIV/Aids-Debatten der 1980er- und frühen 1990er-Jahre und fokussierte dabei die Auseinandersetzung der Schwulenbewegung mit dem Staat. Anschließend referierte der Historiker Kevin-Niklas Breu (Universität Bremen) über die „Suche nach einer ‚linken Gouvernementalität‘: Vergangenheitsbewältigung, Menschenrechtspolitik und Gesundheitsaktivismus in den westeuropäischen Schwulenbewegungen der 1980er und 1990er Jahre“ und thematisierte die in seinem Promotionsprojekt analysierte Identifikation von Möglichkeitsräumen für Emanzipation in Safer-Sex-Debatten.

Abschließend sprach Christoph Sulyok, Gesundheitspsychologe und Psychotherapeut aus Wien, im letzten Panel über „die Pervertierung der Homosexualität in der McCarthy Ära“ und diskutierte die Verschränkung von Pathologisierung, Moral und Antisemitismus unter Bezugnahme auf Herzogs (2016) Denkfigur der „Christianisierung der Psychoanalyse“.

In ihrem psychoanalytischen Keynote-Vortrag „Dem Trieb auf der Spur – Lose Gedanken zu den Erkenntniswegen der Psychoanalyse“ pointierte Lilli Gast (IPU Berlin) das Spezifische des Gegenstandes der Psychoanalyse, sich dem unmittelbar Zugänglichen zu entziehen. Sie hob in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Nachträglichkeit hervor, in welcher der Trieb immer nur als Spur, als Verschiebung oder ähnlich Verdecktes erscheint. Das Potenzial der Psychoanalyse bestehe darin, diese Verdeckungsoptionen zu erfassen und in produktive Zweifel aufzulösen.

Vielleicht können die so vielschichtigen und unterschiedlichen Beiträge dieser Tagung auch erst in ihrer Nachträglichkeit zugänglich werden, was sich in einer eher verhaltenen Abschlussdiskussion zeigte. Insgesamt bot die Tagung eine wissenschaftlich interdisziplinäre Perspektive auf Sexualitäten und vielfache Anlässe zum Weiterdenken. Inhaltlich interessant wären neben den Beiträgen zu historischen Sexualitätsdiskursen der BRD ein Blick auf die DDR sowie eine stärkere Berücksichtigung der Verschränkung von Sexualitäten mit den Kategorien Race, Klasse und Behinderung gewesen. Jedoch bieten Lücken auch die Chance, das Begehren aufrechtzuerhalten, wobei wir uns hoffentlich auf eine Fortsetzung der Jahrestagungen des Arbeitskreises freuen dürfen.



Publication History

Article published online:
12 September 2023

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