Z Sex Forsch 2022; 35(04): 237-238
DOI: 10.1055/a-1959-1931
Bericht

30 Jahre Gesellschaft für Sexualwissenschaft 1990–2020 / in memoriam 100 Jahre Prof. Lykke Aresin 1921–2021 – ein Tagungsbericht

Alexander Röbisch-Naß
Institut für Psychologische Therapie Leipzig e. V.
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In Zusammenarbeit mit der Medizinischen Fakultät und der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig setzte die Gesellschaft für Sexualwissenschaft (GSW) am 6. November 2021 ihre Tagungsreihe fort.

Prof. Kurt Starke widmete sich als erster inhaltlicher Redner anekdotisch umrahmt der Geschichte der GSW, die den Traum der DDR-Sexuolog*innen von einer unabhängigen Gesellschaft verkörperte und sich den Grundsätzen Interdisziplinarität, Komplexität, Theoria cum praxi und sexualpolitischem Engagement verschrieb. Zu den mannigfaltigen Arbeitsfeldern der neu gegründeten Gesellschaft gehörten schon damals: Sexualität im Allgemeinen, sexuelle Gewalt, die mit der politischen Wende drohende Übernahme des § 218 zu Schwangerschaftsabbruch und des § 175 zu Homosexualität, Pornografie, Prostitution als neues gesellschaftliches Element, Förderung von Studierendenehen und Studierendeneltern, Schutz von Lebensgemeinschaften, Scheidungsgesetzgebung, Erhalt von Ehe- und Sexualberatungsstellen, Beratung und Betreuung von HIV-Infizierten, Strategien der Aidsbekämpfung sowie Sexualkundeunterricht in der Schule. Starke erinnerte auch eindrücklich an ein wichtiges Ziel sexualwissenschaftlicher Arbeit: gesellschaftspolitische Einflussnahme.

Im Vortrag „Entwicklung und Perspektiven der Sexualwissenschaft“ veranschaulichte Prof. Barbara Drinck (Universität Leipzig) gesellschaftliche, kulturelle und politische Veränderungen seit dem Bestehen der GSW, u. a. die eingetragene Lebenspartnerschaft und jetzige Möglichkeit zur Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare, die Schaffung eines dritten positiven Geschlechtseintrags sowie die unmittelbar gegenwärtige Revision bzw. Abschaffung des Transsexuellengesetzes. In diesen und vielen anderen Fragestellungen sah sich die GSW seit Anbeginn als skeptisch hinterfragendes und neue Entwicklungen förderndes Element. Drincks Vortrag spornte an, diese Tradition fortzuführen.

Der zweite Tagungsblock war zu ihrem 100. Geburtstag dem Gedenken an Lykke Aresin gewidmet. Dipl.-Päd. Robert Bolz aus München beleuchtete in seinem Vortrag „Lykke Aresin – Erinnerungen an eine ostdeutsche Kollegin …“ Highlights der gemeinsamen Wegstrecke. Ihre Wege kreuzten sich im Jahr 1974 im Rahmen einer internationalen Tagung der International Planned Parenthood Federation in Sint-Niklaas (Belgien). Beide besuchten die Tagung als abgesandte Expert*innen ihrer jeweiligen Länder: Der eine für die pro familia in Westdeutschland, die andere im Auftrag der Sektion Ehe und Familie in Ostdeutschland. Trotz der verhärteten Ländergrenzen gelang ihnen ein gemeinsames Arbeiten zum Thema Familienplanung sowie ein kontinuierlicher Austausch einschlägiger Publikationen. Bolz berichtete in sehr unterhaltsamer Weise vom gegenseitig bereichernden Erfahrungsaustausch und gestaltete seinen Vortrag als einen warmherzigen Abschied von einer langjährigen Weggefährtin.

Franz Baumann (Arzt an der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) beleuchtete stärker den fachlichen Werdegang von Aresin und ihre Rolle als Leiterin der meistfrequentierten Beratungsstelle in der DDR an der ehemaligen Universitätsfrauenklinik. Unter anderem erläuterte er die zentralen Aufgaben dieser Beratungsstelle. Bereits in den 1960er-Jahren lag der Fokus der Beratungsanfragen auf Themen wie Ehe- und Sexualproblemen oder auch Aspekten der Familienplanung bzgl. Empfängnisverhütung, Kinderwunsch und Schwangerschaftsabbruch. Darüber hinaus engagierte sich Aresin für eine ganze Reihe gesellschaftspolitischer Modernisierungsmaßnahmen wie die Legalisierung von Aborten (1972 erreicht), die (Weiter-)Entwicklung von Kontrazeptiva, die Mitarbeit an der „Verfügung zur Geschlechtsumwandlung von Transsexualisten“ in den 1970er-Jahren, die Liberalisierung und spätere Abschaffung des § 151 zur Entkriminalisierung von Homosexualität, unzählige Publikationen mit großer Reichweite (z. B. „Sprechstunde des Vertrauens“ (1967) oder „Wechseljahre ohne Angst“ (1971)), die Gründung einer eigens für die Bedarfe von trans* Personen ausgerichteten Beratungsstelle bei pro familia und den Kampf gegen die drohende Revidierung bereits errungener Meilensteine durch die Wiedervereinigung (wie die Übernahme des § 219 zum Schwangerschaftsabbruch oder die Rekriminalisierung der Homosexualität durch § 175).

Dr. med. Thomas M. Goerlich (Universitätsmedizin Leipzig) folgte mit seinem „Beitrag zur Sexual-Forschungsgeschichte aus dem Ether Dome Boston“. Er präsentierte ein Video von und mit Rachel E. Gross, die in Boston lebt und arbeitet und den geschichtsträchtigen Hörsaal im Ether Dome nutzt, um ihr Buch „Vagina obscura“ vorzustellen. Darin wird aufgezeigt, wie der männlich dominierte Blick auf weibliche Körper und weibliche Sexualität vor Jahrhunderten ihren Anfang nahm und noch bis heute fortwirkt. Somit ist es auch nicht mehr korrekt vom G-Punkt zu sprechen, der 1950 von Ernst Gräfenberg beschrieben wurde.

Danach präsentierte Dr. rer. med. Sabine Wienholz (Hochschule Merseburg) ihre Studie „SeBiLe – Sexuelle Bildung für das Lehramt“. Sie machte darauf aufmerksam, dass sich viele Lehrkräfte von der Vermittlung sexueller Lehrinhalte überfordert fühlen – auch weil diese Themen oftmals keinen Raum in ihrem Lehramtsstudium erhielten –, aber dass für die Schüler*innen das Nicht-Sprechen über Sexuelles gravierende Folgen haben kann. Nicht selten werde von Schüler*innen die Schule als Ort für sexualisierte Übergriffe und sexualisierte Gewalt benannt. Ein bedarfsgerechtes Weiterbildungsangebot in der Lehramtsausbildung zu schaffen, war die Aufgabe des dreijährigen Verbundprojekts „SeBiLe“ der Hochschule Merseburg und Universität Leipzig. Es wurde eine Evaluation des Qualifikationsstands von Lehrkräften und Lehramtsstudierenden durchgeführt, ein entsprechendes Curriculum (https://sebile.de) erarbeitet und dessen Umsetzung begleitet. Die anschließende Diskussion machte deutlich, dass es bei der Lehrkräfteweiterbildung nicht um die Verdrängung gewachsener externer Strukturen und frei arbeitender Sozialpädagog*innen gehen soll. Ziel sei es vielmehr, eine Grundsensibilisierung der vor Ort tätigen Lehrkräfte hinsichtlich Wahrnehmungs- und Handlungskompetenz zu erreichen und zugleich weiterhin die Vorzüge externer Angebote in den Unterricht einfließen zu lassen.

Klara Landwehr (Frauenberatung Verden e. V.), M. A. Angewandte Sexualwissenschaft, und Frauke Schußmann (pro familia Bremen), M. A. Angewandte Sexualwissenschaft, fokussierten mit ihrer Videobotschaft Erwachsene. Ihr Projekt „letstalk“ war eine abendliche Veranstaltungsreihe in Bremen, die Erwachsene zum Sprechen über Sexualität ermutigen sollte. Solche Angebote sind laut den Referentinnen sehr rar, gesellschaftlich werde vielmehr der Eindruck vermittelt, dass Erwachsene ausgelernt hätten und eine befriedigende Sexualität etwas Selbstverständliches sei. Stattdessen hörten beide in ihrem jeweiligen Arbeitskontext häufig von Ängsten der Klientel, anderen Personen mit dem Thema Sexualität zu nahe zu treten oder möglicherweise mit eigenen Wünschen den*die Partner*in zu verletzen. Es herrsche also eine unausgesprochene Sprachlosigkeit vor. Ziel war es, einen niedrigschwelligen Übungsraum für das Sprechen über Sexualität zu schaffen. Dieser sollte möglichst inklusiv, machtkritisch und queerfeministisch sein. An jedem der Abende wurden unterschiedliche Themen – wie bspw. „Sex und jedes Alter“ oder „Sex und Arbeit“ – besprochen. Nach einem kurzen Input durch externe Referent*innen bestand der zentrale Teil der etwa dreistündigen Veranstaltung aus Kleingruppengesprächen, die auf Basis von Fragenpools zum gemeinsamen Austausch anregten. Trotz großer Nachfrage seien derzeit aus Finanzierungsgründen keine weiteren Veranstaltungen dieser Art geplant.

Franziska Hartung (Zentrum für Sexuelle Bildung Leipzig), M. A. Sexualwissenschaft, thematisierte in ihrem Vortrag „HIV und Schuldgefühle – Was ein Virus über unsere Sexualität verrät“ ein ganz anders gelagertes Sprechen über die eigene Sexualität. Bei ihrer Arbeit in einer Testberatungsstelle – und später im Zuge ihrer Masterarbeit näher beleuchtet – fiel ihr auf, dass die mit der Testung angebotene Beratung als eine Art Beichte und Ort der enthemmten Selbstoffenbarung gelebter sexueller Praktiken genutzt wird. Sie hörte sehr häufig Äußerungen zu Schuldgefühlen und Rechtfertigungen für das vermeintliche Risikoverhalten. Sie stellte sich daraufhin die folgenden Forschungsfragen: Auf welche persönlichen und normativ-moralischen Orientierungen beziehen sich diese Schuldgefühle und welche Dynamiken zeigen sich? Welche Rolle haben die Schuldgefühle hinsichtlich der subjektiven Bedeutung der HIV-Infektion, der Bewertung des Ansteckungsrisikos, des Umgangs mit Risiken und der symbolischen Bedeutung des HIV-Tests? In der Tradition rekonstruktiver Sozialforschung führte sie vier Interviews mit Klient*innen nach negativem Testergebnis durch und konnte sechs Typen von Sinnstrukturen extrahieren: die Selbstverantwortlichen, die Depersonalisierten, die schuldigen Stigmatisierten, die unmoralischen Täter*innen, die Fatalist*innen und die Unschuldigen. Der Vortrag regte zum Nachdenken an, indem er sich auch mit der gesellschaftlichen Entwicklung des Diskurses um HIV befasste. Man könnte meinen, dass das in den 1980er-Jahren medial verstärkte Denken in Dimensionen von Schuld und Strafe sowie die Suche nach Sündenböcken der Vergangenheit angehören. Hartungs Arbeit zeigt jedoch auf, dass das Verständnis von HIV als „Lustseuche“, „Schwulenpest“ und Krankheit der ausgegrenzten Anderen fortbesteht.

Dr. med. Thomas Heuchel knüpfte als in Chemnitz tätiger Internist und Infektologe mit seinem Vortrag „The Spirit of Dean Street – HIV-Prävention 2021“ an, indem er über die Möglichkeiten einer gelingenden Absenkung von HIV-Neuinfektionen sowie deren effektive Behandlung berichtete. Als positives Vorbild diente die Sexual Health Clinic in der Dean Street in London, welche sich schwerpunktmäßig in der queeren Community verortet und in einem Hochrisikostadtviertel ein niedrigschwelliges Angebot bereithält. Im Erscheinungsbild eines Hotels mit wechselnden Kunstausstellungen können sich die Klient*innen selbst einchecken und nach Anleitung selbst testen. Auf diese Weise wird die Hemmschwelle für eine Testung optimal reduziert und Infektionen können wesentlich schneller diagnostiziert werden. In London konnten von 2014–2016 die Zahlen der Neuinfektionen um 40 % reduziert und auch noch bis 2019 ein stetiger Abwärtstrend konstatiert werden. Geschätzte 95 % der HIV-Infizierten konnten diagnostiziert, 98 % der Diagnostizierten behandelt und 97 % der Behandelten unter die Nachweisgrenze gebracht werden. Nicht nur schnelle Diagnostik und Behandlung, sondern auch treatment as prevention kann einen wichtigen Wendepunkt darstellen. Die Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) kann bereits im Vorfeld vor einer Infektion schützen. In der anschließenden Diskussion wurde der Wunsch nach mehr Behandlungszentren geäußert und das Thema Kinderwunsch bei HIV-Infektion angesprochen. Laut Heuchel sei die Umsetzung des Kinderwunsches kein Problem, wenn ein HIV-positiver Mann behandelt unter der Nachweisgrenze liege. Ebenso bestehe auch für ein ungeborenes Kind oder beim Stillen kein Infektionsrisiko, wenn eine HIV-positive Mutter behandelt unter der Nachweisgrenze liege.

Die Jubiläumstagung der GSW hat viele verschiedene Eindrücke und Informationen bereitgehalten. Da die Tagung in Präsenz stattfand, gab es auch Möglichkeiten des persönlichen Fachaustausches.



Publication History

Article published online:
06 December 2022

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