Z Sex Forsch 2022; 35(04): 245-246
DOI: 10.1055/a-1956-6949
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Kampfplatz Sexualität. Normalisierung – Widerstand – Anerkennung

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Thorsten Benkel und Sven Lewandowski, Hrsg. Kampfplatz Sexualität. Normalisierung – Widerstand – Anerkennung. Bielefeld: transcript 2021 (Reihe: KörperKulturen). 314 Seiten, EUR 30,00

Der noch vor zehn Jahren konstatierte innerfachliche Kampf um die Anerkennung einer Soziologie der Sexualität hat sich in einer zunehmenden Etablierung und Sichtbarkeit sexualsoziologischer Themen aufgelöst. Eine weniger rosige Entwicklung stellen Thorsten Benkel und Sven Lewandowski für die gesellschaftliche Stellung der Sexualität fest. In Weiterführung US-amerikanischer Diagnosen eines War on Sex zeichnen sie ein Bedrohungsszenario vom „Krieg […] gegen das Sexuelle schlechthin“ (S. 7). Der von ihnen herausgegebene Sammelband führt verschiedene jener „sexuellen Kampfplätze“ (S. 17), wie Pornografie, Prostitution und BDSM, einer soziologischen Betrachtung zu. Ausgehend von einer Kritik am „Theorie-Praxis-Problem“ (S. 43) einer vornehmlich auf Narrationen und Diskurse setzenden Sexualforschung präsentiert der Band in zehn Beiträgen (inkl. Einleitung) eindrücklich, wie eine empirisch näher an der Lebenswelt ansetzende Analyse sexueller Praxis aussehen kann. Die einleitend entfaltete These einer allgemein um sich greifenden antisexuellen Stoßkraft scheint wiederum etwas überspannt. Kritisch ließe sich anmerken, dass die Autoren selbst den Moralisierungen der aufgerufenen Diskurse aufsitzen. In den Einzelbeiträgen finden sich Beispiele für eine unaufgeregte Alltagssexualität jenseits dieser „diskursiven Kämpfe“, etwa wenn ein an Festigkeit verlierender Körper im Alter neue sexuelle Handlungs- und Deutungsspielräume eröffnet (S. 170). Zudem lassen sich Beispiele für gegenläufige Bewegungen ausmachen, z. B. die Präsenz der Sex-Positive-Bewegung in den Sozialen Medien oder der Zuwachs an Fair-Porn-Plattformen.

Der Band wird mit zwei theoretisch-konzeptuellen Beiträgen eröffnet. Unter Rückgriff auf Webers machttheoretisches Vokabular bietet Rüdiger Lautmann eine ungleichheitstheoretische Perspektive auf Dynamiken der Schließung und Öffnung im Bereich des Sexuellen an. Jenes „heteronormative Trajekt“ (S. 36) lasse sich als ein Ordnungsregime begreifen, das Sexualität über die Anerkennung des Status moralischer Konformität als einen „Moralmarkt“ (S. 30) reguliere. Diskutieren ließe sich, inwieweit eine vermeintliche Marktöffnung tatsächlich mit einer nachhaltigen Destabilisierung der heteronormativen Ordnung einhergeht oder ob die partikulare Integration bestimmter nicht-heterosexueller Subjektivitäten und Lebensweisen nicht eher zu ihrer Restabilisierung beiträgt (vgl. Hark S, Laufenberg M. Sexualität in der Krise. Heteronormativitat im Neoliberalismus. In: Appelt E, Aulenbacher B, Wetterer A, Hrsg. Gesellschaft. Feministische Krisendiagnosen. Münster: Westfälisches Dampfboot 2013; 227–245).

Thorsten Benkel beleuchtet drei Schauplätze kontroverser Debatten um Sexualität, beginnend mit der soziologischen Sexualforschung selbst. Eine Parallele zu globalen „moralunternehmerische[n]“ (S. 40) Dynamiken sieht er in der Distanz wissenschaftlicher wie aktivistischer Diskursivierungen zur lebensweltlich-biografischen Dimension der Akteur*innen und ihren Situationsdefinitionen. Zuletzt schneidet Benkel die spannende Frage an, wem wann und wieso ein Recht auf Sexualität zugesprochen wird, und eröffnet so ein Feld möglicher vergleichender Forschung zu Fällen wie der vom Autor selbst aufgerufenen Incel Culture oder Diskursen um Sexualassistenz für Menschen mit Behinderungen.

Ausgehend von einer berechtigten Kritik an der überwiegend auf Interviewdaten und Befragungen setzenden Sexualforschung zielt Sven Lewandowskis und Tara Elena Siemers innovatives, primär videografisches Methodendesign auf eine Analyse (amateur-)pornografischer Praktiken, die der Eigenlogik sexueller Praxis gerecht zu werden sucht. Die kognitivistisch orientierte Skript-Theorie ergänzen sie durch eine praxeologische Perspektive, die u. a. habitualisierte Bewegungsabläufe in den Blick nimmt. Die methodische Herangehensweise eröffnet der soziologischen Sexualforschung einen fruchtbaren Zugang zur körperlichen Dimension als einer der unterschiedlichen Sinnschichten von Sozialität, in denen sich das Sexuelle realisiert.

Sven Lewandowski legt mit einer interaktionssoziologischen Einzelfallanalyse eines (semi-)amateurpornografischen Videos nach. Er liefert eine dichte Beschreibung, die das Gelingen einer sexuellen Interaktion bei einer amateurpornografischen Videoproduktion als Zusammenspiel eines „professionalisierten people bzw. body processing“ (S. 114) und der technischen Materialität der Situation rekonstruiert. Stellenweise nicht ganz überzeugen können die Interpretationsangebote, die nicht immer am Material plausibel gemacht werden können.

Es folgt ein sexualwissenschaftliches Zwischenspiel von Volkmar Sigusch, der als Folge der „neosexuellen Revolution“ die Hegemonie eines Gewaltdiskurses konstatiert. Als eines der anhaltenden großen Tabus dieser „antierotischen Kultur“ (S. 147) sei die gesellschaftliche Negierung kindlicher Sexualität mit ursächlich für das (Fort-)Bestehen systematischer sexualisierter Gewalt. Der Beitrag plädiert für eine differenziertere Auseinandersetzung, die beginnend bei den Begriffen – „Pädophilie“ ist nicht gleichbedeutend mit „Pädosexualität“ – zwischen verschiedenen Formen, Konstellationen und in klassisch sexualwissenschaftlicher Manier zwischen „Tätertypen“ (S. 151) unterscheidet.

Sexualität und Alter werden auch von Miranda Leontowitsch thematisiert: Sie rückt die materielle Dimension alternder Körper in den Fokus. Ein Wandel der Diskurse um Sexualität und Alter(n) habe zu einer ambivalenten Gleichzeitigkeit kultureller Normvorstellungen geführt. Der Imperativ des successful ageing gehe zwar mit einer Resexualisierung des Alters einher, verenge die neu gewonnene Sexualität jedoch im Sinne einer heteronormativen Penetrationsfokussierung. Inwiefern das körperlich-leibliche Erleben durch jene dominanten Diskurse mitstrukturiert wird, aber auch zum Ausgangspunkt widerständiger Praxis werden kann, zeigt sie anhand einer instruktiven Sekundäranalyse qualitativer Interviewdaten.

Unter dem Vorzeichen der Leitfrage „Ist das Sex?“ setzt sich Matthias Meitzler mit dem Phänomen SM bzw. BDSM als „prototypische[r] Form“ (S. 222) sexueller Verhandlungsmoral auseinander und gibt Einblicke in ethnografische Forschung zur SM-Laufhausprostitution. Die umfangreiche Beschreibung, aus der problemlos zwei einzelne Beiträge hätten entstehen können, beleuchtet Sadomaso-Praktiken in ihren verschiedensten Ausformungen als an den Grenzen des Sexuellen gelegenes Phänomen, das die Normalitätsfolie der heteronormativen „Mainstreamsexualität“ (S. 180) herausfordere bis überschreite.

Elisabeth Wagner untersucht Aushandlungen von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit in Erzählungen von BDSM-Praktizierenden. Entgegen der Annahme einer linearen Normalisierung von BDSM zeichnet Wagner in ihrem Beitrag ein komplexeres Bild der „Ambivalenzen der Sichtbarkeit“ (S. 263). Anhand einer überzeugenden Analyse biografischer Interviews und den darin genutzten metaphorischen Konzepten zeichnet sie BDSM als „ständiges Grenzgebiet“ (S. 265), in dem sich Individuen gleichzeitig mit der Anforderung einer authentischen Selbstdarstellung und der Norm von Sexualität als intimer Privatangelegenheit konfrontiert sehen.

Teresa Geislers Beitrag kündigt zunächst zurückhaltend eine erste Sondierung des diskursiven Areals um das der schwulen Subkultur zugeordnete Phänomen Chemsex an, überrascht dann aber mit einem vielfältigen Datenkorpus bestehend aus Fachliteratur sowie ethnografisch erhobenen Interviewdaten. Die Autorin arbeitet die Widersprüchlichkeiten des wissenschaftlichen Chemsex-Diskurses heraus, die sie gelungen mit den lebensweltlichen Selbstdeutungen ihrer Interviewpartner ins Gespräch bringt.

Insgesamt erschließt der Band Felder und Phänomene des Sexuellen mit (sexual-)soziologischer Expertise, die eine analytisch-distanzierte Perspektive auf jene oftmals stark politisierten, moralisch aufgeladenen Gegenstände eröffnet; sei es über eine versachlichte Rekonstruktion diskursiver Strategien und Deutungsmuster jenseits „ideologischer Standpunkte“ (S. 21) oder über die Analyse eingespielter Alltagspraktiken. Ob ein universalisierender Claim eines generellen Kampfes gegen das Sexuelle dafür nötig ist, ließe sich debattieren. Deutlich wird, dass sexualsoziologische Forschung keine „Nischenthemen“ bearbeitet‚ sondern zu allgemeinsoziologischen Fragestellungen beitragen kann, etwa zur über die Beiträge hinweg behandelten Thematik des Verhältnisses von Diskurs, Praxis und Selbst-Verhältnissen.

Miriam Brunnengräber (Mainz)



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Article published online:
06 December 2022

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