Z Sex Forsch 2020; 33(04): 193-203
DOI: 10.1055/a-1284-8806
Originalarbeiten

Vielschichtige Lebenswelten, komplexe Vulnerabilitäten – zur Lebens- und Arbeitssituation der Frauen am Straßenstrich im Berliner Kurfürstenkiez

Multifaceted Living Worlds, Complex Vulnerabilities – on the Living and Working Conditions of the Women in Street-Based Sex Work in Berlin’s Kurfürstenkiez
Ursula Probst
Institut für Sozial- und Kulturanthropologie,
Freie Universität Berlin
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Zusammenfassung

Einleitung Die medialen und politischen Diskussionen über den Straßenstrich im Berliner Kurfürstenkiez und die Lebenssituationen der dort tätigen Frauen sind von Debatten um Sexarbeit und Menschenhandel geprägt. Diese Debatten polarisieren zwischen der Negation der agency bzw. Handlungsfähigkeit von Personen in der Sexarbeit als passive Opfer und einem dekontextualisierten Verständnis von agency als Wahl- bzw. Entscheidungsfreiheit. Im Anschluss an die sozialwissenschaftliche Kritik an diesen Debatten verfolgt dieser Artikel einen Ansatz, der Handlungsfähigkeit in gesellschaftlichen Strukturen verortet begreift, die individuelle Interpretationen und Möglichkeiten dieser Handlungsfähigkeit bedingen.

Forschungsziele Der Artikel thematisiert die verschiedenen sozialen Positionierungen und damit zusammenhängenden Vulnerabilitäten von Frauen am Straßenstrich im Kurfürstenkiez und analysiert darauf aufbauend deren Interpretationen und Limitationen von Handlungsfähigkeit.

Methoden Die Analyse basiert auf einer 14-monatigen ethnografischen Forschung von Juli 2017 bis August 2018, bei der u. a. teilnehmende Beobachtungen im Kurfürstenkiez sowie Gespräche und narrativ-biografischen Interviews mit 17 dort tätigen cis und trans Frauen aus Bulgarien und Ungarn durchgeführt wurden.

Ergebnisse Anhand von zwei Fallbeispielen wird aufgezeigt, dass die Frauen als Mütter, EU-Bürgerinnen, Angehörige ethnischer Minderheiten etc. verschiedene Positionen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen und Hierarchien einnehmen, die sich mitunter gegenseitig bedingen und verschiedene Formen von Vulnerabilitäten erzeugen, die sich wiederum auf die (eigene Wahrnehmung von) Handlungsfähigkeiten auswirken.

Schlussfolgerung Der Artikel eröffnet eine Perspektive, die die Frauen im Kurfürstenkiez als grundsätzlich handlungsfähige, aber aufgrund ihrer sozialen Positionierungen in vielerlei Hinsicht vulnerable Subjekte begreift und somit eine differenzierte und kontextualisierte Analyse der Problemstellungen im Kurfürstenkiez ermöglicht. Damit wird die Komplexität der Situation am Straßenstrich sichtbar.

Abstract

Introduction The public debates about street-based sex work in the Kurfürstenstraße neighbourhood in Berlin and the situation of the women working there are shaped by discourses around sex work and human trafficking. These discourses oscillate between defining people in the sex industry as victims devoid of any agency or promoting a decontextualized understanding of agency as free choice. Following the critiques of both the negation of agency as well as the conflation of agency with choice, this article uses an approach that situates agency, defined as the capacity to act, in different social structures that shape individual interpretations and possibilities of acting within them.

Objectives The article addresses the different social positionalities and related vulnerabilities of women working on the street and analyses their interpretations of agency as a capacity to act.

Methods The analysis is based on 14 months of ethnographic fieldwork (July 2017 – August 2018), which included participant observations, in-depth conversations and biographical interviews with 17 cis and trans women from Bulgaria and Hungary working there.

Results Based on two case studies, the article shows how the women hold various positions as mothers, EU citizens, members of ethnic minorities etc. in social structures that create different and often interrelated forms of vulnerability, which shape (the perceptions of) agency.

Conclusion This perspective allows an understanding of these women as vulnerable agents, facilitating a differentiated and contextualized analysis of the lived realities of these women and making the complexity of the situation in this area visible.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
09. Dezember 2020

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