Z Sex Forsch 2019; 32(03): 177
DOI: 10.1055/a-0977-8916
Buchbesprechungen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Erziehung, Gewalt, Sexualität. Zum Verhältnis von Geschlecht und Gewalt in Erziehung und Bildung

Further Information

Publication History

Publication Date:
05 September 2019 (online)

Zoom Image

Erziehungsverhältnisse sind stets auch Machtverhältnisse. Wo Macht ungleich verteilt ist, kann Gewalt entstehen. „Gewalt hat aber immer auch einen Bezug zum Sexuellen“, so die sicherlich diskussionswürdige Grundannahme der Herausgebenden (S. 7). Und: „[…] das Sexuelle ist auch per se Bestandteil aller Erziehungskonstellationen“ (ebd.). Um die Analyse der strukturellen Aspekte dieser Verknüpfung von „Erziehung, Gewalt, Sexualität“ geht es im gleichnamigen Sammelband.

Der erste Abschnitt zu „Historischen und theoretischen Perspektiven“ beginnt mit einem Beitrag von Meike Sophia Baader, in dem sie auf der Grundlage eines historischen Überblicks über die Thematisierung von sexuellen Übergriffen im deutschsprachigen Raum die Forderung aufstellt, Machtverhältnisse stärker in die Reflexion von Sexualität und Gewalt in Erziehungsverhältnissen einzubeziehen. Sie spricht sich für eine weite Definition des Gewaltbegriffs aus, die auch symbolische und verbale Gewalt umfasst. Einen eher ungewöhnlichen Zugang zum Thema wählt Jana Johannson, indem sie den Film „Das weiße Band – eine deutsche Kindergeschichte“ im Hinblick auf repressive Erziehungsmethoden und deren historischen Kontext analysiert. Ein Forschungsdesiderat bezüglich geschlechterbezogener Aspekte des Gewalthandelns im Praxisfeld Schule zeigt Mirja Silkenbeumer auf. Sie macht deutlich, dass nach wie vor häufig die Annahme „Gewalt ist Jungensache“ als Bezugspunkt für pädagogisches Handeln dient, und fordert eine stärkere empirische und theoretische Differenzierung mittels der Kategorie Geschlecht. Hier schließt Thomas Viola Rieske an, indem er männliche Betroffenheit sexualisierter Gewalt und deren Verleugnung – teils auch im pädagogischen Feld – in den Blick nimmt.

Zwei empirische Studien werden im zweiten Abschnitt „Familiale Erziehungsverhältnisse“ vorgestellt. Sebastian Winter, der sich mit der väterlichen Perspektive auf die Kleinkindpflege beschäftigt, und Milena Noll, die Auswirkungen von Gewalterfahrungen von Frauen auf die Erziehung ihrer Kinder im Fokus analysiert, machen deutlich: Es gibt gesellschaftliche Geschlechterkonstruktionen, die es erschweren, eigenen Unsicherheiten und Ohnmachtserfahrungen gegenüber handlungsfähig zu werden.

Im dritten Teil wird das Thema mit Blick auf verschiedene „Pädagogische Institutionen“ und Handlungsfelder ausdifferenziert. Im Kontext Schule ist die Untersuchung von Sandra Glammeier angesiedelt, die mittels qualitativer Interviews nicht-intentionale Aspekte pädagogischen Handelns erforscht hat. Sie macht deutlich, welche Hintergründe, aber auch Auswirkungen z. B. eine zweifelnde Haltung von Lehrkräften gegenüber Betroffenen haben kann. Mart Busche et al. beschäftigen sich mit sexualisierter Peer-Gewalt in der Jugendarbeit. Interessant ist, dass sich die Jugendlichen in dieser Studie sehr deutlich nicht nur als typischer Jungen oder typisches Mädchen positionieren, sondern auch zwischen oder jenseits dieses zweigeschlechtlichen Modells, und dass die Perspektiven der befragten Jugendlichen auf das Thema sexualisierte Gewalt sich von denen ihrer erwachsenen Betreuenden sehr deutlich unterscheiden. Mit der Perspektive der Betreuenden beschäftigen sich auch Alexandra Retkowski et al., sie analyiseren, wie Sexualität und Emotionalität in pädagogischen Interaktionen reflektiert und welche berufsbiografischen Identitätskonstruktionen hier in einen Zusammenhang gebracht werden. Folke Brodersen und Simon Volpers beschäftigen sich mit der Studieneingangsphase („O-Woche“). Sie kommen zu der aufschlussreichen Erkenntnis, dass bei den zugehörigen Ritualen eine rigide zweigeschlechtliche Trennung in aktive Männlichkeit und passive, sexualisiert positionierte Weiblichkeit vorherrscht. Dies ist sicherlich auch auf Rituale und Initiationsriten in anderen Kontexten übertragbar. Eva Breitenbach reflektiert einen Workshop zum Thema „Sexuelle Gewalt als Gegenstand der Hochschullehre“.

In diesem letzten Beitrag beklagt die Autorin, dass in neueren Publikationen über sexualisierte Gewalt die Dimension Geschlecht in der Regel keine oder nur am Rande eine Rolle spiele (S. 209). Der vorliegende Band bildet hier einen gelungenen Kontrapunkt, denn die Geschlechterperspektive wird konsequent in die jeweiligen Analysen einbezogen. Durch die Vielzahl an Blickwinkeln – empirische, praxisreflektierende, historische und theoretische – ist dieses Buch für Menschen, die zu den Themen Geschlecht und Gewalt arbeiten und forschen, sicherlich lesenswert. Die Gesamtschau der Beiträge unterstreicht, welchen Gewinn der Einbezug der Geschlechterperspektive für die Forschung zu sexualisierter Gewalt bringen kann.

Gesa Bertels (Münster)